Kapitel 23

S loane und ich blieben allein im Keller zurück.

»Ich dachte, du darfst nicht hier herunterkommen«, sagte Sloane abrupt. Ich sah sie verwundert an, aber dann fiel mir wieder ein, dass wir sie damit verletzt hatten, ohne sie aus dem Haus geschlichen zu sein.

»Darf ich auch nicht«, antwortete ich.

Sloane erwiderte nichts. Sie ging nur zum Badezimmer-Set und stellte sich vor die Dusche, starrte sie an, als sei ich gar nicht hier.

»Alles in Ordnung zwischen uns beiden?«, fragte ich sie.

Dean war stinksauer, Michael hatte sich irgendwohin verdrückt. Wenn sich der Ärger gelegt hatte, würde Lia die ganze Sache wahrscheinlich mir anhängen. Sloane sollte fröhlich bleiben und Statistiken hervorsprudeln. Ich wollte nicht allein sein.

»Mit dir ist alles in Ordnung und mit mir auch. Die logische Schlussfolgerung wäre also, dass zwischen uns beiden auch alles in Ordnung ist.« Sloanes Blick fiel auf den Abfluss. Ich brauchte einen Moment, bis ich bemerkte, dass sie zählte – die Löcher im Abflusssieb, die Kacheln auf dem Boden.

»Wir wollten dich nicht ausschließen«, sagte ich.

»Ich bin daran gewöhnt.«

So wie Sloanes Gehirn arbeitete, war sie wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang ausgeschlossen worden, bevor sie zur Akademie kam. Ich war ihre Zimmergenossin und ich war Profilerin. Ich hätte es verdammt noch mal besser wissen müssen.

»Dean ist auch mein Freund.« Sloanes Stimme klang weich, aber heftig. Sie hob ihren Blick, sah mich aber immer noch nicht an. »Ich bin nicht gut darin, mich unter die Leute zu mischen oder auf Partys zu gehen. Ich sage die falschen Dinge, ich tue die falschen Dinge. Das weiß ich, aber gerade Zahlen sind besser als ungerade, und wenn ich da gewesen wäre, wäre Lia nicht allein von der Party verschwunden.« Sie biss sich auf die Lippe. »Sie hat mich nicht einmal gefragt.« Jetzt schluckte sie schwer. »Wenn du noch nicht hier wärst, hätte sie mich vielleicht gefragt.« Endlich sah sie mich an. »Die Wahrscheinlichkeit dafür liegt nur bei neunundsiebzig Komma sechs Prozent, aber vielleicht hätte sie mich gefragt.«

»Nächstes Mal«, versprach ich Sloane, »werde ich dich fragen.«

Sloane dachte sorgfältig über meine Worte nach, dann akzeptierte sie sie mit einem Nicken. »Werden wir uns jetzt umarmen?« Sie meinte die Frage todernst, daher legte ich ihr den Arm um die Schultern und drückte sie an mich. »Statistisch gesehen«, erklärte Sloane und klang wieder mehr wie sie selbst, »ist das Badezimmer der tödlichste Raum im Haus.«

•••

Michael arbeitete an seinem Auto. Oder besser gesagt, ich sah ihn mit einer Art Schleifmaschine davorstehen und es diabolisch ansehen.

»Lässt dich Judd mit den Elektrowerkzeugen spielen?«, fragte ich.

Michael schaltete die Schleifmaschine probeweise ein und aus, dann lächelte er. »Judd ist ein äußerst umsichtiger und gutmütiger Mann.«

»Soll heißen, Judd weiß nicht, dass du mit den Elektrowerkzeugen spielst«, schloss ich.

»Da werde ich mich wohl schuldig bekennen müssen«, meinte Michael.

Nach kurzem Schweigen stellte ich ihm die Frage, auf die ich unbedingt eine Antwort haben wollte. »Ist zwischen uns alles in Ordnung?«

»Warum denn nicht?« Michael schaltete den Schleifer ein und versuchte, dem Rost an der vorderen Stoßstange zu Leibe zu rücken, was ein weiteres Gespräch unmöglich machte.

Ich hatte geglaubt, ich könne verhindern, dass sich die Dinge änderten, aber sie änderten sich dennoch. Zwischen Michael und mir. Zwischen Dean und mir.

»Michael«, sagte ich so leise, dass er es über das Geräusch von Metall auf Metall nicht hören konnte.

Er schaltete das Gerät aus und wandte sich zu mir. Ich kam mir nackt vor, wie immer, wenn ich wusste, dass mein Gesicht mich verriet. Warum konnte er nicht einfach ein normaler Typ sein, der mir nicht nur mit einem Blick ansah, welche Gefühle in mir tobten?

»Es ist alles in Ordnung, Cassie. Es ist nur so, dass man manchmal, wenn man unglaublich gut aussehend und bewundernswert geduldig ist, ein Ventil braucht. Oder zwei. Oder sieben.«

Er ließ seinen Ärger über mich an seinem Auto aus. »Zwischen Dean und mir war nichts«, erklärte ich.

»Das weiß ich.«

»Und da wird auch nichts sein«, fuhr ich fort.

»Das weiß ich auch.« Michael lehnte sich ans Auto. »Besser als du sogar. Du siehst Redding an und siehst, wie sehr ihr euch ähnelt. Wenn ich ihn ansehe, sehe ich jemanden, der zornig ist und der diesen Zorn so fürchtet, dass kein Raum mehr für etwas anderes bleibt. Oder für jemand anderen.«

»Das ist dein Problem mit Dean«, erkannte ich plötzlich.

»Dass er zu keiner romantischen Beziehung zu einer weiblichen Person fähig ist, meinst du?« Jetzt grinste er. War ja klar. »Ich halte das für einen seiner größten Vorzüge.«

»Nein«, widersprach ich nachdenklich. »Dass er wütend ist und es für sich behält.« Ich an Deans Stelle wäre auch wütend gewesen. Ich verstand, warum er seinem Zorn nicht Ausdruck verlieh, warum er sich mit aller Macht dagegen sträubte, zuzuschlagen. Er konnte nicht riskieren, diesen Schalter umzulegen, weil er ihn möglicherweise nicht mehr abschalten konnte.

Aber ich war mir nie der Wirkung bewusst gewesen, die ein Mensch wie Dean auf jemanden wie Michael haben konnte.

Michael sah mich schräg an. »Du erstellst ein Profil von mir.«

Ich zuckte mit den Achseln. »Du liest ja auch ständig meine Emotionen.«

Er hielt einen Moment inne. »Was siehst du denn?«

Eine offenere Einladung, seine Gedanken zu erforschen, würde ich vielleicht nie wieder bekommen. »Du bist in einem Haus aufgewachsen, in dem alles perfekt schien – du hattest jeden Vorteil, den man mit Geld kaufen kann. Aber es war nicht perfekt.« Das hatte Michael mir erzählt, aber ich ging weiter und wagte mich auf gefährlicheres Gebiet vor. »Du hast gelernt, Emotionen zu lesen, weil dein Vater schwer einzuschätzen war, und es war wichtig für dich zu wissen, wann er wütend war.« Er gab keine Antwort. »Selbst wenn er ein Lächeln auf den Lippen hatte, selbst wenn er lachte, musstest du wissen, wann er zornig war.« Um zu verhindern, geschlagen zu werden.

»Dean hat mir einmal so ziemlich das Gleiche gesagt.« Michael verschränkte die Arme und sah mir in die Augen. »Er hat es nur nicht so nett ausgedrückt.«

Als ich Michael kennenlernte, hegte er eine ausgesprochene Abneigung gegenüber Profilern – und eine starke persönliche Abneigung gegenüber Dean. Es war mir nie in den Sinn gekommen, dass Dean tatsächlich etwas getan haben könnte, was Michaels Gefühle ihm gegenüber rechtfertigte.

»Was hat er denn zu dir gesagt?«, fragte ich plötzlich besorgt.

»Spielt das eine Rolle?« Michael sah zum Haus hinüber. »In puncto versaute Kindheit hat er doch eh die Oberhand.«

»Erzähl es mir«, forderte ich ihn auf.

Michael schlenderte um den Wagen herum und betrachtete ihn von allen Seiten. »Zorn«, meinte er dann leichthin, womit er aber nicht darauf einging, was ich von ihm wollte. »Vielleicht überrascht dich das, Cassie, aber ich reagiere nicht immer sonderlich gut darauf.«

Mir fiel ein, wie Michael offensichtliche Andeutungen auf den Filmklassiker Böse Saat in Deans Hörweite gemacht hatte oder wie er es zuließ, dass Lia ihn benutzte, um Dean zu reizen.

»Du bist jemand, der mit der roten Flagge vor dem Stier wedelt.«

»Wenn du sie nicht daran hindern kannst, dich zu schlagen«, erklärte Michael, »dann bring sie dazu, dich zu schlagen. Dann bist du wenigstens darauf vorbereitet. Auf jeden Fall ist es dann keine Überraschung mehr.«

Jetzt erkannte ich überdeutlich, wie es gewesen sein musste, als man Michael für diese Akademie verpflichtet hatte. Er war nicht froh darüber gewesen, aber zumindest entkam er so dem Leben mit einer tickenden Zeitbombe. Und dann war er hier auf Dean getroffen, der jeden Grund hatte, wütend zu sein, und der diese Wut mit jedem Atemzug bekämpfte.

»Eines Nachts sind Lia und ich bis Sonnenaufgang unterwegs gewesen.« Michael hatte nie einen Hehl aus der Tatsache gemacht, dass er einmal mit Lia zusammen gewesen war. Das spielte hier aber keine Rolle und ich dachte nicht weiter darüber nach. »Du kannst mir glauben, das hatte überhaupt nichts mit Dean zu tun. Aber als wir am Morgen zurückkamen, wartete er schon auf uns und kochte förmlich vor Wut. Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen.«

Ich sah es vor mir: Michael mit seiner Art und Lia mit ihrer, beide selbstzerstörerisch und mit dem Hang, dem FBI ein wenig Ärger zu machen, und Dean, der sich die ganze Nacht lang Sorgen um Lia machte, die mit einem Kerl unterwegs war, dem keiner von ihnen wirklich trauen konnte.

»Also hast du etwas gesagt, das Dean noch ein Stück weiter trieb.« Ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich hören wollte, was Michael gesagt hatte.

»Ich habe eine bildliche Keule geschwungen«, erzählte mir Michael, »und Redding hat zurückgeschlagen.«

»Aber nicht mit der Faust«, stellte ich fest. Deans Gabe war meiner ähnlich. Wir wussten genau, was wir sagen mussten, um jemanden zutiefst zu verletzen. Wir kannten die Schwächen anderer. Und Michaels Schwäche war sein Vater. Bei der Vorstellung, dass Dean das benutzt hatte, um Michael zu treffen, zog sich alles in mir zusammen.

»Ich habe ihn geschlagen«, fügte Michael in dem lässigen Tonfall hinzu, in dem andere ein Gespräch über das Wetter führen. Er machte einen Schritt auf mich zu und bedachte mich mit diesem unverschämt hübschen Michael-Lächeln. »Ich verstehe es, weißt du.«

»Was?«

»Dich. Redding. Ich verstehe es. Ich verstehe, dass er eine Menge durchmacht, und ich verstehe, dass du für ihn da sein willst. So bist du eben, Cassie. Du sorgst dich um andere Menschen und willst helfen. Bitte glaube mir, wenn ich dir sage, dass ich mich zurückhalte und dich tun lasse, was du tun musst. Aber es ist nicht einfach.« Michael löste seinen Blick von meinem und griff wieder nach dem Sandschleifer. »Ich habe nicht viel Erfahrung damit, ein anständiger Mensch zu sein. In dem Punkt vollbringe ich keine Meisterleistungen.«

Noch bevor ich etwas erwidern konnte, schaltete er das Gerät wieder ein und übertönte die abendlichen Geräusche. Ein paar Minuten blieb ich stehen und beobachtete ihn. Schließlich hielt Agent Mullins’ Auto in der Einfahrt. Mittlerweile war es schon so dunkel, dass ich nicht viel von ihrer Haltung oder ihrem Gesicht erkennen konnte, doch als sie über den Rasen kam, legte Michael den Kopf schief und schaltete die Schleifmaschine ab.

»Was?«, fragte ich.

»Sie ist nicht zufrieden«, sagte er. »Schneller Schritt, aber ohne Schwung, die Hände fest an den Seiten. Ich schätze, die Untersuchung der Schreibhütte des Professors verlief nicht allzu gut.«

Auf einmal verkrampfte sich mein Magen, und ich konnte meinen eigenen Atem, meinen eigenen Herzschlag hören.

Jetzt war Michael an der Reihe zu fragen: »Was?«

Auf der anderen Seite der Glasscheibe hatte ich mich so auf Dean konzentriert, dass ich nicht viel über seinen Vater nachgedacht hatte. Ich hatte ihn und das, was er sagte, nicht wirklich im Einzelnen betrachtet. Aber jetzt musste ich daran denken, dass Redding – auf Kosten von Dean – dem FBI letztendlich einen Tipp gegeben hatte, wo sich der Professor vielleicht versteckt hielt.

Als organisierter Killer war Daniel Redding ein Mann, der Psychospielchen liebte. Falsche Hinweise. Macht. Wenn Redding auch nur für einen Augenblick geglaubt hätte, dass der Professor der Täter war, hätte er Briggs nicht gesagt, wo er zu finden war. Der einzige Grund, warum er ihm den Hinweis gegeben hatte, war, dass er – ausgehend von den Briefen, die er erhalten hatte – eine Vermutung hatte, was das Aufspüren des Professors bewirken würde: Es würde Briggs, Mullins und das ganze FBI daran erinnern, dass sie nicht halb so schlau waren, wie sie glaubten.

Die einzig wirklich bemerkenswerten Briefe kamen von seinen Studenten.

Da ich nicht antwortete, rief Michael Agent Mullins nach: »Fehlschlag in der Hütte des Professors?«

Sie antwortete nicht, sondern ging ins Haus und schloss die Tür hinter sich. Und das sagte mir mehr als alles andere, dass ich recht hatte.

»Es war kein Fehlschlag«, meinte ich und musste schlucken. »Ich glaube, sie haben den Professor gefunden. Wir hätten es kommen sehen sollen.«

»Was hätten wir kommen sehen sollen?«

»Ich glaube, sie haben den Professor gefunden«, wiederholte ich. »Aber unser UNSUB war schneller.«