Kapitel 30

A ls ich am nächsten Morgen erwachte, arbeitete Michael schon wieder an seinem Auto. Ich stellte mich ans Fenster und sah zu, wie er den Stoßfänger mit dem Schwingschleifer bearbeitete, als sei Rostentfernung eine olympische Disziplin. Er wird diesen Wagen zerstören, dachte ich. Restaurierung war nicht gerade Michaels Stärke.

»Du bist wach.«

Ich drehte mich um und sah Sloane, die sich in ihrem Bett aufsetzte. »Ja.«

»Was beobachtest du da?«

Ich suchte nach einer Möglichkeit, der Frage auszuweichen, aber mir fiel nichts ein, also sagte ich: »Michael.«

Sloane betrachtete mich einen Augenblick lang wie ein Archäologe ein Höhlengemälde. So, wie ihr Gehirn funktionierte, hatte sie beim Lesen von Hieroglyphen wahrscheinlich mehr Erfolg.

»Du und Michael«, sagte sie.

»Da ist nichts zwischen Michael und mir«, antwortete ich automatisch.

Sloane legte den Kopf schief. »Du und Dean?«

»Da ist nichts zwischen Dean und mir.«

Sloane starrte mich weitere drei Sekunden an, dann sagte sie: »Ich gebe auf.« Offensichtlich hatte sie ihre Kapazitäten für Mädchengespräche erschöpft. Gott sei Dank. Sie verschwand im Schrank, und ich war schon halb aus der Tür, bevor ich mich an mein Versprechen erinnerte.

»Vielleicht gehe ich heute irgendwohin«, sagte ich. »Mit Dean.«

Sloane kam halb angezogen wieder aus dem Schrank. »Aber du hast doch gesagt …«

»Nicht so«, wehrte ich schnell ab. »Es geht um den Fall. Ich bin mir nicht sicher, wie der Plan aussieht, aber ich werde es gleich herausfinden.« Ich hielt kurz inne und sagte: »Ich habe versprochen, dass ich dich nächstes Mal einweihe. Hiermit weihe ich dich offiziell ein.«

Sloane zog sich ein T-Shirt an. Ein paar Sekunden schwieg sie. Dann strahlte sie: »Betrachte mich als eingeweiht.«

•••

Wir fanden Dean in der Küche. Lia war bei ihm, saß in einem weißen Pyjama und roten Stöckelschuhen auf dem Tresen. Ihr Haar war offen und ungekämmt. Sie redeten so leise miteinander, dass ich sie nicht verstehen konnte.

Als Lia mich über Deans Schulter hinweg sah, sprang sie mit unheilvollem Glitzern in den Augen vom Tresen. Bei der Landung auf dem Fußboden wackelte sie nicht einmal, trotz der hohen Absätze.

»Unser Lover Boy hier sagt, du hast gestern Abend verhindert, dass er etwas Dummes tut.« Sie grinste. »Ich persönlich will gar nicht wissen, wie du es geschafft hast, ihn zu überreden, sich zurückzuhalten. Aber er hat sich zurückgehalten. Ersparen wir meinen empfindsamen Ohren die Einzelheiten, ja?«

»Lia!«, rief Dean.

Sloane hob die Hand. »Ich hätte da ein paar Fragen bezüglich der empfindsamen Einzelheiten.«

»Später«, sagte Lia und tätschelte Dean die Wange. Er runzelte die Stirn und sie faltete keusch die Hände vor dem Bauch. »Ich werde brav sein«, versprach sie. »Großes Pfadfinderehrenwort.«

Dean murmelte etwas Unverständliches.

»Erröten. Fratzenschneiden. Grinsen.« Michael kam in den Raum geschlendert und verpasste im Vorbeigehen jedem von uns ein Etikett. »Und Sloane ist perplex. Ich habe den ganzen Spaß verpasst.«

Ich konnte praktisch fühlen, dass er versuchte, nichts in Deans Grimasse und mein Erröten hineinzulesen. Michael versuchte, mir Freiraum zu lassen. Dummerweise konnte er seine Fähigkeit ebenso wenig abschalten wie ich meine.

»Townsend.« Dean räusperte sich.

Michael wandte ihm seine ganze Aufmerksamkeit zu. »Du brauchst etwas«, sagte er, nachdem er eingehend seine fest aufeinandergepressten Kiefer und die schmale Linie seiner Lippen geprüft hatte. »Du hasst es, darum zu bitten«, ergänzte Michael lächelnd. »Mach es wie beim Abreißen eines Pflasters – nicht lange hinauszögern.«

»Er braucht eine Mitfahrgelegenheit«, sagte Lia, um es Dean zu ersparen. »Und du wirst sie ihm bieten.«

»Tatsächlich?« Michael klang überzeugend überrascht.

»Ich würde es zu schätzen wissen.« Dean warf Lia einen Blick zu, der meiner Meinung nach bedeutete: Halt dich da raus .

»Und wohin, wenn ich fragen darf, fahren wir?«, wollte Michael wissen.

»Ich muss mit jemandem reden.« Dean hatte offenbar nicht die Absicht, mehr zu erzählen als das. Ich erwartete, dass Michael die Sache in die Länge ziehen würde, um Dean zu zwingen, selbst darum zu bitten, doch er starrte ihn nur ein paar Sekunden an und nickte dann.

»Keine Bemerkungen über meinen Fahrstil«, sagte er leichthin. »Und du schuldest mir was.«

»Deal.«

»Ausgezeichnet«, fand Lia, viel zu selbstzufrieden. »Michael fährt also mit Dean und Cassie, während Sloane und ich für eine Ablenkung sorgen.«

»Der Plan gefällt mir«, erklärte Sloane fröhlich. »Ich kann sehr ablenkend sein.«

Michael und Dean waren weniger begeistert. »Cassie fährt nicht mit«, erklärten sie einstimmig.

»Na, das ist ja seltsam«, fand Lia und sah von einem zum anderen. »Werdet ihr beide euch demnächst gegenseitig die Haare flechten?«

Eines Tages würde Lia ein Buch mit dem Titel »Wie mache ich eine unangenehme Situation noch unangenehmer?« schreiben, das stand so was von fest.

»Cassie ist ein großes Mädchen«, fuhr Lia fort. »Sie kann selbst entscheiden. Wenn sie mitgehen will, dann werdet ihr sie nicht aufhalten.«

Ich war mir nicht so sicher, warum sie so darauf aus war, dass ich mitfuhr, oder warum sie freiwillig zu Hause bleiben wollte.

»Dean und ich sind beide Profiler«, meinte ich. »Macht mich das nicht irgendwie überflüssig?« Ich konnte zu diesem Abenteuer höchstens Objektivität beitragen. Lia mit ihrer Fähigkeit wäre eigentlich eine bessere Wahl.

»Nichts für ungut …« Lia begann ihren nächsten Satz auf eine Weise, die mehr oder weniger eine Garantie dafür war, dass eine Beleidigung folgen würde, »aber du kannst einfach nicht lügen, Cassie. Agent Mullins hat die Wahrheit über unser letztes Abenteuer geradezu beschämend schnell aus dir herausbekommen. Echt jetzt. Wenn du hierbleibst, werden wir alle geschnappt. Außerdem«, fügte sie hinzu und begann zu grinsen, »unsere beiden neuen Turteltauben hier werden sich wahrscheinlich nicht so schnell umbringen lassen – oder gegenseitig umbringen –, wenn du mit dabei bist.«

Ich dachte daran, dass Lia mit Michael tanzte, nur um Dean zu ärgern. Michael, Lia und Dean zusammen in ein Auto zu stecken, würde in einer Katastrophe enden.

»Also gut«, stimmte ich zu. »Ich fahre mit.«

Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle Dean protestieren, doch dann ließ er es. »Ich bin bereit, wenn ihr es seid«, sagte er rau.

Michael grinste erst Dean an und dann mich und behauptete: »Ich wurde schon bereit geboren.«

•••

Die Fahrt nach Broken Springs, Virginia, verbrachten wir in unangenehmem Schweigen.

»Na gut, ich geb’s auf«, verkündete Michael, als die Stille unerträglich wurde. »Ich schalte jetzt das Radio ein. Da wird wenigstens gesungen. Ich hätte nichts gegen ein Tänzchen im Auto einzuwenden. Und nur damit das klar ist: Der Nächste, dessen Gesicht auch nur annähernd nach Schmollen aussieht, kriegt eins auf die Nase. Außer es ist Cassie. Wenn es Cassie ist, kriegt Dean eins auf die Nase.«

Aus Deans Richtung erklang ein gurgelndes Geräusch, und erst nach einem Moment erkannte ich, dass er lachte. Die Drohung war so typisch Michael – völlig respektlos, obwohl ich keinen Zweifel hegte, dass er sie wahr machen würde.

»Na gut«, stimmte ich zu. »Kein Schmollen. Aber auch kein Radio. Wir sollten uns unterhalten.«

Der Vorschlag schien die beiden auf den Vordersitzen ein wenig zu schockieren.

»Über den Fall«, stellte ich klar. »Wir sollten über den Fall reden. Was wissen wir über die Frau, die wir besuchen wollen?«

»Trina Simms«, sagte Dean. »Den Besuchereinträgen zufolge, die Agent Mullins mir gezeigt hat, hat sie meinen Vater in den letzten drei Jahren immer häufiger besucht.« Er knirschte mit den Zähnen. »Es gibt Grund zur Annahme, dass es zumindest von ihrer Seite aus romantische Gefühle gab.«

Ich fragte ihn nicht, welche Gründe das genau waren. Michael auch nicht.

»Ich bezweifle, dass sie ihn kannte, bevor er eingesperrt wurde«, fuhr Dean fort und tat so, als spiele es gar keine Rolle – denn wenn er das zuließ, dann würde es eine zu große Rolle spielen. »Sie ist über vierzig. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist sie entweder davon überzeugt, dass er unschuldig ist, oder dass die Frauen, die er getötet hat, es verdient hatten zu sterben.«

Die eigentliche Frage war nicht, wie Trina Simms ihr Interesse an einem Mann, den die meisten Menschen für ein Monster hielten, rechtfertigte. Die eigentliche Frage war, ob sie selbst eine Mörderin war oder nicht. Wenn ja, waren die Morde dann als romantische Geste gemeint? Hatte sie geglaubt, dass Deans Dad stolz auf sie wäre? Dass es sie einander näherbringen würde?

Instinktiv wusste ich, dass Daniel Redding nichts an dieser Frau lag. Ihm lag überhaupt nichts an anderen Menschen. Punkt. Er war hart. Gefühlskalt. Das, was er für Dean empfand, kam seinem Gefühl von Liebe noch am nächsten, und auch das war eher narzisstisch. Dean war seiner Liebe würdig, weil Dean ihm gehörte.

»Wie sieht unser Plan aus?«, wollte Michael wissen. »Klopfen wir einfach an?«

Dean zuckte mit den Achseln. »Hast du eine bessere Idee?«

»Das hier ist deine Show«, sagte Michael. »Ich bin nur der Fahrer.«

»Es wäre am besten, wenn ich allein hineinginge«, fand Dean.

Ich machte schon den Mund auf, um ihm zu sagen, dass er allein nirgendwohin gehen würde, doch Michael kam mir zuvor.

»Nichts da, Cowboy. Wir sind nicht umsonst ein Team. Außerdem würde Cassie versuchen, dir nachzugehen, und dann müsste ich ihr nach und so weiter und so fort …« Michael verstummte unheilvoll.

»Okay, okay«, kapitulierte Dean. »Wir gehen gemeinsam. Ich sage ihr, dass ihr meine Freunde seid.«

»Eine geschickte Tarnung«, bemerkte Michael. In diesem Moment fiel mir auf, dass Michael nicht meinetwegen zugestimmt hatte, Dean zu fahren. Und auch nicht wegen Lia. Trotz allem, was er mir über sie beide erzählt hatte, hatte er es für Dean getan.

»Ich übernehme das Reden«, verkündete Dean. »Wenn wir Glück haben, ist sie so auf mich fixiert, dass sie auf euch beide gar nicht achtet. Wenn ihr etwas aus ihr herauslesen könnt, gut. Wir gehen hinein, wir gehen hinaus. Mit etwas Glück sind wir wieder zu Hause, bevor jemand merkt, dass wir weg waren.«

Oberflächlich betrachtet klang der Plan ganz einfach, aber Glück war nicht das Adjektiv, das ich auch nur einer Person in diesem Wagen zugeordnet hätte. Der Gedanke ging mir durch den Kopf, als Michael an einem Schild vorbeifuhr.

Willkommen in Broken Springs. Bevölkerungszahl: 4.140