S ie hat mehr oder weniger damit gedroht, die Akademie zu schließen.«
Michael lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Sie ist eine Profilerin. Sie weiß genau, womit sie den Leuten drohen muss, um sie gefügig zu machen. Sie hat dich durchschaut, Colorado. Sie weiß, dass du ein Teamplayer bist, deshalb hat sie nicht einfach nur dir gedroht, sondern auch uns anderen.«
Michael und ich saßen im Wohnzimmer. Sloane, Lia und Dean hatten gestern ihre Aufnahmeprüfungen mit Bravour bestanden. Weder Michael noch ich hatte daran teilgenommen, doch irgendwie waren Prüfungsunterlagen mit unseren Namen aufgetaucht. Offensichtlich war Lia großzügig gewesen – wenn auch nicht großzügig genug, dafür zu sorgen, dass wir bestanden. Daher hatten Michael und ich jetzt den strikten Befehl zu lernen.
Und wie könnte es anders sein: Im Befolgen von Befehlen schnitt ich schon mal wesentlich besser ab als Michael.
»Wenn du diejenige wärst, die Drohungen ausstößt«, begann er mit einem bösartigen kleinen Grinsen, »womit würdest du mir drohen?«
Ich überflog gerade den Testbogen, den Lia für mich ausgefüllt hatte, und korrigierte ihre falschen Antworten. Jetzt blickte ich zu Michael auf. »Ich soll dir drohen?«
»Ich will wissen, wie du mir drohen würdest«, korrigierte mich Michael. »Offensichtlich würde es bei mir nichts nützen, die Akademie zu bedrohen. Mir liegt nicht unbedingt viel am FBI.«
Ich tippte mit dem Bleistiftende auf den Test. Michaels Herausforderung war eine willkommene Ablenkung. »Ich würde bei deinem Porsche anfangen«, verkündete ich.
»Wenn ich ein schlimmer Junge bin, nimmst du mir die Schlüssel weg?« Michael wackelte mit den Augenbrauen, was gleichermaßen anzüglich und lächerlich aussah.
»Nein«, entgegnete ich, ohne weiter darüber nachzudenken. »Wenn du ein schlimmer Junge bist, gebe ich die Schlüssel deines Porsche Dean.«
Einen Augenblick lang herrschte entsetztes Schweigen, dann legte Michael die Hand aufs Herz, als hätte ich auf ihn geschossen – eine Geste, die lustiger gewirkt hätte, hätte er nicht tatsächlich einmal eine Kugel in die Brust bekommen.
»Du hast gefragt«, sagte ich. Michael hätte wissen sollen, dass er mir den Fehdehandschuh besser gar nicht erst hinwarf, wenn er nicht wollte, dass ich ihn aufhob.
»Unfassbar, wie verdorben du bist, Cassie Hobbes.« Er war offensichtlich beeindruckt.
Ich zuckte mit den Schultern. »Zwischen dir und Dean läuft diese merkwürdige eingefleischte Pseudo-Feinde/Pseudo-Geschwister-Fehde. Du würdest deinen Porsche lieber anzünden, als ihn Dean zu geben. Es ist die perfekte Drohung.«
Michael widersprach meiner Logik nicht. Stattdessen schüttelte er lächelnd den Kopf. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine sadistische Ader hast?«
Mir stockte der Atem. Er konnte nicht wissen, was für eine Wirkung diese Worte auf mich hatten. Ich wandte mich wieder dem Test zu und ließ das Haar in mein Gesicht fallen, doch es war zu spät. Michael hatte bereits gesehen, wie sich für den Bruchteil einer Sekunde Entsetzen – Hass, Angst, Abscheu – auf meinem Gesicht abgezeichnet hatte.
»Cassie …«
»Schon gut.«
Locke war eine Sadistin gewesen. Ein Teil ihres Vergnügens an den Morden hatte daraus bestanden, sich vorzustellen, was ihre Opfer durchmachten. Ich hatte kein Verlangen danach, jemandem wehzutun. Und würde es auch nie haben. Doch ein Naturtalent im Profiling zu sein bedeutete, dass ich instinktiv die Schwächen anderer erkannte. Zu wissen, was andere Menschen wollten und was sie fürchteten, waren zwei Seiten derselben Medaille.
Michael bezeichnete mich nicht wirklich als sadistisch. Das wusste ich, und er wusste auch, dass ich nie jemanden absichtlich verletzte. Doch manchmal war es fast genauso schlimm, zu wissen, dass man etwas tun könnte , wie es tatsächlich zu tun.
»Hey.« Michael legte den Kopf schief, um mir ins Gesicht sehen zu können. »Ich habe doch nur Spaß gemacht. Kein Trauer-Cassie-Gesicht, ja?«
»Das ist kein Trauergesicht«, sagte ich. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er mir das Haar aus dem Gesicht gestrichen und seine Hand auf meiner Wange liegen lassen. Doch das war vorbei. Und das lag an mir.
Die unausgesprochenen Regeln zwischen uns besagten, dass es von mir ausgehen musste. Ich konnte spüren, wie er mich beobachtete, darauf wartete, dass ich etwas sagte. So verharrte er, starrte mich von unten herauf an, sein Gesicht ganz knapp vor meinem.
Sein Mund nur ein paar Zentimeter von meinem entfernt.
»Ich erkenne ein Trauer-Cassie-Gesicht, wenn ich eines sehe«, behauptete er. »Selbst verkehrt herum.«
Ich strich mir das Haar über die Schultern, lehnte mich zurück. Wozu mache ich mir eigentlich etwas vor?, dachte ich. Es ist einfach unmöglich, vor Michael zu verbergen, was ich fühle. Die Mühe hätte ich mir sparen können.
»Wie läuft es gerade zwischen dir und Lia?«, fragte er mich.
Ich war dankbar für den Themenwechsel. »Zwischen Lia und mir … läuft es, wie auch immer es meistens zwischen uns läuft. Ich glaube nicht, dass sie mein vorzeitiges Ableben plant.«
Michael nickte weise. »Dann wird sie dir also nicht an die Kehle gehen, sobald sie herausfindet, dass du dich nicht an das heilige Gebot Lass Dean seinen Freiraum! gehalten hast?«
Ich hatte geglaubt, dass mein Besuch bei Dean gestern unbemerkt geblieben war. Tja, falsch gedacht.
»Ich wollte wissen, wie es ihm geht.« Ich hatte das Gefühl, ich müsste es erklären, auch wenn Michael nicht nach einer Erklärung gefragt hatte. »Ich wollte nicht, dass er allein ist.«
Die Fähigkeit, Emotionen lesen zu können, machte Michael zu einem Meister darin, seine eigenen zu verbergen, daher wusste ich, dass er sie absichtlich nicht vor mir versteckte, als ich es in seinen Augen flackern sah. Es gefiel ihm, dass ich ein Mensch war, der sich um die anderen im Haus sorgte. Er wünschte sich nur, ich hätte mich gestern Abend um jemand anderen gekümmert, nicht um Dean.
»Und wie geht es Sir Finsterlings Ängsten?« Michael lieferte eine gute Vorstellung von jemandem, dem die Antwort eigentlich egal war. Einen anderen Emotionsleser hätte er vielleicht damit überzeugen können – aber bei meiner Fähigkeit ging es nicht nur um die Interpretation von Gesichtsausdrücken oder Körperhaltungen oder dem, was jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt fühlte.
Verhalten, Persönlichkeit, Umgebung.
Michael tat alles, um niemanden merken zu lassen, dass ihm doch etwas an der Antwort lag.
»Wenn du wissen willst, wie es Dean geht, dann frag doch einfach.«
Michael zuckte unbeteiligt mit den Schultern. Er würde nie zugeben, dass nicht nur Lia, Sloane und ich uns Sorgen um Dean machten. Das kleine Zucken seiner Schultern war das einzige Zeichen von Besorgnis, das ich zu sehen bekommen würde.
»Es geht ihm nicht gut«, sagte ich. »Und es wird ihm auch nicht gut gehen, bis Briggs und Mullins diesen Fall abgeschlossen haben. Es würde vielleicht schon helfen, wenn sie ihm einfach nur sagen würden, was los ist, aber das wird nicht passieren. Mullins wird es nicht zulassen.«
Michael sah mich von der Seite an. »Du magst Agent Mullins wirklich nicht.«
Ich hielt es nicht für nötig, etwas darauf zu antworten.
»Cassie, du kommst normalerweise mit jedem klar. Das einzige Mal, dass ich dich zickig erlebt habe, war, als Briggs Agenten dafür abbestellt hat, dir auf Schritt und Tritt zu folgen. Aber Agent Mullins hast du vom ersten Augenblick an nicht gemocht.«
Ich hatte absolut nicht vor, auf diese Bemerkung etwas zu erwidern, doch Michael brauchte auch keine verbalen Antworten. Er konnte eine Unterhaltung ausgezeichnet allein führen und nur anhand meiner Körperhaltung und der ach so kleinen Regung in meinem Gesicht schließen, was ich dachte.
»Sie mag diese Akademie nicht«, erklärte ich dennoch, damit er aufhörte, mich so intensiv zu lesen. »Sie mag uns nicht. Und mich ganz besonders nicht.«
»Sie mag dich mehr, als du glaubst«, sagte Michael leise. Unwillkürlich neigte ich mich näher zu ihm, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich mehr hören wollte. »Agent Mullins kann mich nicht leiden, weil ich keine Regeln mag. Sie wagt es nicht, Dean länger als ein paar Sekunden anzusehen, aber sie hat keine Angst vor ihm. Lia mag sie eigentlich, obwohl Lia Regeln noch weniger mag als ich. Und Sloane erinnert sie an jemanden.«
Der Unterschied zwischen Michaels und meiner Gabe war so offensichtlich wie beim Pokerspiel. Er sah so viel, was Mullins zu verbergen versuchte. Aber warum sie es verbarg – das war eine Frage für mich.
»Wie geht es mit dem Lernen voran?«
Ich sah zu Judd auf, der in der Tür stand. Er verkörperte einen Marinesoldaten, keine Mutterfigur. Deshalb klang die Frage aus seinem Mund total fremd.
»Hab noch nicht angefangen«, erklärte Michael schnippisch im gleichen Moment, in dem ich antwortete: »Bin fast fertig.«
Judd sah Michael mit hochgezogenen Augenbrauen an, sagte aber nichts weiter dazu. »Würdest du uns einen Moment allein lassen?«, fragte er stattdessen.
»Habe ich eine Wahl?«, fragte Michael mit schief gelegtem Kopf, um Judd ins Gesicht zu sehen.
Fast hätte Judd gelächelt. »Die Antwort kannst du dir denken.«
Während Michael hinausging, kam Judd zum Sofa und ließ sich neben mir nieder. Er sah Michael nach. Etwas an der Art, wie er ihn beobachtete, ließ mich zu dem Schluss kommen, dass er sich zwang, darauf zu achten, wie Michael sein verletztes Bein belastete.
»Weißt du, warum sich diese Akademie auf alte Fälle beschränkt?«, fragte Judd, als Michael verschwunden war.
»Weil Dean erst zwölf war, als es angefangen hat?«, vermutete ich. »Und weil Direktor Mullins das Risiko, dass jemand von der Existenz der Akademie erfährt, minimieren will?« Das waren die einfachen Antworten. Judds Schweigen brachte mich dazu, die schwierige auszusprechen. »Weil bei aktiven Fällen jemand verletzt werden könnte?«
»Bei aktiven Fällen überschreiten Menschen Grenzen«, erklärte Judd und wählte seine Worte sehr sorgfältig. »Alles ist dringend, es geht um Leben und Tod.« Er strich sich mit dem Daumen über die Fingerkuppen. »In der Hitze des Gefechts tut man, was getan werden muss. Man bringt Opfer.«
Judd war Soldat gewesen und benutzte das Wort Gefecht nicht leichtfertig.
»Sie reden aber nicht davon, dass wir Grenzen überschreiten«, erinnerte ich ihn, indem ich auseinandersortierte, was ich gerade hörte und was ich schon wusste. »Sie sprechen vom FBI.«
»Könnte schon sein«, gab Judd zu.
Ich versuchte, mir einen Weg durch Judds Logik zu bahnen. Vernehmungen lesen, Zeugenaussagen durchgehen, Tatortfotos ansehen – das alles taten wir bereits. Was für einen Unterschied machte es, ob die Akten ein Jahr oder einen Tag alt waren? Theoretisch waren die Risiken doch die gleichen – minimal. Aber ja, bei aktiven Fällen stand mehr auf dem Spiel.
Dieses UNSUB, das Mullins und Briggs jagten, war jetzt da draußen. Es plante möglicherweise gerade jetzt seinen nächsten Mord. Es war leicht, uns bei alten Fällen aus der Gefahrenzone zu halten. Aber bei laufenden Ermittlungen wäre das wahrscheinlich schwieriger …
»Es ist vertrackt.« Judd rieb sich mit dem Handrücken über das Kinn. »Ich vertraue Briggs. Meistens.«
»Sie vertrauen Agent Mullins«, sagte ich. Er widersprach mir nicht. »Was ist mit dem Direktor?«
Judd sah mich an. »Was ist mit ihm?«
Der Direktor war derjenige, der dem politischen Druck nachgegeben und mich im Fall Locke als Köder eingesetzt hatte. Ich hatte helfen wollen und er hatte mich helfen lassen.
»Ich habe gehört, dass du mit Ronnie aneinandergeraten bist«, sagte Judd und schnitt damit weitere Diskussionen ab. Er legte die Handflächen auf die Knie und schob sich hoch. »Ich glaube, es wäre gut, wenn du dich aus dem Keller fernhalten würdest«, meinte er und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: »Für ein paar Wochen.«
Wochen? Ich brauchte einen Moment, um zu erkennen, was hier los war. Hatte Agent Mullins mich verraten?
»Sie wollen mir Kellerverbot erteilen?«, fragte ich unwillig.
»Du bist eine Profilerin«, sagte Judd sanft. »Du musst nicht da unten sein. Und«, fügte er hinzu, und seine Stimme wurde ein wenig schärfer, »du musst deine Nase nicht in diesen Fall stecken.«
In der ganzen Zeit, seit ich hier war, hatte Judd noch nie einem von uns gesagt, was wir tun mussten und was nicht. Das alles klang ganz nach Agent Mullins.
»Sie ist eine gute Agentin, Cassie.« Judd schien genau zu wissen, was ich dachte. »Wenn du sie lässt, kann sie dir eine Menge beibringen.«
Locke war meine Lehrerin gewesen. »Agent Mullins muss mir gar nichts beibringen«, entgegnete ich heftig. »Wenn sie denjenigen schnappt, der dieses Mädchen umgebracht hat, sind wir quitt.«
Judd sah mir direkt in die Augen. »Sie ist eine gute Agentin«, wiederholte er. »Und Briggs auch.« Er wandte mir den Rücken zu, ging zur Tür und sagte noch etwas, aber so leise, dass ich ihn kaum hören konnte.
Noch lange Zeit, nachdem er gegangen war, dachte ich über diese letzten Worte nach. Dass Mullins und Briggs gute Agenten waren, hatte er noch direkt an mich gewandt gesagt. Aber dann auf dem Weg zur Tür, hatte er noch etwas hinzugefügt, und es war mir so vorgekommen, als könnte er nicht anders, als wäre ihm selbst nicht einmal klar gewesen, dass er diese Worte laut aussprach.
»Es gab nur einen einzigen Fall, den sie nicht haben lösen können.«