A ls wir zurückkamen, saß Judd auf der Veranda und wartete auf uns. Verdammt. Etwa fünf Sekunden lang fragte ich mich, ob wir behaupten konnten, den Tag in der Stadt verbracht zu haben, doch Judd hob die Hände und bremste mich, bevor ich auch nur ein Wort herausbrachte.
»Ich habe immer geglaubt, wenn man Jugendlichen ihren Freiraum lässt, machen sie ihre eigenen Fehler und lernen daraus.« Judd schwieg ein paar Sekunden. »Aber eines Tages, als meine Tochter etwa zehn Jahre alt war, setzten sie und ihre beste Freundin es sich in den Kopf, auf eine wissenschaftliche Expedition zu gehen.«
»Sie haben eine Tochter?«, fragte Michael.
Judd ignorierte ihn und fuhr fort: »Solche Ideen hatte Scarlett häufig. Sie setzte es sich in den Kopf, etwas zu tun, und dann konnte man es ihr nicht ausreden. Und ihre kleine Freundin – nun, wenn Scarlett für die Wissenschaft zuständig war, dann war sie der Expeditionstyp. Der Typ, der einen Felsen herunterrutscht, um eine Pflanzenprobe zu holen. Sie hätten sich beinahe umgebracht.« Wieder schwieg Judd. »Manche Kids brauchen manchmal ein wenig Hilfe beim Lernen.« Judd hob nicht die Stimme. Er sah nicht mal wütend aus. Doch plötzlich war ich mir nicht sicher, ob ich seine »Hilfe« wollte.
»Es war meine Schuld.« Deans Stimme passte perfekt zu Judds, und mir wurde klar, dass sie einige Angewohnheiten teilten. »Michael und Cassie sind nur mitgefahren, damit ich nicht alleine losziehe.«
»Stimmt das?«, fragte Judd und sah uns mit diesem Blick an, den nur jemand hinbekam, der Kinder gehabt hatte. Der Blick, mit dem die eigenen Eltern dich daran erinnerten, dass sie deine Windeln gewechselt hatten und dich auch jetzt noch am Geruch erkennen konnten.
»Ich musste das tun.« Mehr sagte Dean nicht.
Judd verschränkte die Arme vor der Brust. »Vielleicht«, sagte er. »Aber an eurer Stelle würde ich mir innerhalb der nächsten fünf Sekunden eine bessere Ausrede einfallen lassen, denn die werdet ihr brauchen.«
Ich hörte Absätze auf dem Boden im Gang und gleich darauf tauchte Agent Mullins hinter Judd in der Tür auf.
»Nach drinnen«, befahl sie barsch. »Sofort.«
Wir gingen hinein. So viel dazu, nicht geschnappt zu werden.
Mullins führte uns in Briggs’ Büro und deutete aufs Sofa. »Setzen!«
Ich setzte mich. Dean setzte sich. Michael verdrehte die Augen und ließ sich auf der Sofalehne nieder.
»Dean ist schuld«, verkündete Michael ernst. »Er musste das tun.«
»Michael!«, empörte ich mich.
»Wisst ihr, wo Briggs im Augenblick ist?« Die Frage hatte ich nicht erwartet. Ich suchte nach Gründen, warum sein Aufenthaltsort für dieses Gespräch relevant war oder für das, was wir getan hatten. Suchte er uns? Traf er sich zur Schadensbegrenzung mit dem Direktor?
»Briggs«, erklärte Agent Mullins angespannt, »befindet sich auf der Polizeistation Warren County und trifft sich mit einem Mann, der glaubt, Informationen über den Mord an Emerson Cole zu haben. Denn der Sohn eines Serienmörders hat heute Nachmittag seine Mutter besucht, und Mr Simms glaubt, dass der Junge gewalttätig ist.« Sie hielt inne. »Der Herr hat einen blauen Fleck am Hals, der seine Behauptung bestätigt.«
Christopher Simms hat Dean bei der Polizei angezeigt? Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet.
»Zum Glück«, fuhr Agent Mullins fort, wobei ihre Worte eher nach einer Anklage klangen als nach einem Glücksfall, »hatte Briggs die örtlichen Behörden gebeten, alles, was mit diesem Fall zu tun hat, an ihn weiterzuleiten, daher hat er die Aussage aufgenommen. Und er ist immer noch dort, denn wie es scheint, hat Christopher Simms einiges zu erzählen – über Dean, über Deans Begleiter und über die Beziehung seiner Mutter zu Daniel Redding. Er ist ein wahrer Quell von Informationen.«
»Er fährt einen schwarzen Truck.« Ich starrte auf meine Hände, doch ich musste es unbedingt erzählen. »Er hat eine Verbindung zu Daniel Redding. Seine Mutter tadelt ihn ständig. Als wir da waren, hat er die Beherrschung verloren und mich gepackt, da hätten wir also die Impulsivität, aber seine Haltung und sein Verhalten sind auch beherrscht.«
»Und du hast Christopher an die Wand gedrängt, als er Cassie angegriffen hat?«, fragte Agent Mullins. War ja klar, dass sie von alldem, was ich erzählt hatte, ausgerechnet das aufgreifen würde.
Dean zuckte mit den Schultern, was Agent Mullins nur als Ja deuten konnte.
Sie wandte sich an Michael. Ich erwartete, dass sie ihn etwas fragte, doch sie verlangte nur: »Schlüssel.«
»Spaten«, erwiderte Michael. Sie runzelte die Stirn. »Werfen wir uns nur gegenseitig beliebige Substantive an den Kopf?«, fragte er unschuldig.
»Gib mir deinen Schlüssel. Sofort!«
Michael holte den Schlüssel aus der Hosentasche und warf ihn ihr unbekümmert zu.
Sie wandte sich wieder an Dean. »Ich habe meinem Vater gesagt, dass ich dir vertraue. Ich habe gesagt, ich würde damit fertigwerden.«
Die Worte trafen Dean, sodass er zurückhieb: »Ich habe Sie nie gebeten, mit mir fertigzuwerden!«
Mullins zuckte regelrecht zusammen. »Dean …« Erst sah es so aus, als wolle sie sich entschuldigen, doch dann hielt sie inne. Der Ausdruck in ihrem Gesicht verhärtete sich. »Von diesem Augenblick an bist du nicht mehr allein«, erklärte sie scharf und deutete auf Michael. »Ihr zwei bleibt zusammen. Wenn du nicht bei Michael bist, dann bei jemand anderem. Jetzt, wo du auf dem Radar der örtlichen Polizei aufgetaucht bist, brauchst du möglicherweise ein Alibi, wenn und falls unser Täter noch einmal zuschlägt.«
Agent Mullins hätte sich keine schlimmere Strafe für Dean ausdenken können. Er war von Natur aus ein Einzelgänger und nach den Ereignissen dieses Tages wollte er allein sein.
»Ihr könnt gehen«, erklärte Agent Mullins kurz angebunden. Sofort standen wir auf. »Du nicht, Cassie!« Sie fixierte mich mit ihrem Blick. »Ihr zwei«, sagte sie zu den Jungen, »raus hier!« Michael und Dean sahen erst einander an und dann mich. »Ich bitte euch nicht noch einmal!«
Agent Mullins wartete, bis sich die Tür hinter den Jungen geschlossen hatte, bevor sie sagte: »Was hast du zusammen mit Dean beim alten Redding-Haus gemacht?«
Ich machte den Mund auf und klappte ihn wieder zu. Gab es denn nichts, was sie nicht wusste?
»Christopher Simms war nicht der Einzige, der die Polizei gerufen hat«, informierte mich Mullins. »Die örtliche Polizei hörte von streunenden Teenagern auf dem alten Grundstück der Reddings, nur Minuten, nachdem jemand Anzeige gegen Dean erstattet hat. Und rate mal, wer da unter Verdacht steht?«
Selbst ich musste zugeben, dass das nicht gut aussah. »Er musste dorthin zurückgehen«, sagte ich leise, aber bestimmt. »Nur, um es zu sehen.«
Mullins presste die Kiefer aufeinander, und ich fragte mich, ob sie an die Zeit dachte, die sie auf diesem Grundstück verbracht hatte, an Händen und Füßen gefesselt in einem Schuppen, der nicht mehr existierte.
»Dass Dean dorthin gehen musste, hatte nichts mit seinem Vater zu tun.« Ich machte eine Pause, um ihr Zeit zu geben. »Bei diesem Besuch ging es nicht um Daniel Redding.«
Mullins dachte darüber nach. »Um seine Mutter?«, fragte sie dann.
Ich antwortete nicht. Das war nicht nötig. Nach kurzem, angespanntem Schweigen platzte ich mit der Frage heraus: »Hat jemand mit ihr gesprochen?« Ich musste daran denken, dass meine Mutter viele Fehler gehabt hatte, aber sie hätte mich nie verlassen. Und Deans Mutter hatte ihn nicht nur verlassen – sie hatte die Chance gehabt, ihn zurückzubekommen, und hatte abgelehnt. »Wenn unser Täter von Redding besessen ist, dann könnte Deans Mutter ein mögliches Ziel sein«, fuhr ich fort. Es gab Gründe, mit Marie zu sprechen, die darüber hinausgingen, dass man sie halbwegs zur Vernunft bringen sollte – oder ihr zumindest bewusst machen, was sie Dean angetan hatte.
»Ich habe mit ihr gesprochen«, erklärte Mullins kurz. »Und sie ist keine Zielperson.«
»Aber wie können Sie …«
»Deans Mutter lebt in Melbourne«, erklärte Mullins. »In Australien – auf der anderen Seite der Welt und außer Reichweite dieses Killers. Sie hatte keine fallrelevanten Informationen und bat darum, dass wir sie in Ruhe lassen.«
So wie sie von Dean in Ruhe gelassen werden will?
»Hat sie überhaupt nach ihm gefragt?«
Mullins schürzte die Lippen. »Nein.«
Da ich wusste, welche Beziehung Agent Mullins zu Dean hatte, wäre ich jede Wette eingegangen, dass sie Marie dafür hasste, was sie getan hatte. Vor dem Gespräch mit seiner Mutter war sie vermutlich noch halbwegs davon überzeugt gewesen, es mit den richtigen Worten oder den richtigen Fragen wieder hinbiegen zu können. Agent Mullins hatte nie glauben wollen, dass die Akademie für Dean die beste Wahl war, aber jetzt konnte ich sie fast denken hören: Wenn es die Akademie nicht gäbe, könnte Dean nirgendwohin.
»Sie sollten Christopher Simms auf die Liste der Verdächtigen setzen«, sagte ich. Da sie mich nicht sofort unterbrach, fuhr ich fort: »Er ist kein kleiner Mann, aber er verfügt nicht über die Präsenz, die man von jemandem seiner Größe erwarten würde. Er bewegt sich langsam, redet langsam. Nicht weil er nicht intelligent oder unkoordiniert ist, sondern mit Absicht. Er ist verklemmt. Nicht schüchtern, nicht verlegen, er hält nur etwas zurück.«
»Cassie …« Jetzt wollte sie mich doch unterbrechen, aber dazu ließ ich ihr keine Gelegenheit.
»Christopher war draußen, als wir zum Haus gingen. Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, dass er für die Arbeiten draußen zuständig ist. Der Rasen war zu lang. Vielleicht will er damit seine Mutter ärgern, aber ansonsten gehorcht er ihr aufs Wort. Er zerrt ein wenig am Zügel, aber er ist alt genug, dass er ausziehen könnte, wenn er es wirklich wollte.« Die Worte sprudeln nur so aus mir heraus. »Seine Mutter hat erwähnt, dass er viele Freunde hat, und ich habe nichts gesehen, was mich vermuten lässt, dass er unsozial oder besonders linkisch wäre. Also warum zieht er nicht aus? Vielleicht glaubt er, dass sie ihn braucht, vielleicht braucht er ihre Anerkennung. Vielleicht redet sie ihm Schuldgefühle ein. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass es von einer Sekunde auf die andere mit ihm durchging, und da ist er nicht auf Dean oder Michael losgegangen, sondern auf mich.«
Endlich hielt ich inne, um Luft zu holen. Aber Mullins sagte nichts, deshalb ließ ich meinen Gedanken weiter freien Lauf.
»Sie sagten, der Täter kenne sich mit Schusswaffen aus, aber in unbewaffneten Auseinandersetzungen sei er unsicher. Ich war das leichteste Ziel im Raum, daher ging er auf mich los.«
Vielleicht war Christopher auf mich losgegangen, weil ich diejenige war, die geredet hatte. Vielleicht hatte er wirklich versucht, keinen Streit anzufangen, und geglaubt, dass ich die Einzige von uns dreien wäre, die nicht zurückschlagen würde.
Vielleicht war er aber auch nur der Typ, der sich Frauen gegenüber gerne aufspielte.
»Gab es Schusswaffen im Haus?«, fragte Mullins. Ich hatte das Gefühl, dass ihr die Frage herausgerutscht war, ohne dass sie es wollte.
»Ich habe keine gesehen.«
Agent Mullins’ Telefon summte, und sie hob die Hand, um mich am Weiterreden zu hindern.
»Mullins«, meldete sie sich. Die Person am anderen Ende der Leitung hatte offenbar nichts Gutes zu berichten, denn Mullins wirkte ziemlich angespannt. »Sie machen Witze! Wann?« Mullins schwieg lange genug, um mich glauben zu lassen, dass Wann? nicht die einzige Frage war, die beantwortet wurde. »Ich bin in fünf Minuten unterwegs.« Abrupt legte sie auf.
»Schlechte Nachrichten?«, fragte ich.
»Eine Leiche.«
Wahrscheinlich sollten diese Worte das Gespräch beenden, doch ich musste fragen. »Unser Täter?«
Mullins packte ihr Telefon fester.
»Ist das der Punkt, an dem Sie mich ermahnen, mich da rauszuhalten?«, erkundigte ich mich.
Mullins schloss die Augen und holte tief Luft, bevor sie sie wieder aufmachte. »Das Opfer ist Trina Simms. Die Nachbarn hörten Schreie und wählten den Notruf, während ihr Sohn Christopher bei Briggs auf der Polizeiwache saß.« Mullins fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Also, ja, das ist der Zeitpunkt, an dem ich dir sage, du sollst dich da raushalten.«
Ob sie es gewollt hatte oder nicht, sie hatte sich angehört, was ich über Christopher zu sagen hatte. Aber Briggs’ Anruf war wie ein kalter Wasserguss gewesen.
Ich habe mich geirrt, dachte ich. Die Details und Kleinigkeiten, die ich bei meinem Besuch in Broken Springs aufgeschnappt hatte – nichts davon spielte mehr eine Rolle. Trina war tot, und Christopher war bei Briggs gewesen, als es passiert war.
Er ist nur ein Kerl. Ein Kerl mit einem dunklen Truck und einer Mutter, die ein echtes Miststück ist. War.
Ich dachte an Trina, die meine Schuhe für exquisit gehalten und geglaubt hatte, dass Daniel Redding in einem Berufungsverfahren freikommen würde.
»Hat Deans Dad offene Berufungsverfahren laufen?«, fragte ich.
Agent Mullins zuckte angesichts des Themenwechsels nicht einmal mit der Wimper. »Keine.« Sie ging zu Briggs’ Schreibtisch und nahm etwas aus einer der Schubladen, schob sie wieder zu und kam zu mir. »Leg dein Bein aufs Sofa«, befahl sie.
Plötzlich fiel mir ihre Drohung wieder ein. Wenn ihr das nächste Mal auch nur einen Fuß über die Stadtgrenze von Quantico setzt, ohne mich um Erlaubnis zu fragen, werde ich euch elektronische Fußfesseln anlegen lassen! »Das ist nicht Ihr Ernst!«
»Sehe ich aus, als würde ich Witze machen?«, fragte Mullins. Sie hatte den gleichen Ausdruck im Gesicht wie Judd, als wir zurückgekommen waren. »Ich habe dir etwas versprochen und ich halte meine Versprechen. Immer.« Ich rührte mich nicht, als sie sich hinkniete und mir das Ortungsgerät umschnallte. »Wenn du den Garten verlässt, werde ich es wissen. Wenn du versuchst, das Gerät zu entfernen, werde ich es wissen. Wenn du dich aus der Reichweite dieses Gerätes entfernst, wird ein stiller Alarm ausgelöst, der eine Nachricht direkt an mich und an Briggs sendet. Mithilfe des GPS können wir deine Position feststellen und ich werde dich, schreiend und tretend, hierher zurückschleifen.«
Sie stand auf. Mein Mund war trocken und ich brachte keinen Einwand hervor.
»Du hast gute Instinkte«, sagte Mullins. »Und du hast Argusaugen. Eines Tages könntest du eine sehr gute Agentin werden.«
Der Tracker war leichter, als er aussah, doch durch das zusätzliche Gewicht, so gering es auch war, beschwerte er meinen ganzen Körper. Ich hasste es, zu wissen, dass ich nicht wegkonnte, dass ich gar nichts tun konnte. Das war wie Folter. Ich kam mir nutzlos, schwach und sehr, sehr jung vor.
»Aber dieser Tag, Cassie, ist nicht heute.«