Die Erklärung des Weltenmeisters beruhigte mich ein wenig. Es war früher Nachmittag, mir blieb eine knappe Stunde, bis ich Meino aus der Schule abholen musste. Ich wollte verhindern, dass der Junge etwas von meinen Problemen bemerkte, also beschloss ich, nach den Turbulenzen des Vormittags ein wenig an seiner Playstation zu entspannen.

Naturgemäß sollte jeder verantwortungsvolle Pädagoge modernen Computerspielen skeptisch gegenüberstehen, da diese Geräte die Entwicklung des natürlichen Sozial- und Kommunikationsverhaltens eines Jugendlichen auf das Empfindlichste hemmen. Doch für jemanden wie mich, einen Erwachsenen, der mit beiden Beinen fest im Leben stand, konnte diese Art der Zerstreuung ein angenehmer Zeitvertreib sein.

Ich ging in Meinos verwaistes Zimmer. Das Chaos früherer Tage war einer trostlosen Leere gewichen. Der braune Strunk, der tentakelhaft aus einem verstaubten Blumentopf auf dem Fensterbrett baumelte, erinnerte nur vage an die Begonie, die meiner Erinnerung nach dort gestanden hatte.

Ich startete die Konsole. Zwar hatte Meino mir eine eigenmächtige Nutzung strikt untersagt, aber da auch er sich nicht an alle von mir aufgestellten Regeln hielt, wähnte ich mich völlig zu Recht im Recht.

Die Festplatte erwachte surrend zum Leben. Der

Schlagartig war meine Stimmung im Keller.

Ich schaltete das Gerät aus und wieder ein.

Keine Besserung.

Ich zog den Netzstecker. Schaltete wieder ein.

Nichts.

Ich untersuchte die Kabel.

Nichts.

Prüfte die Anschlüsse.

Nichts. Es brodelte in mir.

Hatte sich denn die ganze Welt gegen mich verschworen? Die Liste der Intigranten wurde noch länger und erweiterte sich jetzt sogar um eine …

»… beschissene PLAYSTATION!«

Aus dem Wohnzimmer wurde mein Wutschrei von Karl-Heinz mit einem fragenden Winseln quittiert. Schnaubend hieb ich auf sämtliche Knöpfe des Controllers ein. Da sich auch jetzt keine funktionalen Verbesserungen einstellen wollten, warf ich das Gerät quer durchs Zimmer, was zur Folge hatte, dass es heftig gegen den Blumentopf prallte, der samt mumifizierten Inhalt ordnungsgemäß hinabstürzte und dumpf auf dem Teppich zerbarst.

Die entstandene Staubwolke war beträchtlich.

Das alles war extrem verdrießlich, doch ich registrierte verwundert und erfreut, dass ich durch diesen Ausbruch immerhin die Hälfte der angestauten Frustration verarbeitet hatte.

*

»Hallo Großer!«, rief ich betont fröhlich, um meine schlechte Laune zu überspielen. »Heute ist dein Glückstag, dein Vati holt dich ab!«

Er wuchtete seinen Ranzen auf den Rücksitz, bedachte mich mit einem teilnahmslosen Hallo und stieg ein. Um gar nicht erst Raum für Meinos wortkarge Miesepeterei aufkommen zu lassen, kam ich direkt zur Sache.

»Ich muss dir was ganz Tolles erzählen!« Ich ließ den Motor aufheulen, das Cabrio brauste los. »Neulich hast du ja bemängelt, dass ich nur rede und nichts mache. Da hast du recht gehabt. Doch damit ist Schluss. Denn jetzt«, ich legte ihm einen Arm um die Schulter, »gehe ich in die Politik.«

Er zeigte keinerlei Reaktion. Doch damit hatte ich gerechnet und erklärte ihm unverdrossen, dass die aktuellen Politiker stets nur an ihre eigenen Interessen dachten und aus Abhängigkeit, Angst und fehlender Vision fast immer die falschen, kleingeistigen Entscheidungen treffen würden.

»Dadurch«, rief ich und bremste hinter einem klapprigen Kleinbus, »lassen sich die Probleme nicht lösen!«

Ich gab Vollgas. Mit viel Geschick (und etwas Glück) gelang es mir, die trödelnde Rostlaube zu überholen.

»Zum Beispiel die Gleichberechtigung der Frau.« Ich hob die Stimme, um den Fahrtwind zu übertönen. »Klar, es gibt eine Menge Ideen, aber keine wird umgesetzt. Ich hingegen habe schon vor Jahren an der Freien Kreativschule eine gendergerechte Sprache gefordert und dafür

Meino bedachte mich mit einem angeödeten Blick. Schon vor Jahren, erklärte ich ihm, hatte die Schultheatergruppe unter meiner Leitung Prokowjews patriarchalisch verkrustete Kindersinfonie in der von mir persönlich aktualisierten Fassung als Petra und die Wölfin aufgeführt.

»Und auch deine Mutti habe ich in puncto Emanzipation unterstützt«, fuhr ich fort. »Ich habe sie als vollwertigen, gleichberechtigten Menschen akzeptiert. Primär habe ich sie nie als Frau gesehen, sondern als geachtete Kameradin. Auf Augenhöhe. Das gab ihr Selbstvertrauen.«

»Und deshalb hat sie sich dann von dir g-getrennt?«

»Genau.« Ich bremste scharf an einer roten Ampel. »Nur, weil sie so selbstbewusst ist, konnte sie sich überhaupt von mir trennen. Egal«, schmunzelte ich und gab ihm einen kumpelhaften Stups in die Seite. »Auf jeden Fall werde ich diesen ganzen politischen Laden jetzt mal so richtig aufmischen.«

Hinter uns hupte es. Ein Taxifahrer zeigte mir den Scheibenwischer und deutete wild gestikulierend auf die Ampel, die wieder auf Grün geschaltet war.

Ich fuhr an und wechselte das Thema. Um Meino nicht den Eindruck zu vermitteln, ich wolle die ganze Zeit nur über mich reden, hatte ich mir angewöhnt, mich auch nach seiner Befindlichkeit zu erkundigen.

»Und? Wie geht’s so bei dir?«

»Okay. Wie immer.«

Ich bremste vor dem Haus. Durch das angekippte Küchenfenster drang wildes Gekläffe auf die Straße. Karl-Heinz hatte unsere Ankunft bemerkt.

*

»Na ja«, sagte ich beiläufig. »Alles technisch noch nicht ausgereift, das moderne Zeug.«

*

Glücklich über die gemeinsam verbrachten Stunden fuhr ich Meino zurück nach Hause.

»Und?«, fragte ich. »Vertragen sich Mutti und der Neue?«

Es widerstrebte mir, den Namen auszusprechen.

»W-welcher … Neue

»Na … Arnulf.«

Als ich es tat, spürte ich einen Stich. Nicht einen, sondern tausend: in Magen, Milz, Nieren und sämtlichen akkupunktierbaren Körperteilen. Doch ich ließ mir nichts anmerken.

»G-geht so.«

»Geht so?« Ich hielt neben den Mülltonnen vor Arnulfs Haus. »Haben sie sich gestritten?«

Meino zuckte die Achseln, löste den Sicherheitsgurt und wollte aussteigen. Ich hielt ihn zurück.

»Worüber denn?«, insistierte ich.

»K-keine Ahnung«, wiegelte er ab und stieg aus. »Nur mal so eben.«

Meino schlurfte auf das niedrige Gartentor zu. Ich folgte ihm, um ihn zur Haustür zu begleiten.

»Schon gut, Vati«, winkte er ab. »Das musst du nicht machen.«

»Doch,« entgegnete ich gut gelaunt. »Deine Mutti und ich und auch Arnulf haben jetzt ein gutes Verhältnis. Da gehört es dazu, dass man mal kurz Hallo sagt.

Meino schob skeptisch die fleischige Unterlippe vor. Er wollte den Schlüssel ins Schloss stecken, da öffnete sich schon die Tür und Albina erschien. Sie bedachte mich mit einem überraschten Blick, bückte sich zu Meino und küsste ihn zur Begrüßung.

»Guten Abend, mein Schatz.«

»Ohhh! Kann ich auch einen?«, lachte ich und deutete auf meine Wange.

Albina zögerte, schaute zu Meino und gab mir einen flüchtigen Kuss.

»Hoho!«, johlte ich fröhlich.

Der vertraute Duft ihres Parfüms wehte mir entgegen. Offensichtlich wollte sie ausgehen, sie hatte sich geschminkt, trug ein enges schwarzes Kleid und Hackenschuhe.

»Schicker Anzug.« Albina musterte mich von oben bis unten. »Hätte nicht gedacht, dass du so was trägst. Macht dich zu ’nem ganz anderen Menschen.«

Ich hatte (offensichtlich zu Recht) gehofft, dass sich das beiläufige Tragen meiner neuen Dienstkleidung positiv auswirken würde.

»Ach so«, wiegelte ich ab. »Ist noch vom Dienst.«

Ich setzte an, um von meinem neuen Job zu berichten, doch Meino kam mir zuvor: »Vati geht jetzt in die P-P-Politik!«

»Stimmt.« Ich zerstrubbelte Meinos Haar. »Es war seine Idee«.

Albina sah mich noch immer an. In den letzten Jahren war das kaum noch geschehen, und wenn, war ihr Blick gereizt gewesen, herablassend oder im besten Falle gleichgültig. Jetzt hatte sich dieser Ausdruck geändert. Ich sah … Anerkennung.

Oder waren das Zweifel? Bereute sie ihre Entscheidung?

»Und du?«, fragte ich. »Wohin des Weges, schöne Frau?«

»Zum Italiener.«

»Allein?« Meine Augen weiteten sich betont erstaunt. »Ohne den«, ich reckte den Hals und sah über ihre Schulter zur offenen Haustür, »Herrn des Hauses?«

»Ich treffe mich mit meinen Mädels. Arnulf ist so nett und passt auf Meino auf.«

»Soll ich dich mitnehmen?« Ich deutete auf das Cabrio.

»Nicht nötig, danke. Ich hab … ach, da ist es schon.«

Ein Taxi bog um die Ecke. Albina umarmte Meino, zögerte kurz, gab mir etwas verlegen die Hand und ging davon. Meino winkte dem Taxi nach, ich tat es ebenfalls, und als wir uns umwandten, stand Arnulf in der Tür.

»Hey, altes Haus!« Ich breitete die Arme aus. »Alles frisch bei dir?«

»Hallo Dirk,« gab er trocken zurück und wandte sich an Meino: »Wie war dein Tag?«

»Eigentlich ganz okay.«

»Du gehst gar nicht mit Albina aus«, stellte ich fest.

»Ich hab was Besseres vor.« Arnulf zwinkerte Meino zu. »Wie wär’s mit ’nem Fernsehabend, Großer?«

Ich war nicht sicher, was mich mehr verwunderte: Meinos Grinsen oder seine ungewohnt flüssige Aussprache.

»Habt ihr euch wieder gestritten?«, fragte ich beiläufig.

Arnulfs Brauen hoben sich. »Wieso sollten wir?«

»Ach, nur so.«

Meino ignorierte meinen heimlichen verschwörerischen Blick, senkte den Kopf und schlurfte an Arnulf vorbei ins Haus.

»Früher«, ich sah ihm seufzend nach, »konnte ich mich Tag und Nacht um ihn kümmern. Aber das geht ja jetzt nicht mehr.«

»Keine Sorge, Meino geht’s gut. Und was Albina und mich betrifft …« Arnulf seufzte ebenfalls. »Du weißt doch, wie Albina sein kann. Wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hat, dann …«

Er nickte mir kumpelhaft lächelnd zu.

Irgendwo im Haus knallte eine Tür.

»Moment mal, Freundchen«, sagte ich sachlich. »Bloß, weil es zwischen euch beiden nicht mehr läuft, suchst du jetzt mich als Verbündeten gegen Albina?«

Arnulf riss verdattert die Augen auf.

»Nicht mit mir!«, fuhr ich fort. »Albina ist immer noch meine Frau! Für diese Spielchen von wegen«, ich wedelte mit den Händen, »Frauen sind nun mal so bin ich der Falsche!«

Ich machte auf dem Absatz kehrt.

»Ich bin Feminist!«, rief ich über die Schulter. »Frag Meino!«

Arnulf stand kopfschüttelnd in der Tür. Ich sprang in mein Cabrio.

»Schönen Abend noch alleine!«, brüllte ich ihm über den aufheulenden Motor zu und düste davon.