Natürlich plagten mich Zweifel. Alles andere wäre erschreckend gewesen. Meine Skrupel waren der Beweis meiner intakten moralischen Integrität. Dass ich mein schlechtes Gewissen überrumpeln konnte, deutete ich als Zeichen meiner Entschlossenheit und Tatkraft.
Selbstverständlich würde ich mich nicht auf Kosten anderer bereichern. Ich war einfach nur flexibel und erteilte mir quasi Hilfe zur Selbsthilfe.
Die Kreditkarte des Vereins lag neben meinem Schreibtisch im Safe. Laut Vorstandsbeschluss war sie zum schnellen Einsatz bei außergewöhnlichen Ausgaben gedacht. Nur Norbert, Constanze und ich waren zur Anwendung befugt und kannten die PIN. Ich beschloss, zügig zu handeln, denn je schneller die Karte wieder im Safe lag, desto kürzer würde ich mein Gewissen belasten. Der Weltenmeister hatte diese Skrupel erwähnt:
Es gibt nur einen, der dir im Weg steht.
Du selbst.
Schalte dich aus!
Was ich auch tat.
So erlebten wir denn ein paar aufregende Stunden, die Kreditkarte und ich. Ich kaufte solide Möbel, erwarb ein gebrauchtes, jedoch durchaus nobles Cabriolet, die neueste Spielkonsole, und da ich einmal in Schwung war, zog ich noch den Maximalbetrag aus einem Geldautomaten.
Musste ich mich schämen?
Von wegen!
Erst mein tatkräftiges Engagement im Verein hatte mich überhaupt in die Lage versetzt, diese Transaktionen durchzuführen. Ich hatte die Spenden und Fördergelder eingetrieben, hatte das Geld jahrelang akribisch verwaltet, also durfte ich mir in dieser Ausnahmesituation auch etwas borgen.
Was sollte schiefgehen?
Vor Jahren schon hatte Norbert jegliche Kontrolltätigkeit eingestellt, schließlich hatte er – völlig zu Recht – absolutes, blindes Vertrauen in mich, den netten, ehrlichen Dirk. Auch Constanze konnte mir nicht gefährlich werden. Sie stand mir zwar misstrauischer gegenüber, hatte aber keinerlei Ahnung von Zahlen und Konten. Bevor wieder Gelder vom Verein benötigt würden, wäre alles fein säuberlich zurückgezahlt.
Außer, dass ich heimlich vorging, tat ich also nichts Verbotenes.
Natürlich tat ich das alles nicht für mich. Sondern für Meino.
Wie hätte seine unschuldige Seele reagiert, wenn ich ihn wieder mit meinem alten Klapprad abgeholt hätte? Ich erinnerte mich an das Leuchten in seinen Augen, als er neben mir in der Limousine gesessen hatte; sollte dieses Leuchten etwa verlöschen? Sollte er mich nie wieder Vati nennen?
Nein!
Ich wollte ihm ein behagliches Heim bieten. Mehr nicht. Und war nicht auch in der Vereinssatzung zu lesen, dass das Wohl der Kinder an erster Stelle stand?
Als ich die Karte schließlich wieder in den Safe legte, vibrierte mein Handy.
Außergewöhnliche Entscheidungen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen, Dirk!
Das stimmte, auch wenn ich mir eingestehen musste, dass dies die erste Situation in meinem Leben war, in der ich etwas amtlich Außergewöhnliches getan hatte.
Es fühlte sich gut an.