»Ruhe, ihr Arschgeigen!«

Sörens zerzauster Kopf erschien im Fenster. Sein Fluchen galt den Mitarbeitern der Cateringfirma, die ihren Kleintransporter direkt unter seinem Schlafzimmer scheppernd mit Kisten schmutzigen Geschirrs und anderen Überbleibseln der Party beluden. Als sie den wütenden Sören erblickten, sprangen sie eilig in ihr Fahrzeug und machten sich davon.

Kurz darauf kam Sören verkatert aus der Villa auf die Terrasse. Er hatte einen weißen Bademantel übergestreift und ein Glas Milch in der Hand.

»Mach erst mal den Rasen!«, rief er einem Gärtner zu, der gerade damit beschäftigt war, die Zufahrt zum Anwesen zu fegen. »Und räum den ganzen Mist weg, das sieht ja furchtbar aus!«

Der Gärtner sah ihn hilflos an.

»Den Ra-sen ma-chen!«, wiederholte Sören, als spräche er mit einem Kleinkind und fuchtelte wild mit den Armen »Zufahrt e-gal

Schlecht gelaunt schlurfte er über die große Wiese auf mich zu.

»Tja«, ich war damit beschäftigt, die Boxen abzubauen, »gutes Personal ist schwer zu finden.«

»Pah. Von wegen.« Er blinzelte in die Mittagssonne. »Früher war’s schwer, gutes Personal zu kriegen. Heute gibt’s gar keins mehr. Du findest einfach keine Leute.«

Sören musste lachen.

»Ist gestern noch was gelaufen mit Patrizia?« Er nippte an seiner Milch.

»Patrizia? Äh, na klar. War ganz gut.«

»Du bist der richtige Typ für nach dem Aufstehen«, grinste Sören und zündete sich eine Zigarette an. »Da krieg ich automatisch gute Laune.«

Als kategorischer Nichtraucher hatte ich früher oft mit Albina gestritten (sie rauchte bis zu acht Zigaretten am Tag), doch als mir Sören kumpelhaft seine Schachtel anbot, griff ich zu.

»Du brauchst also Kohle«, stellte er fest und gab mir Feuer. »Ich könnte dir da was vermitteln.«

»Okay«, hustete ich. »Wie viel?«

»Ich meine ’nen Job.«

»Logo. Und was wäre das für’n … Job

»Verkaufen. Alles Mögliche.« Sören wedelte mit der Kippe durch die Luft. »Keine Ahnung, was die grad haben.«

»Aha.«

»Hab ich früher auch gemacht. Versicherungen, Geldanlagen und so. Ist ’ne Ewigkeit her, damals war’s natürlich einfacher als heute. Da hast du irgendwo geklingelt oder angerufen, und jeder Dritte hat dir was unterschrieben oder abgekauft, selbst wenn’s der absolute Schrott war. Die Leute waren so gierig. Und dumm wie Möhreneintopf. Ist heute nicht mehr. Alle wissen Bescheid und sind vorsichtig geworden. Aber wenn man’s clever anstellt, wächst noch gut was rum. Ein alter Kumpel von mir«, er blies den Rauch aus, »macht das immer noch. Der hat ’ne gute Truppe und ist immer auf der Suche nach Leuten. Fähigen Leuten. Männern mit Überzeugungskraft.«

»Mein Kumpel hat jede Menge Adressen. Von allen möglichen Leuten, die bei Kaffeefahrten und so mitmachen. Die kannst du vorher antelefonieren und dann hinfahren. Oder du gehst auf Kaltaquise.«

An meinem ratlosen Blick erkannte Sören, dass ich keine Ahnung hatte.

»Einfach auf Zufall irgendwo klingeln. Ist aber schwieriger.«

»Ist das denn legal?«

»Aber so was von.« Sören aschte in sein halbvolles Milchglas. »Du raubst ja niemanden aus. Man muss die Leute nur überzeugen, dass sie dringend was brauchen, was sie in Wirklichkeit absolut nicht brauchen. Und dann gibt’s Bargeld. Steuerfrei.«

»Verstehe.«

»Klar, ist erst mal hart. Allerdingds wenn man gut ist …«

»So wie du?«

»Genau!«, grinste Sören. »Die größte Erfolgsquote hast du ganz klar bei den Alten. Also, ran an den Rentner!« Er hielt schon sein Handy ans Ohr. »Ralf!«, rief er ins Telefon, »ich hab hier jemanden für dich. War noch nicht im Verkauf. Ist ’ne Jungfrau.«

»Aber zu allen Schandtaten bereit!«, rief ich ironisch von weitem in den Hörer.

Sie redeten eine Weile. Die Sache schien perfekt zu laufen.

»Und womit«, wollte Sören zum Abschluss wissen, »dealt ihr gerade?« Er lauschte einen Moment. »Ah! Kochtopfsets für siebenhundert Euronen?«

»Wow«, sagte ich. »Das müssen aber richtig gute Töpfe sein.«

»Was hab ich gesagt, Ralf! Mit dem Typen wirst du viel Freude haben!«

*

Als ich nach Hause kam, fühlte ich mich elektrisiert wie seit Jahren nicht mehr. Ich war gespannt auf all das Neue, das mich erwartete. Vor ein paar Tagen noch hatte ich in meinem muffigen Büro im Erdgeschoss der Freien Kreativschule gesessen, nun schien es, als läge das alles schon seit Ewigkeiten hinter mir.

Jetzt taten sie mir fast leid, Norbert, Constanze und all die anderen Wichte mit ihren kleinkarierten Sorgen und Prinzipien.

Nun, sie hatten ihr Elend selbst gewählt.

Manchmal, davon war ich überzeugt, muss man mutig sein und große Schritte wagen. Und mein Schritt war mutig! Ich wusste, worauf ich mich einließ.

Doch, ich würde es schaffen. Jemand wie ich, der seit Jahren im Umgang mit Kindern erfahren war, würde mit Rentnern genauso gut klarkommen. Trotz aller Unterschiede betrachtete ich beide als prinzipiell gleich: sowohl Kinder als auch Rentner sind aufgrund ihres Alters nur bedingt zurechnungsfähig.

Eines allerdings stand fest: Ich würde ehrlich bleiben, niemanden übers Ohr hauen und immer nett und freundlich sein. Dankenswerterweise war das Produkt, das es zu veräußern galt, ja unverfänglich: Töpfe. Die konnte man ein ganzes Leben lang gebrauchen, im Gegensatz zu Versicherungen oder windigen Finanzanlagen, die einen schnell in den Ruin treiben können.

Sicherlich, siebenhundert Euro für ein paar Töpfe

Und eines war natürlich auch klar: Mein nächster Job war nur die erste, kurze Stufe auf dem Weg nach oben. Wie hatte es Weltenmeister beschrieben?

Der Weg ist steinig, also achte auf festes Schuhwerk!

Erfolg ist machbar!

Ja, es wurde Zeit, meine Talente in den Dienst einer neuen Sache zu stellen.

Meiner eigenen.