Die Sonne stand bereits tief über den Bäumen, als ich mit Karl-Heinz die abendliche Runde durch den Stadtwald drehte. In Gedanken war ich bei der Begegnung mit Arnulf und Albina, die zweifellos positiv verlaufen war. Ich hatte Arnulf die Grenzen aufgezeigt, und Albina?
Nun ja, sie hatte fast eindeutige Signale gesendet.
Karl-Heinz tippelte vor mir her, die Nase auf den mit Wurzeln überzogenen Weg gerichtet. An einer Gabelung bog er auf einen Pfad ab, der in den dichteren, mir unbekannten Teil des Waldes führte.
Warum nicht?, dachte ich und folgte dem sorglos schnüffelnden Hund.
Der Pfad führte zwischen uralten Kiefern bergauf. Die Kronen wiegten sich hoch über mir in der Dämmerung. Ich atmete die würzige, nach Harz und feuchter Erde duftende Luft, lauschte dem Zwitschern der Vögel. Trotzdem verspürte ich eine unangenehme innere Unruhe, doch es gelang mir nicht, den Grund zu finden.
Karl-Heinz verschwand kläffend im Unterholz. Gebüsch raschelte, während er hechelnd einer Maus – oder was immer seinen rudimentären Jagdtrieb geweckt haben mochte – folgte.
Ich blieb stehen, sah mich um und runzelte die Stirn.
Nur wenige Minuten konnten vergangen sein, trotzdem war es plötzlich überraschend dunkel. Eben noch war der Himmel klar, Mücken hatten in den Strahlen der untergehenden Sonne getanzt, doch jetzt hingen graue Wolkenschleier über den Bäumen, Nebel trieb in trägen Schwaden zwischen den knorrigen Stämmen.
Ich pfiff nach Karl-Heinz, um den Rückweg einzuschlagen.
Keine Reaktion.
Lauschend hob ich den Kopf. Kein Hecheln, kein Rascheln war zu hören. Nur das eintönige Rauschen der Bäume. Ich setzte zu einem weiteren Pfiff an, als mich ein heftiges Knacken hinter mir zuerst herumfahren und im nächsten Moment erstarren ließ.
Zehn Meter vor mir schwebte ein Gesicht zwischen den Bäumen, die Augen starr auf mich gerichtet, um Sekunden danach wie unsichtbar im Wald zu verschwinden. Es sah aus wie …
… Arnulf?
Ein eisiger Schauer durchzog mich. Wie versteinert schaute ich zu der Stelle, wo jetzt nur noch Laub und Äste zu sehen waren.
Kein Zweifel, das war er.
»Wuff!«, erklang es direkt hinter mir.
Mit einem erstickten Schrei wirbelte ich herum.
»Karl-Heinz?«
Etwas zerzaust kam er aus dem Gebüsch getappelt. Der Art, wie er mit schräg geneigtem Kopf aus spöttisch funkelnden Knopfaugen zu mir aufsah, entnahm ich, dass mein Anblick – ratlose, weit aufgerissene Augen und ein bedröppelt herunterhängender Unterkiefer – selbst auf Hunde einen ziemlich lächerlichen Eindruck zu machen schien.
Unwillkürlich musste ich lachen. Ein Zeichen, das ich als Ausdruck tiefster Verbundenheit mit meinem Dackel deutete, meinem – momentan zumindest – besten Freund.
Schnell hatte sich der Schreck gelegt. Mir wurde klar, dass ich mich wohl etwas zu intensiv in die Begegnung mit Arnulf hineingesteigert hatte, was bei einer empfindsamen Seele wie der meinen rasch zu einer kleinen vorabendlichen Halluzination führen konnte.
»Na komm.« Ich deutete zurück. »Ab nach Hause.«
Karl-Heinz trottete zufrieden voran. Ich folgte ihm in die zunehmende Dämmerung, die Augen auf das pelzige Hinterteil und den munter wippenden Stummelschwanz gerichtet. Der Nebel war stärker geworden, trieb in schmutzigen Schlieren träge über den Pfad.
Zweige knackten unter meinen Schritten. Aus der Ferne wehte der Schlag einer Kirchenglocke heran. Der einsame, traurige Klang lenkte meine Gedanken auf die Beerdigung der alten Wondraschek und ließ mich frösteln. Ich stieg über eine Wurzel, schlug den Jackettkragen hoch und stellte fest, dass die Gänsehaut auf meinen Armen einen weiteren, wesentlich triftigeren Grund hatte. Die Temperatur musste in den letzten Minuten beträchtlich gefallen sein. Und zwar so stark, dass mein Atem kondensierte und in Wölkchen in der Dunkelheit verschwand.
Ich beschleunigte meine Schritte. Stoppte abrupt, als mir bewusst wurde, dass Karl-Heinz wieder verschwunden war. Der Pfad schlängelte sich in einem langgestreckten Bogen zwischen den Kiefern, ich lief weiter, pfiff, doch Karl-Heinz reagierte nicht. Ich verfiel in einen lockeren Trab. Der Rückweg erschien mir plötzlich unverhältnismäßig lang, deutlich länger als der Hinweg. Hätte ich nicht längst wieder an der Weggabelung sein müssen, an der Karl-Heinz vorhin abgebogen war?
Mittlerweile war es äußerst düster, links und rechts unter den Bäumen stockdunkel, der Weg vor mir kaum mehr als ein fahler Schatten, doch dass ich die Gabelung übersehen hatte, war völlig ausgeschlossen. Jede Sekunde musste sie also auftauchen und dort, versuchte ich mich zu beruhigen, würde Karl-Heinz sicherlich auf mich warten.
Der Pfad wurde schmaler. Zweige schlugen mir ins Gesicht. Das, fiel mir ein, war auf dem Hinweg nicht der Fall gewesen. Schweiß brach mir aus. Hatte ich mich verlaufen? Aber wie konnte das …
Mein Handy vibrierte.
Ha! Die Rettung!
Doch die Nachricht verwirrte mich nur noch mehr:
Egal, wo du hingehst – kehre um!!!!
Das wollte ich. Es schien, als hätte ich die Kontrolle über meinen Körper verloren. Ohne, dass ich es steuern konnte, bewegten sich meine Beine schneller und immer schneller. Ich flog regelrecht durch den dichter werdenden Wald, knorrige Äste peitschten mir entgegen, als wollten sie nach mir greifen. Egal aber, wie schnell ich rannte, der Weg blieb unverändert, bildete den gleichen, schier endlosen Bogen.
Was ist hier los?
Laufe ich die ganze Zeit …
… im Kreis?
Das ist unmöglich!
Die verstörende Erkenntnis, das Unmögliche durch Logik nicht ausschließen zu können, legte sich wie ein kalter Film auf meine schweißnasse Haut. Ich hastete mit brennenden Lungen voran und erkannte – das war die Angst. Sie kam nicht vom Kopf, sondern fraß sich unaufhaltsam von außen durch die Haut, Zelle um Zelle durch den Körper in meinen Verstand.
Ich rannte durch die Dunkelheit.
Der Hund.
Wo war der Hund?
»Karl-Heinz!«
Ich schrie, dass mir der Rachen brannte.
»KARL-HEINZ!«
Weiter. Raus hier. Raus aus dem Wald. Egal, wohin.
»WO BIST …«
Da! Ein Licht!
Keuchend stolperte ich vorwärts, hielt mir die stechende Seite. Je näher ich kam, desto seltsamer erschien mir das Licht. Ein grünliches, fahles Schimmern, wie durch einen Filter. Eine Hülle, oder … Haut?
Menschliche Haut?
Ein nie dagewesenes Entsetzen packte mich. Es war Haut. Und dieser verschwommene Schemen, der mir den Weg versperrte, das war …
Unmöglich!
Direkt vor mir, ein paar Zentimeter über dem Boden, schwebte das Grauen. Der Abgrund. Das Ende.
Die alte Wondraschek.
Besser gesagt das, was von ihr übrig war. Sie trug den Kittel, den sie bei unserer letzten Begegnung angehabt hatte. Unter dem dünnen, geblümten Nylonstoff fluoreszierten die Umrisse ihres skelettartigen Körpers, auf dem knochigen Schädel türmten sich Lockenwickler aus rosafarbenem Plastik.
Der zahnlose Mund öffnete sich.
»Du … bist … schuld!«
Geisterhafte, von eisigem Hauch getragene Worte wehten mir entgegen.
Ich stieß einen spitzen Schrei aus, wankte zurück. Meine Knie wurden weich, nur mit äußerster Kraft konnte ich mich aufrecht halten.
»Nicht doch.« Meine Stimme versagte. »Ich …«
»Du … bist …«
Ein knochiger Zeigefinger schoss mir entgegen.
»… SCHULD!«
»Aber …« Panik flutete meinen Verstand. »Frau Wondraschek, bei …«, ich suchte verzweifelt nach Worten, »bei allem Verständnis für Ihre Situation. Juristisch gesehen habe ich mir nichts vorzuwerfen. Auch wenn …«
Ein Krächzen, das vermutlich ein höhnisches Lachen darstellen sollte, erscholl. Leere Augenhöhlen starrten mich an, fauliger Atem wehte mir ins Gesicht. An mangelnder Pflege der Zähne, schoss es mir absurderweise durch den Kopf, konnte das nicht liegen, schließlich waren keine da.
»SCHULD! BIST! DU!«
Die Gestalt wich zurück, begann zu pulsieren. Tentakel wuchsen aus dem Wondraschek’schen Zombierumpf, fünf, sechs, sieben Arme bildeten sich, die plötzlich ein komplettes Rosetti-Premium-Edelstahltopfset der Doktor Sorgenfrei GmbH in den knochigen Händen hielten. Töpfe, Pfannen und Fleischbräter funkelten über mir im fahlen Mondlicht, selbst den Polierschwamm erkannte ich.
Ein weiteres, höhnisches Krächzen erklang, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Scheppern, als die Untote begann, wie vom wilden Hans gebissen die Einzelteile der Garnitur gegeneinanderzuschlagen.
»SCHULD!«, kreischte es mir entgegen. »SCHULD! SCHULD! SCHULD!«
Die Pfannen schepperten im Rhythmus der Worte.
»Lass ab, Alte!«, schrie ich. »Du ruinierst die Beschichtung!«
Mein Fluchen ging im Krachen der Töpfe unter. Die Gestalt stieg höher, schwebte über mir in der Nacht, ein vielarmiges, glühendes Monster, das plötzlich begann, mit sämtlichen Küchengeräten auf mich einzudreschen. Ich duckte mich, schützte den Kopf mit den Armen, aber die Schläge prasselten unbarmherzig auf mich herab. Jetzt, so viel war klar, hatte mein letztes Stündlein geschlagen. Doch dann …
»Karl-Heinz!«
Der Dackel stürmte aus dem Gebüsch.
»Fass, mein Junge! Fass!«
Mit kühnem Sprung ging das gute Tier an die Kehle meiner Peinigerin.
»Mein Freund und Helfer!«, rief ich beseelt. »Mein Retter!«
Ach, welch mutigen, treuen Helden ich doch an meiner Seite wusste! Eine Welle der Rührung durchströmte mich, um im nächsten Moment nackter Panik zu weichen, als ich sah, dass sein Kampf vergebens war.
Mühelos riss sich das Wondraschek-Monstrum den tapferen Dackel vom Hals, reckte die Knochenarme und hielt ihn wie eine Trophäe in den Nachthimmel. Hilflos musste ich mit ansehen, wie Karl-Heinz in den knotigen Fingern zappelte, umgeben von Pfannen, Deckeln und Töpfen. Ein irres Gelächter hallte über die Bäume, die Gestalt flimmerte, löste sich auf und verschmolz mit der Dunkelheit.
Ich hörte ein letztes, ängstliches Winseln, dann war ich allein im finsteren Wald. Wie sollte ich dem Gefährten beistehen? Den Freund den Klauen der fürchterlichen Alten entreißen?
Alles vergebens. Alles vorbei.
Ich vergrub das Gesicht in den Händen, übermannt vom Schmerz über den Verlust des Kameraden und die unsachgemäße Nutzung der Kochutensilien. Schluchzend sank ich danieder auf die harte, staubige Erde, Tränen rannen mir aus dem Geäug, endlose Bäche der Trauer nässten meine Wangen, ein Sturzregen des Kummers ergoss sich über mein Antlitz, Meere, nein, Ozeane schwallten auf mein Gesicht, meinen Hals, schwappten über meine Nase, drohten mich zu ersticken und …