»Dirk, wir müssen reden.«
Meiner festen Überzeugung nach war die Verwendung dieses bedrohlichen Verbalkonstruktes einzig und allein Albinas Privileg. Offensichtlich aber bezog Constanze ihren Wortschatz aus demselben Waffenlager, denn mit exakt dieser militanten Floskel nahm sie mich ohne Umschweife in der Hortküche unter Beschuss. Sofort hisste ich die weiße Flagge.
»Hui, das klingt aber ernst«, entgegnete ich lächelnd. »Wird das etwa der Beginn einer wunderbaren Freundschaft?«
»Wohl eher nicht«, gab sie mit versteinerter Miene zurück. »Lass uns in dein Büro gehen. Norbert kommt auch gleich.«
»Ach?«, fragte ich ungläubig. »Hat dieser Arnulf mich etwa angezeigt? Wegen so ’ner Lappalie unter Männern? Woher wisst ihr eigentlich davon?«
Constanze und Norbert hatten sich vor meinem Schreibtisch aufgebaut und versuchten, mich in die Mangel zu nehmen.
»Das«, sagte Norbert in seiner gewohnt langweiligen Art, »ist doch völlig egal.«
»Das ist keine«, Constanze malte mit ihren spillerigen Fingern ein paar Anführungszeichen in die stickige Büroluft, »Lappalie unter Männern! Das ist Körperverletzung! Du hast einen Menschen mit voller Wucht geschlagen, Dirk!«
»Mit voller Wucht? Tsss! Wenn ich mit … voller Wucht zugeschlagen hätte, dann müssten wir jetzt über Totschlag reden. Machen wir aus ’ner Mücke keinen Elefanten, Jungs!« Ich überlegte einen Moment. »Und Mädels«, fügte ich dann noch hinzu, denn Gendergerechtigkeit betrachtete ich im schulischen Alltag als absolute Selbstverständlichkeit.
»Du kapierst mal wieder überhaupt nicht, was das bedeutet«, nuschelte Norbert in seinen Vollbart.
»Ihr kapiert nicht, was hier was bedeutet! Dieser Arnulf hat mir meine Frau weggenommen! Einfach …«, ich schnippte mit den Fingern, » … so! Und mein Kind gleich mit! Soll ich mir das einfach so gefallen lassen?«
»Dirk.« Norbert hob beschwichtigend die Hände. »Wir alle haben schon Trennungen durchlebt, ohne dass es zu Gewalt kam.«
»Dass jemand wie du sich alles gefallen lässt, ist mir schon klar!«
Mein Ton wurde rauer. Der Tiger fletschte die Zähne.
»Jetzt pass mal auf«, echauffierte sich Constanze. »Wir müssen uns auch nicht alles gefallen lassen. Eines der obersten Prinzipien an dieser Schule ist gegenseitiger Respekt.«
»Blablabla!«, rief ich. »Vielleicht darf ich dran erinnern, dass ich als Gründungsmitglied des Vereins diese Grundprinzipien persönlich mit ausgearbeitet habe!«
»Das tut aber nichts zur Sache!« Norbert rückte die Nickelbrille zurecht. »Der entscheidende Punkt ist, dass man sich dran hält!«
Nun, vermutlich hatten die beiden mit meinem kleinen Ausraster tatsächlich ein Problem. Der Tiger fuhr die Krallen ein.
»Okay«, sagte ich. »Es war ein Fehler. Ich habe in einer Ausnahmesituation überreagiert. Wird nicht wieder vorkommen. Ich habe dem Geschädigten bereits einen persönlichen Brief geschrieben und mich aufrichtig entschuldigt. Reicht euch das?«
Das hatte ich zwar noch nicht getan, konnte es aber jederzeit nachholen.
Die beiden sahen sich unsicher an. Aus dem Flur drang das Lärmen der Kinder. Nach einer kurzen Pause ergriff Norbert wieder das Wort.
»Du hast recht, es war ein Fehler. Aber wir als Verein können nicht so tun, als wäre nichts geschehen. Wir haben uns gestern im Vorstand beraten und beschlossen, dich bis auf weiteres zu suspendieren.«
Ich war fassungslos.
»Das ist nicht euer Ernst?«
Constanze stakste einen Schritt auf mich zu. »Doch.«
»Wisst ihr überhaupt, worauf ihr euch da einlasst?«
Keine Antwort.
»Ich meine«, ich deutete zu den Papieren auf meinem Schreibtisch, »wer soll das eurer Meinung nach alles erledigen? Diesen ganzen Verwaltungswahnsinn?«
»Norbert«, sagte Constanze förmlich. »Als Mitglied des Verwaltungsrates hat er sich bereit erklärt, deine Aufgaben zu übernehmen, bis die Sache hoffentlich bald wieder vom Tisch ist.«
»Ach!«, blaffte ich. »Der Norbert also! Jetzt verstehe ich, woher der Wind weht! Der feine Herr hat keinen Bock mehr, sich mit den nervigen Gören zu beschäftigen, und sucht einen bequemen Bürojob!«
Norbert wandte sich kopfschüttelnd ab und sah angespannt aus dem Fenster.
»Jetzt komm, Dirk.« Constanze sah mich eindringlich an. »Mach es uns nicht noch schwerer.«
»Und was«, fiel mir ein, »wird aus dem Baumhaus? Das war mein Projekt! Ich hab’s mit den Drittklässlern geplant und …«
»Darf ich daran erinnern«, unterbrach Constanze ruhig, »dass sich insgesamt vier Kinder bei deinem … Projekt verletzt haben, weil du sie ohne Aufsicht mit gefährlichen Werkzeugen hantieren lassen hast?«
»Ich hatte zu tun!« Ich deutete auf meinen Schreibtisch. »Und außerdem, was soll die Welle? Wegen ein paar Kratzern?«
»Nadine ist zwei Wochen mit einem Gipsarm rumgelaufen.«
»Und obendrein«, hakte Norbert nach, »ist dein sogenanntes … Baumhaus seit letzter Woche baupolizeilich gesperrt.«
»Okay.« Es reichte, ich hatte genug und ging in die Offensive. »Wenn das von Anfang an euer Plan war, dass Norbert den Laden schmeißt, dann will ich nicht im Wege stehen!«
»Was soll die Scheiße?«, gab Norbert gekränkt zurück. »Denkst du, uns macht das hier Spaß?«
»Das«, sagte ich leise, »ist also der Dank dafür, dass ich mir jahrelang den Arsch für euch aufgerissen habe.«
Ich ging zur Tür.
»Ihr könnt mich mal. Viel Spaß noch mit eurem … KACK BUMMSVEREIN!«
Knallend fiel die Tür ins Schloss.