»Was ist?« Albina klang gereizt. »Wir hatten vereinbart, keine Anrufe.«
»Nur SMS, ich weiß.« Ich stand im Wohnzimmer, das Handy am Ohr. »Aber es ist wichtig. Es geht um Meino.«
»Gut«, erwiderte sie nach einer kurzen Pause etwas entspannter.
»Wie geht’s ihm?«, begann ich vorsichtig.
»So weit okay.«
»Ich mache mir Sorgen, weil ich ihn so wenig sehe.«
»Er vermisst seinen Vater. Manchmal fühlt er sich einsam.«
»Schön. Ich meine«, verbesserte ich mich hastig, »schade.«
»Er hat dich seit drei Wochen nicht gesehen.«
»Mein neuer Job – da geht’s gerade echt ab und …«
»Klar«, lachte Albina auf. »In einer halbkriminellen Drückerkolonne!«
»Unfug!«, protestierte ich. »Keiner in unserer Truppe ist vorbestraft!«
Das stimmte nicht ganz. Wir waren zu fünft unterwegs, jeder natürlich für sich. Wenn wir in anderen Städten übernachteten, gingen wir nach dem Job manchmal gemeinsam etwas trinken. Sicherlich, als diplomierter Sozialpädagoge war ich deutlich überqualifiziert für meine neue Arbeit, und Timo, Hase, Leander und Ulrike waren nicht unbedingt die hellsten Kerzen auf der Backware. Doch im Gegensatz zu mir hatten sie Erfahrung im Business.
Es gab viel zu lernen, und ich lernte schnell. Selbst von Timo, dessen intellektuelle Leuchtkraft gegen null ging. Er war ein ziemlicher Schrank, doch im Grunde ein gutmütiges Wesen. Es sei denn, jemand meinte, Witze auf Kosten seiner kognitiv niedrigen Fallhöhe machen zu müssen. Dann konnte es geschehen, dass er etwas … nun ja, ungehalten wurde. Logisch, wenn einer wie Timo vorbestraft war. Allerdings nicht wegen illegaler Haustürgeschäfte, sondern schlichter Körperverletzung.
Ich unterließ es, Albina über den nicht unerheblichen juristischen Unterschied aufzuklären.
»Es ist mir egal, womit du dein Geld verdienst.« Der gereizte, standardmäßig in ihren Werkseinstellungen gespeicherte Unterton kehrte zurück. »Nimm dir einfach Zeit für Meino.«
»Aber ich hab mir ja schon Zeit genommen!«, erklärte ich stolz.
»Schön. Und für wann?«
»Gestern.«
»Wie jetzt?« Sie klang unsicher.
Ein Winseln drang durch die geschlossene Küchentür.
»Ich hab Meino gestern einen Hund besorgt«, sagte ich.
Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Moment Stille.
»Du hast … was?!«
»Einen Hund. Als Ersatz, weil ich keine Zeit hab. Wir könnten ihn Dirk nennen.«
»Spinnst du?«
»Dann hat Meino jemanden zum Knuddeln. Natürlich nur für den Übergang. Wenn’s bei mir richtig läuft, hab ich wieder mehr Zeit und dann …«
»Dann geben wir ihn wieder weg, oder wie?«
Das Winseln wurde lauter. Krallen kratzten an der Küchentür.
»Nee, der ist richtig süß. Und teuer war er auch.«
Eigentlich hatte ich den Dackel umsonst aus dem Tierheim geholt. Doch ich hoffte, Albina mit diesem sachlichen Argument zu überzeugen.
»Er ist sogar stubenrein«, fuhr ich deshalb fort. »Bei euch hat er doch Platz, gerade im Garten. Ich dachte, ich bringe ihn morgen vorbei und …«
»Bei uns?« Albinas gereizter Grundton kippte bedrohlich ins Hysterische. »Vielleicht weißt du ja noch, warum ich schon vor Jahren kein beschissenes Haustier wollte?«
Das war definitiv keine rhetorische Frage, doch dankenswerterweise schrie sie sich die Antwort selbst ins Telefon: »Ich hab ’ne TIERHAARALLERGIE!«
Na toll! Es war wie früher: Wenn Albina in einer Diskussion nichts mehr einfiel, kam sie mit Argumenten!
»Na und?« Auch ich wurde langsam pampig. »Deshalb ist der Hund ja auch für Meino und nicht für dich!«
»Schieb dir deinen Drecksköter in deinen verschissenen Arsch!«, schrie Albina. »Merk dir das!« Ihre Stimme überschlug sich, schepperte aus dem Hörer: »Du VOLLVERBLÖDETER HODENGNOM!«
»Tja. Dann bleibst du eben bei mir.«
Der Dackel sah schwanzwedelnd zu mir auf. Ich setzte mich auf das neue Sofa und sah mich im Wohnzimmer um. Dort, wo früher das Bücherregal gestanden hatte, stapelten sich jetzt Kisten mit Topfsets bis knapp unter die Decke.
Bisher hatte ich kein einziges verkauft. In meiner noch jungen Karriere als Trader hatte ich mit diversen Hemmnissen und Widrigkeiten zu kämpfen. Allein das Eindringen in die Wohnungen war oft unmöglich, weil vorgelegte Türketten den Zugang verhinderten oder rabiate Bewohner den Weg versperrten. Wenn diese Hürden genommen waren, versuchte ich mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen zu überzeugen, denn natürlich lag es mir fern, meine Kunden einzuschüchtern oder gar zu bedrängen, doch irgendwann …
Mit einem kurzen Bellen holte mich das Tier aus meinen trüben Gedanken.
Das Tier?
»Du brauchst erst mal einen Namen.«
Ein niedliches Winseln, als wolle der kluge Hund mir zustimmen.
»Dirk«, überlegte ich laut, »kann ich dich nicht nennen, da kommen wir durcheinander. Obwohl es passen würde.« Ich ging in die Hocke, kraulte das wuschlige Fell. »Schon allein wegen deiner niedlichen Augen.«
Die Abenddämmerung brach an. Ich dachte eine Weile nach und kam zu dem Schluss, dass die Zeiten, in denen Albina mir alles vorgeschrieben hatte, vorbei seien. Endlich lag die Entscheidung allein bei mir.
Ich nannte den Hund trotzdem Dirk.
Ätsch!
Dirk der Zweite.