»Guten Morgen, Frau Wondraschek!«, strahlte ich. »Heute ist Ihr Glückstag!«
Die alte Dame starrte mich misstrauisch durch den Türspalt an. Ich war ein wenig außer Atem, der Aufzug des maroden Hochhauses war defekt, also hatte ich den schweren Koffer bis ins sechste Stockwerk schleppen müssen. Unterwegs hatte ich vergeblich an über zwei Dutzend Wohnungen geklingelt. Jetzt, da Erfolg nahte, setzte ich ganz auf meine positive, mitreißende Energie.
»Sie haben doch bestimmt ein bisschen Zeit für mich. Ich jedenfalls«, ein kurzer Schritt und schwupps!, stand ich im Flur, »habe mir gaaaanz viel Zeit genommen für Sie!«
Blitzschnell sondierte ich die Lage. Die Frau war über achtzig, offensichtlich alleinstehend, die Wohnung entsprechend eingerichtet: Plüschsofa, gehäkelte Deckchen und geblümte Tapeten.
Perfektes Terrain.
»Sie sind also die Frau Wondraschek. Freut mich, Sie kennenzulernen. Sagen Sie mal«, ich riss verwundert die Augen auf, »glauben Sie eigentlich an Liebe auf den ersten Blick? Oder muss ich noch mal reinkommen?«
Die alte Dame nestelte an ihren Lockenwicklern und konnte sich ein verlegenes Kichern nicht verkneifen.
»Kleiner Spaß«, fuhr ich fort und wuchtete meinen Lederkoffer auf das Sofa. »Aber was rede ich da. Spaß?« Ich zwinkerte ihr schelmisch zu. »Wir sind ja ungefähr im selben Alter.«
Ein weiteres Kichern.
»Ach!« Ich langte mir an die Stirn. »Ich hab mich ja gar nicht vorgestellt! Wie unhöflich, gerade bei einer so charmanten Lady. Mein Name ist Bergfalk.« Eine höfliche Verbeugung, ich reichte ihr die Hand. »Dirk Bergfalk.«
Sie gab ein paar genuschelte Silben von sich. Offensichtlich gab es Probleme mit dem Gebiss, und so war ich nicht sicher, ob sie sich als Frieda oder Elvira vorstellte.
»Hervorragend!«, lächelte ich trotzdem.
Schleimiges Verkäufergehabe war nicht mein Ding, ich vertraute auf meinen jungenhaften Charme. Umgehend öffnete ich den Koffer, breitete den Inhalt auf dem Teppich aus und begann, die Vorzüge meiner Produkte zu erläutern.
»Eloxiertes Titan, doppelt beschichtet!« Ich kniete zwischen den Töpfen und Pfannen. »Extrem hitzebeständig, spülmaschinenfest und natürlich«, ich klopfte mit dem Knöchel gegen einen Pfannenboden, »echte deutsche Wertarbeit, Frau Wondraschek.«
»Aha.«
Die Augen der Dame wanderten zwischen den Kochgeräten und mir hin und her. Staunend lauschte sie meinen plastischen Schilderungen, bis ich schließlich zum schwierigsten Teil der Arbeit kam: dem Finanziellen.
»Frau Wondraschek«, sagte ich ernst. »Sie wissen, Qualität hat ihren Preis.«
Schon immer war es mir unangenehm gewesen, von irgendjemandem Geld zu verlangen, egal wofür. Im Gegensatz zu Albina, sie hatte damit natürlich keine Probleme, nicht umsonst arbeitete sie bei einer Bank. Dass sie mich wegen eines dubiosen Finanzberaters verlassen hatte, war alles andere als Zufall.
»Eigentlich«, murmelte die Alte, »habe ich schon genug Töpfe. Ich weiß gar nicht, wo ich die alle unterbringen …«
»Keine Panik!«, lachte ich. »Die Entsorgung übernehme ich natürlich! Kostenfrei!«
Klar, es ging hier ums Geschäft. Doch Mensch zu bleiben war mir mindestens ebenso wichtig.
»Und was«, fragte sie unsicher, »soll das alles kosten?«
Das Mütterchen war mir sympathisch, also gab ich meinem Herzen einen Stoß.
»Alles zusammen«, ich deutete auf die blitzenden Töpfe, »siebenhundert Euro. Inklusive Polierschwamm und Spezialreiniger«, fügte ich hastig hinzu, als die alte Dame die Augen aufriss. »Ich weiß, das ist sehr viel Geld, aber weil Sie es sind, gebe ich Ihnen alles für sechshundertsiebzig. Ich will ja nichts dran verdienen.«
»Ach.«
»Ich bin Pädagoge«, erklärte ich. »Hauptberuflich arbeite ich an einer Schule, die sich in erster Linie aus Spenden finanziert. Der Erlös der verkauften Töpfe kommt also den Kindern zugute.«
Das war nicht gelogen, schließlich war ich nur suspendiert, mein Arbeitsvertrag noch nicht aufgehoben. Dazu kam, dass ich die Provision (dreihundertelf Euro pro Topfset) tatsächlich nicht für mich, sondern für die Schule brauchte, um mein heimliches Darlehen zu tilgen.
»Es ist also«, sagte ich gutmütig, »im Prinzip für einen guten Zweck.«
Die Wondraschek nestelte am Kragen ihrer Nylonschürze.
»Siebenhundert …«
»Nein, nein! Nur Sechshundert!«, verbesserte ich. »Sechshundertsiebzig.«
»Oh Gott«, murmelte sie mit dünner Stimme. »So viel hab ich gar nicht in der Wohnung.«
»Aber lieeeebe Frau Wondraschek!« Ich breitete die Arme aus. »Das ist doch für zwei wie uns kein Hindernis! Sie haben bestimmt eine EC-Karte, oder?«
»Ja sicher, aber …«
»Dann machen wir beide jetzt einen gemütlichen Spaziergang zum Geldautomaten, und schon ist das Problemchen gelöst!«
Sie schien nicht recht überzeugt.
»Ein bisschen frische Luft«, gab ich noch etwas Entscheidungshilfe, »wird uns beiden guttun. Ich hole schon mal Ihre Jacke.«
Frohen Mutes lief ich zur Garderobe, als plötzlich das Festnetz klingelte. Ehe ich mich versah, war die gebrechlich wirkende Alte mit unvermuteter Behenz am Hörer.
»Meike, meine Kleine! Ja, mir geht’s gut.«
Allem Anschein nach war jemand aus der Familie am anderen Ende der Leitung. Vermutlich eine Enkelin.
»Ich hab Besuch«, plapperte die Alte drauflos. »Von einem netten jungen Mann.«
Mir blieb nichts übrig, als zu warten, den grauen Wollmantel anziehbereit in den Händen.
»Ja, der ist von der Schule. Was der will?«
Sonst interessiert sich die Jugend nie für alte Leute, grübelte ich gereizt. Warum ausgerechnet jetzt, kurz vor meinem ersten Verkauf? Ich lächelte ein wenig angestrengt in Richtung der mir nun zunehmend unsympathisch erscheinenden Großmutter.
»Na, das ist der mit den Töpfen! Für die Kinder!«, faselte sie weiter. »Wir gehen jetzt zum Geldautomaten und …«
Durch Gesten und Kopfschütteln versuchte ich, die Alte vom weiteren Schwadronieren abzuhalten, denn so, wie sie die Situation schilderte, musste für ihre Enkelin unweigerlich der Eindruck entstehen, jemand wolle ihrer Oma die Rente aus der Kittelschürze ziehen.
»Genau, eigentlich siebenhundert Euro, aber der Dirk verdient ja nichts dran. Was? Ja, ich gebe ihn dir.«
Sie drückte mir den Hörer in die Hand. Im ersten Moment war ich überrumpelt, fing mich aber schnell. Jetzt war diplomatisches Geschick gefragt.
»Hallo Meike«, begann ich entspannt. »Keine Angst, deiner Omi …«
… geht’s gut, hatte ich sagen wollen, doch dazu blieb keine Zeit, denn durch den Hörer blies mir ein eisiger Sturm entgegen.
»Pass auf, du verfluchter Wichser.« Meike kam sofort zur Sache. »Ich steige jetzt ins Auto und bin in fünf Minuten da. Gnade dir Gott, wenn irgendwas in der Wohnung nicht so ist, wie’s sein sollte.«
»Aber Meike«, versuchte ich’s noch mal im Guten, »es ist mitnichten so, wie du es dir womöglich gerade ausmalst. Deine Omi …«
»Halt’s Maul!« Der tiefen Stimme nach zu urteilen war sie ziemlich kräftig gebaut. »Ich trete dir dermaßen in die Eier, dass sie dir zu den Ohren rauskommen!«
»Ach ja?!« Ich wurde wütend. »Plötzlich ist dir deine Omi wichtig? Sonst interessiert sie dich einen Scheißdreck, aber wenn’s um Geld geht, bist du dicke da, was? Du hast doch nur Schiss, dass du nicht genug erbst und … hallo?«
Aufgelegt.
Meine Worte schienen nicht nur direkt, sondern auch sehr laut gewesen zu sein, wie ich dem entsetzten Blick meiner Kundin entnahm. Meiner ehemaligen Kundin, musste ich mich verbessern.
Was hatte dieses hyperventilierende Schrapnell am Telefon prognostiziert?
In fünf Minuten hier?
Hastig wägte ich die Optionen ab. Zum ersten Mal in meiner Karriere hatte ein Verhandlungspartner deutlich signalisiert, meine Produkte zu erwerben, trotzdem entschied ich, das Verkaufsgespräch an dieser Stelle zu beenden. In wenigen Minuten drohte ein lokaler Weltkrieg. Als diplomierter Erzieher wusste ich von der Gefahr, die emotionalisierte Jugendliche für ihre Umwelt darstellen können.
Wenn sich die Jugend im Recht fühlt, wird sie zum Tier.
Und diese Meike fühlte sich sehr im Recht.
Was hatte ich beim Weltenmeister gelesen?
Führe nur die Kriege, die du auch gewinnen kannst!
»Tut mir leid.« Hektisch begann ich, meine Sachen einzusammeln. »Ist nicht meine Schuld, Frau Wondraschek, aber ich muss los.«
Ich kam mir vor wie ein Feigling, doch ich war nicht Timo, der die wütende Meike lässig an einer Hand aus dem Wohnzimmerfenster im sechsten Stock gehalten hätte.
»Schade.« Die Alte klang enttäuscht.
Ich stopfte die Töpfe in den Koffer. In meiner Aufregung gelang es mir nicht, die Schnallen zu schließen, also klemmte ich das lederne Ungetüm unter den Arm, drängte mich an der Wondraschek vorbei in den Flur und versuchte, mit dem Ellbogen die Klinke der Wohnungstür zu drücken. Es gelang mir erst im zweiten Anlauf, und als ich endlich im Hausflur stand, entglitt der Koffer meinen schweißnassen Händen und die Hälfte des Inhalts krachte scheppernd auf die harten Fliesen.
»Scheiße!«
Erneut begann ich, meine Sachen aufzuklauben. Die Alte stand in der Wohnungstür. Anstatt mir zu helfen, glotzte sie mich nur dämlich an. Das verstärkte meinen Ärger.
»BÄH!«, schrie ich und streckte ihr die Zunge raus.
Ich sah noch, wie sie erschrocken zurücktaumelte.
Dann rannte ich die Treppe hinab davon.
Wenig später saß ich zerknirscht daheim auf dem Sofa. So dicht hatte ich noch nie vor einem Verkauf gestanden, und dann dieser ärgerliche Rückschlag! Wieder keine Einnahmen!
Die Raten für das Haus waren fällig.
Ich musste etwas tun.
Also rief ich Ralf an, in dessen Auftrag ich schließlich unterwegs war. Er schien erfreut und erkundigte sich interessiert nach den Geschäften. Sachlich legte ich ihm dar, dass es zwar eine gewisse Verzögerung, ansonsten aber keinen Grund zur Besorgnis gebe, mein Businessplan sei bombenfest ausgearbeitet. Ich berichtete von familiären Problemen und bat um einen kleinen Vorschuss. Dieses Ansinnen wiederum schien mit Ralfs bombenfestem Businessplan zu kollidieren, denn er meinte unterkühlt, ich solle mich nicht so anstellen und einfach die Töpfe verkaufen wie alle anderen auch, worauf ich freundlich entgegnete, dass es nicht an mir liege. Vielmehr sei es so, dass die Attraktivität des Produktes (Topf) nicht mit der sympathischen Manpower des Verkäufers (Dirk) mithalten könne.
Ralf wurde ausfallend und schrie, schon vielen Idioten einen Job gegeben zu haben, doch ich sei der Erste, der nach sage und schreibe drei Wochen keinen einzigen Abschluss zustande gebracht habe. Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. Also reagierte ich in ähnlichem Duktus und legte ihm nahe, sich seine dämlichen Topfsets unter die Vorhaut zu massieren, worauf Ralf erwiderte, ich möge sie beruhigt in mein Gesäß schieben, da sie bereits mir gehörten. Die Rechnung, fügte er wutschnaubend hinzu, sei bereits mit der Post unterwegs und in drei Tagen fällig. Meine ihm zugedachten Segnungen, die in erster Linie mit schwer verlaufenden Krankheiten und diversen Verwachsungen im Unterleibsbereich zu tun hatten, erreichten ihren Adressaten nicht mehr, da dieser das Gespräch bereits abrupt beendet hatte.
Realistisch, wie ich nun einmal war, musste ich mir nach einer kritischen Analyse des Gesprächsverlaufs eingestehen, dass ich mein Ziel, einen finanziellen Vorschuss zu erwirken, insgesamt deutlich verfehlt hatte.
Das machte mich sauer.