E s war ein Fehler.« Mullins wartete, bis wir wieder im Auto saßen, bevor sie es sagte.
»Mit dem Wachmann zu gehen?«, fragte ich.
»Dich hierherzubringen. Dean hierherzubringen. In diesem Raum zu bleiben und zuzusehen. Das alles.« Bei den letzten beiden Worten hatte ich das Gefühl, als meine sie damit nicht nur die Art und Weise, wie Briggs und der Direktor mit diesem Fall umgingen. Sie meinte das Leben, das Dean führte. Die Akademie. Das alles .
»Es ist nicht dasselbe«, erwiderte ich. »Was wir als Team tun und das, was Dean da drin mit seinem Vater macht – das ist nicht dasselbe.«
Dean mit seinem Vater in einen Raum zu sperren riss alle alten Narben wieder auf, alle Wunden, die dieser Mann Deans Psyche zugefügt hatte.
Darum ging es bei der Akademie nicht. Das war nicht das, was wir taten.
»Sie hätten Dean sehen sollen, als wir die Nachricht bekamen, dass das FBI Mackenzie McBride gefunden hatte«, sagte ich und dachte an diesen Dean. Unseren Dean. »Er hat nicht einfach nur gelächelt. Er hat gestrahlt. Wussten Sie, dass er Grübchen hat?«
Agent Mullins antwortete nicht.
»Dean hätte nie eine normale Kindheit gehabt.« Ich weiß nicht, warum mir so viel daran lag, dass sie das verstand. »Es gibt Dinge, von denen es kein Zurück gibt. Normal ist keine Option, für keinen von uns.« Ich musste an das denken, was Sloane gesagt hatte. »Wenn wir eine normale Kindheit gehabt hätten, wären wir keine Naturtalente geworden.«
Endlich sah Agent Mullins mich an.
»Reden wir jetzt von Deans Vater oder deiner Mutter?«, fragte sie und wartete kurz ab, bevor sie sagte: »Ich habe deine Akte gelesen, Cassie.«
»Jetzt bin ich also Cassie?«, fragte ich. Sie runzelte die Stirn, daher erklärte ich: »Seit Sie gekommen sind, haben Sie mich bisher immer nur Cassandra genannt.«
»Soll ich dich lieber weiter bei deinem vollen Namen nennen?«
»Nein.« Ich hielt inne. »Aber Sie wollen es vielleicht. Sie mögen keine Spitznamen. Die bringen Sie den Menschen näher.«
Mullins holte tief Luft. »Du musst lernen, damit aufzuhören«, sagte sie.
»Womit?«
»Die meisten Leute mögen es nicht, analysiert zu werden. Manche Dinge lässt man besser ungesagt.« Sie hielt inne. »Wo wart ihr letzte Nacht?«
Mir blieb fast das Herz stehen. Die Frage kam wie aus dem Nichts.
Ich stellte mich dumm. »Wovon sprechen Sie?«
Sie hatte schon mit dem Ende der Akademie gedroht, als Sloane nur die Tatortszenen im Keller benutzt hatte. Ich wollte nicht wissen, was sie tun würde, wenn sie wüsste, was Lia, Michael und ich in der letzten Nacht getan hatten.
»Du glaubst, dass ich dich nicht mag.« Mullins benutzte ihre Profiler-Stimme und versetzte sich in meine Lage. »Du betrachtest mich als Feind, aber das bin ich nicht, Cassie.«
»Sie haben ein Problem mit der Akademie«, stellte ich fest. »Ich weiß nicht, warum Sie diesen Job angenommen haben. Sie haben ein Problem damit, was Briggs hier tut, und Sie haben ein Problem mit mir.«
Ich hätte erwartet, dass sie es abstritt, doch sie überraschte mich.
»Mein Problem mit dir«, sagte sie betont deutlich, »ist, dass du nicht tust, was man dir sagt. Alle Instinkte der Welt sind nutzlos, wenn man nicht im System arbeitet. Das hat Briggs nie verstanden und du auch nicht.«
»Sie sprechen davon, was im Sommer passiert ist.« Dieses Gespräch wollte ich absolut nicht führen, aber es ließ sich nicht vermeiden. Ich konnte nicht aus dem Auto steigen, um ihrem abschätzenden Blick zu entrinnen. »Ich verstehe das. Dean wurde verletzt. Michael wurde verletzt. Meinetwegen.«
»Wo wart ihr letzte Nacht?«, fragte Agent Mullins erneut. Ich antwortete nicht. »Im Sommer habt du und deine Freunde euch in einen gesicherten Datenträger gehackt und die Fallakten gelesen, und das, soweit ich weiß, aus keinem anderen Grund, als dass ihr euch gelangweilt habt. Selbst nachdem euch Briggs gewarnt hat, hattet ihr nicht die Absicht, es bleiben zu lassen. Und schließlich hat der Killer mit dir Kontakt aufgenommen.« Sie ließ mir keine Zeit, auf diese brutale Schilderung der Ereignisse zu antworten. »Du wolltest bei dem Fall mitarbeiten und Agent Locke tat dir den Gefallen.«
»Dann ist es also meine Schuld«, fuhr ich wütend auf. Ich versuchte, nicht zu weinen, weil ich Angst hatte, dass sie recht hatte. »Die Menschen, die Locke umgebracht hat, nur um mir ihr Haar zu schicken. Die Mädchen, die sie entführt hat. Dass sie Michael angeschossen hat. Alles meine Schuld.«
»Nein.« Mullins’ Stimme war leise und unerbittlich. »Nichts davon war deine Schuld, Cassie, aber für den Rest deines Lebens wirst du dich fragen, ob es so war. Es wird dich nachts wach halten. Es wird dich verfolgen. Das Gefühl wird nie verschwinden. Ich weiß, du fragst dich manchmal, ob ich, wenn ich dich ansehe, deine Tante sehe, aber so ist das nicht. Dean ist nicht sein Vater. Ich bin nicht meiner. Wenn ich glauben würde, dass du auch nur im Mindesten so wärst wie Lacey Locke, würden wir dieses Gespräch nicht führen.«
»Warum führen Sie dieses Gespräch dann mit mir?«, fragte ich. »Ihrer Meinung nach weiß ich also nicht, wie man arbeitet, ohne gegen die Regeln zu verstoßen – aber Sie wollen mir jetzt nicht sagen, dass die anderen es besser wissen, oder? Lia? Michael? Oder Sloane? Allerdings sehen Sie die anderen nicht so an, wie Sie mich ansehen.«
»Weil sie nicht wie ich sind .« Agent Mullins’ Worte schienen allen Sauerstoff aus dem Wagen zu saugen. »Ich habe nicht deine Akte gelesen und dabei deine Tante gesehen, Cassie.« Sie presste die Lippen fest aufeinander. Als sie endlich weitersprach, war ich fast davon überzeugt, dass ich mich verhört hatte. »Wenn du die Regeln brichst, wenn du dir selbst sagst, dass der Zweck die Mittel heiligt, werden Menschen verletzt. Das Protokoll aber rettet Leben.«
Sie fuhr sich mit der Hand über den Nacken. Es war Mittagszeit und die Hitze im Auto ohne Klimaanlage wurde unerträglich.
»Willst du wissen, warum du mich besonders interessierst, Cassie? Du bist diejenige, die wirklich etwas fühlt. Michael, Lia, Dean – sie haben schon sehr früh im Leben gelernt, ihre Gefühle einfach auszublenden. Sie sind es nicht gewohnt, Menschen an sich herankommen zu lassen. Sie halten es nicht für notwendig, jedes einzelne Mal ihren Hals zu riskieren. Sloane engagiert sich, sie tut es allerdings mit Fakten, nicht mit Gefühlen. Aber du? Du kannst gar nicht aufhören, etwas zu empfinden. Für dich geht es immer um die Opfer und deren Familien. Es ist immer persönlich.«
Ich wollte ihr sagen, dass sie unrecht hatte, doch dann musste ich an Mackenzie McBride denken und wusste, dass es stimmte. Bei mir ging es bei jedem Fall, an dem ich arbeitete, um etwas Persönliches. Ich wollte immer Gerechtigkeit für die Opfer. Ich würde alles tun, was notwendig war, um auch nur ein Leben zu retten, so wie ich wünschte, dass jemand meine Mutter gerettet hätte.
»Ich bin froh, dass du heute für Dean hier gewesen bist, Cassie. Er braucht jemanden, gerade jetzt. Aber wenn es dir ernst ist mit dem, was wir tun, was ich tue, dann sind Gefühle ein Luxus, den du dir nicht leisten kannst. Schuld, Zorn, Mitgefühl, bereit zu sein, alles zu tun, um jemanden zu retten – das sind die Zutaten, mit denen jemand getötet wird.«
Bevor sie das FBI verlassen hatte, hatte sie jemanden verloren, und zwar, weil sie sich emotional auf einen Fall eingelassen hatte. Weil sie im Eifer des Gefechts die Regeln gebrochen hatte.
»Ich will wissen, wo ihr letzte Nacht gewesen seid.« Sie war wie eine Schallplatte, die einen Sprung hatte. »Ich gebe dir die Gelegenheit, eine gute Entscheidung zu treffen, und ich rate dir, sie zu ergreifen.«
Kurz überlegte ich, ob ich es ihr sagen sollte, doch es war ja nicht nur mein Geheimnis, sondern auch das von Michael und Lia.
»Briggs weiß nicht, dass ihr euch hinausgeschlichen habt. Und Judd auch nicht.« Mullins ließ die darin enthaltene Drohung in der Luft hängen. »Ich wette, du hast Judd noch nie richtig wütend erlebt. Ich schon. Und ich würde niemandem empfehlen, diese Erfahrung zu machen.« Ich blieb stumm. Die Temperatur im Auto wurde immer unerträglicher. »Das ist eine schlechte Entscheidung, Cassie.« Da ich immer noch schwieg, kniff sie die Augen zusammen. »Sag mir nur eins«, meinte sie. »Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
Ich biss mir auf die Unterlippe und dachte an Dean und was er durchmachte, um auch nur die geringste Information aus seinem Vater herauszubekommen.
»Emerson hatte etwas mit ihrem Professor«, sagte ich schließlich. Ich war es Dean schuldig, diese Information weiterzugeben. »Mit dem, der das Buch über Deans Vater schreibt.«
Agent Mullins zog sich die Jacke aus. Offensichtlich machte auch ihr die Hitze zu schaffen.
»Danke«, sagte sie und drehte sich zu mir um. »Aber hör mir gut zu: Als ich gesagt habe, bleibt weg von dem Fall, habe ich es auch so gemeint. Wenn ihr das nächste Mal auch nur einen Fuß über die Stadtgrenze von Quantico setzt, ohne mich um Erlaubnis zu fragen, werde ich euch elektronische Fußfesseln anlegen lassen.«
Diese Drohung drang kaum zu mir durch. Ich konnte auch nicht antworten. Ich fand keine Worte. Ich konnte nicht einmal klar denken.
Als Agent Mullins ihre Jacke ausgezogen hatte, war ihre Bluse leicht verrutscht. Sie stand vorne offen, sodass ich die Haut darunter sah. Unter ihrem Schlüsselbein hatte sie eine Narbe.
Ein Brandzeichen in Form eines R.