S ie lügt nicht«, durchbrach Lia die darauffolgende Stille. »Sie ist tatsächlich Special Agent, ihr Name ist Veronica Mullins, und aus irgendeinem Grund leidet sie an dem Irrglauben, sie würde unter unserem Dach residieren.«
»Lia, nehme ich an?«, fragte Agent Mullins. »Die Spezialistin für Lügen.«
»Welche zu verbreiten oder sie zu entlarven – beides liegt mir im Blut.« Lia zuckte lässig mit den Schultern, aber ihr Blick war kalt.
»Und dennoch«, fuhr Agent Mullins fort, ohne sich von Lia aus dem Konzept bringen zu lassen, »dennoch hast du fast täglich mit einer FBI-Agentin zusammengearbeitet, die als Serienmörderin unterwegs war. Sie gehörte zu euren Betreuern und ging hier jahrelang ein und aus, ohne dass die Alarmglocken geläutet haben.« Agent Mullins’ Ton war neutral, sie konstatierte lediglich Fakten.
Locke hatte uns alle hereingelegt.
»Und du«, wandte sich Agent Mullins an mich, »du musst Cassandra Hobbes sein. Ich hätte dich nicht für den Typ gehalten, der Strip-Poker spielt. Und nein, du bekommst keine Pluspunkte dafür, dass du abgesehen von mir die Einzige hier im Raum bist, die ihr Oberteil noch anhat.«
Dann wandte Agent Mullins ihre Aufmerksamkeit demonstrativ dem Haufen Kleidungsstücke auf dem Tisch zu, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete. Dean griff nach seinem T-Shirt und warf Lia ihr Top zu. Michael schien sich nicht weiter an den verschränkten Armen zu stören und hatte es auch keineswegs eilig, sich anzuziehen. Agent Mullins sah ihn von oben herab an und heftete ihren Blick auf die Narbe auf seiner Brust.
»Dann bist du also Michael«, meinte sie, »der Emotionsleser mit dem Verhaltensproblem, der ständig dumme Dinge für Mädchen tut.«
»Das ist nicht fair«, entgegnete Michael. »Ich mache auch haufenweise dumme Dinge, ohne dass sie was mit einem Mädchen zu tun haben.«
Special Agent Veronica Mullins zeigte nicht den leisesten Anflug eines Lächelns. Stattdessen wandte sie sich an uns andere und vervollständigte ihre Vorstellung.
»In dieser sogenannten Akademie ist eine Stelle für eine Betreuerin frei. Ich bin hier, um sie zu besetzen.«
»Stimmt schon«, sagte Lia gedehnt. »Aber Sie übersehen da eine Kleinigkeit.« Da Agent Mullins sich nicht ködern ließ, fuhr sie fort: »Es ist bereits sechs Wochen her, seit Locke von der Bildfläche verschwunden ist. Wir haben uns schon gefragt, ob das FBI überhaupt einen Ersatz schicken würde.« Sie musterte Agent Mullins von oben bis unten. »Wo hat man Sie gefunden? Im Zentralregister? Um eine junge weibliche Agentin gegen eine andere auszutauschen?«
Wie immer verzichtete Lia auf jegliche Höflichkeitsfloskeln.
»Sagen wir mal so, ich bin einzigartig qualifiziert für diesen Job«, erwiderte Agent Mullins. Ihr nüchterner Ton erinnerte mich an etwas. An jemanden. Und erst in diesem Moment fiel mir ein, wo ich ihren Nachnamen schon einmal gehört hatte.
»Agent Mullins«, sagte ich. »Sind Sie mit Direktor Mullins verwandt?«
Ich hatte den Direktor des FBI erst ein einziges Mal getroffen. Er hatte eingegriffen, als der Serienmörder, den Locke und Briggs jagten, die Tochter eines Senators entführt hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte noch keiner von uns geahnt, dass das UNSUB – das Unbekannte Subjekt – Locke selbst gewesen war.
»Er ist mein Vater«, erklärte Agent Mullins gleichmütig. Zu gleichmütig. Ich fragte mich sofort, was für Probleme sie wohl mit ihrem Vater hatte. »Er hat mich zur Schadensbegrenzung hergeschickt.«
Direktor Mullins hatte seine eigene Tochter geschickt, um Locke zu ersetzen. Und sie war gekommen, als Agent Briggs gerade wegen eines Falls nicht in der Stadt war. Das war doch garantiert kein Zufall.
»Briggs hat mir erzählt, Sie hätten das FBI verlassen«, sagte Dean leise. »Ich habe gehört, dass Sie zur Heimatschutzbehörde gegangen sind.«
»Das bin ich auch.«
Ich versuchte, Agent Mullins’ Gesichtsausdruck zu lesen und ihren Tonfall zu interpretieren. Dean und sie kannten einander, so viel war klar, nicht nur durch Deans Aussage, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass ihr Gesicht fast unmerklich weicher wurde, als sie ihn ansah.
Ein mütterlicher Zug? , fragte ich mich. Doch es passte nicht zu der Art, wie sie sich kleidete, zu ihrer viel zu aufrechten Haltung oder wie sie eher über uns redete als mit uns. Mein erster Eindruck von Agent Mullins war, dass sie superprofessionell und hyperkontrolliert war und dass sie andere Menschen auf Abstand hielt. Entweder mochte sie Teenager nicht oder sie mochte speziell uns nicht.
Aber etwas war seltsam an der Art, wie sie Dean angesehen hatte, auch wenn es nur für eine Sekunde gewesen war …
Du warst nicht immer so, dachte ich in dem Versuch, mich in sie hineinzuversetzen. Dein Haar zu einem strengen Knoten zu binden, jede Aussage klinisch neutral und emotionslos zu lassen – das war früher nicht so. Etwas ist passiert, was dich in diesen superprofessionellen und hyperkontrollierten Zustand versetzt hat.
»Möchtest du der Klasse etwas mitteilen, Cassie?«
Hatte sich eben noch eine gewisse Nachgiebigkeit in Agent Mullins’ Ausdruck geschlichen, so war sie jetzt verschwunden. Sie hatte mich dabei erwischt, wie ich ein Profil von ihr erstellte, und scheute nicht davor zurück, mich vor allen bloßzustellen. Was mir wiederum zwei Dinge offenbarte. Zum einen sagte mir die Art, wie sie es getan hatte, dass hinter ihrem humorlosen Äußeren eine sarkastische Ader schlummerte. Irgendwann früher einmal hätte sie diese Worte mit einem Lächeln anstatt mit einer aufgesetzten Grimasse hervorgebracht.
Und zum anderen …
»Sie sind eine Profilerin«, sagte ich laut. Es braucht einen Profiler, um einen anderen zu erkennen.
»Wie kommst du darauf?«
»Man hat Sie hierhergeschickt, um Agent Locke zu ersetzen.« Es so zu formulieren – sie als Ersatz zu betrachten –, schmerzte mehr als nötig.
»Und?« Agent Mullins’ Stimme war laut und deutlich, doch ihr Blick blieb hart. Es war eine Herausforderung, ebenso deutlich lesbar wie zuvor bei Dean und Michael.
»Profiler stecken Leute in Schubladen«, erklärte ich, erwiderte Agent Mullins’ Blick und weigerte mich, als Erste wegzusehen. »Wir sammeln eine Reihe von Details und nutzen sie, um damit das Gesamtbild zusammenzusetzen und um herauszufinden, mit was für einer Art Mensch wir es zu tun haben. Bei Ihnen ist es die Art, wie Sie reden, die Sie verrät: Michael ist der Emotionsleser mit dem Verhaltensproblem , Sie haben mich nicht für den Typ gehalten, der Strip-Poker spielt .« Ich hielt inne, und da sie nicht antwortete, fuhr ich fort: »Sie haben unsere Akten gelesen und ein Profil von uns erstellt, noch bevor Sie einen Fuß in dieses Haus gesetzt haben: Sie wissen also ganz genau, wie schwer es uns belastet, dass wir Agent Locke nicht durchschaut haben. Das bedeutet, dass Sie entweder sehen wollen, wie wir damit fertigwerden, dass Sie es ansprechen, oder Sie wollten uns nur zum Vergnügen Salz in die Wunden streuen.« Einen Augenblick lang musterte ich sie und registrierte all die kleinen Details – den Nagellack, ihre Haltung, ihre Schuhe. »Sie kommen mir eher wie eine Masochistin als wie eine Sadistin vor, daher nehme ich an, Sie wollten sehen, wie wir reagieren.«
Es wurde unangenehm still im Raum und Agent Mullins nutzte diese Stille wie eine Waffe.
»Es ist nicht nötig, dass du mir einen Vortrag darüber hältst, was es bedeutet, ein Profiler zu sein«, sagte sie schließlich leise, aber bestimmt. »Ich habe einen Universitätsabschluss in Kriminologie. Ich war die jüngste Abgängerin der FBI-Akademie aller Zeiten. Ich habe mehr Zeit bei der Feldarbeit während meiner Jahre beim FBI verbracht, als du es in deinem ganzen Leben tun wirst, und ich habe die letzten fünf Jahre beim Heimatschutz damit verbracht, hiesige Terrorismusfälle zu bearbeiten. Solange ich in diesem Haus wohne, wirst du mich mit Agent Mullins oder Ma’am ansprechen, und du wirst dich selbst nicht als Profilerin bezeichnen, denn letztendlich bist du nur ein Kind.«
Da war er wieder, dieser bestimmte Klang in ihrer Stimme, der auf etwas unter ihrem eisigen Äußeren hindeutete. Doch sosehr ich auch versuchte, diese meterdicke Eisschicht zu durchdringen – es gelang mir nicht, dieses Etwas zu fassen zu kriegen.
»Es gibt kein Wir, Cassie. Es gibt dich, und es gibt mich, und es gibt den Auftrag, eine Bewertung für diese Akademie zu schreiben. Den werde ich ausführen. Daher schlage ich also vor, dass ihr die Sauerei hier aufräumt, ins Bett geht und euch ausschlaft.« Sie warf Michael sein T-Shirt zu. »Das hier wirst du noch brauchen.«