»Moin«, sagte der junge Mann, als wären wir alte Bekannte und schob sich schnaufend an mir vorbei. Wie selbstverständlich schleppte er zwei große Kisten in den Flur, rückte sein Basecape zurecht und wollte wieder hinaus.
»Bergfalk, guten Tag«, stellte ich mich betont förmlich vor und streckte ihm demonstrativ die Hand entgegen.
Er griff genervt zu, als würde ihn diese kleine Geste wichtige Arbeitszeit kosten und nuschelte etwas, das vermutlich Hallo, ich bin Björn und hab zu tun heißen sollte.
»Wohnst alleine hier«, brabbelte er – mehr zu sich selbst als zu mir – und hatte somit Frage und Antwort bereits zusammengefasst.
Dass er mich duzte, ärgerte mich. Noch mehr stieß mir auf, dass er mit seiner Feststellung richtiglag.
Um nicht als Alleinstehender mit finanziellen Nöten in einem zu großen Haus enttarnt zu werden, war ich zeitig aufgestanden und hatte die Wohnung auf Vordermann gebracht. Die Kisten mit den Topfsets hatte ich in Meinos leerem Zimmer gestapelt, die Küche gewischt und sogar ein paar Bilder aufgehängt.
Offensichtlich vergebens.
»Ich hole den Rest«, sagte Björn, »baue auf und richte alles ein. Um elf kommen die Kameras, und um zwölf fangen wir an zu drehen.«
Er zog die Jeans hoch und verschwand nach draußen. Hinter dem Cabrio parkte ein gelber Kleintransporter mit der Aufschrift HENGST-FILM auf der Motorhaube.
»Geht klar«, entgegnete ich so beiläufig wie möglich und schob sicherheitshalber noch ein lässiges wie immer nach.
In Wahrheit war es natürlich das erste Mal, dass ich ein Filmteam ins Haus ließ. Logisch, denn mit Albina wäre dies undenkbar gewesen. Dreihundertfünfzig Euro pro Tag; leichter konnte man sein Geld kaum verdienen. Doch dass man von den Mitarbeitern der Produktion dermaßen herablassend, fast schon pampig behandelt wurde, würde ich nicht auf mir sitzen lassen.
Björn schleppte weitere Kisten ins Haus, verteilte Stative im Wohnzimmer und begann, meterweise Kabel für die Scheinwerfer zu verlegen.
»Kaffee?«, fragte ich.
»Schwarz«, erwiderte er knapp, würdigte mich immerhin eines beinahe freundlichen Blickes.
Ich ging in die Küche, schloss die Tür hinter mir und beruhigte Karl-Heinz, der mir aufgeregt entgegenhüpfte. Als ich die Kaffeemaschine anmachte, fiel mein Blick auf mein Handy neben der Spüle: drei Anrufe in Abwesenheit, alle von meinem Chef.
Kein Wunder, es war halb elf. Vor einer halben Stunde hätte ich zum Dienst antreten müssen, Fröhlich wollte wissen, wo ich blieb. Doch heute würde das Institut ohne mich auskommen müssen.
Ich kochte mir einen Tee, nahm den Kaffee und ging ins Wohnzimmer. Björn war mit professioneller Akribie in seine Arbeit vertieft, ich stellte den Kaffee auf den Tisch und setzte mich entspannt auf die Sessellehne. Er bedankte sich und prüfte, wie sich die Schatten im mittlerweile hell erleuchteten Zimmer verteilten.
»Falls du dich fragst, warum ich das mache«, ich rührte in meinem Tee, »also die Locationvermietung und so. Es ist nicht wegen des Geldes.«
Björn sah zu mir herüber. »So?«
»Ich habe Filme schon immer geliebt«, erklärte ich. »Bis heute. Gute Filme natürlich. Früher war die Auswahl ja nicht so groß. Als kleiner Junge war ich regelmäßig im Kino und …«
»Sorry.« Björn stupste mich an, um zwischen mir und dem Sofa ein weiteres Kabel auszurollen. »Kann ich mal kurz?«
»Jedenfalls«, ich stand auf und machte Platz, »bekommt man mit der Zeit ein Auge für gute Filme. Und Licht«, ich setzte mich wieder, »ist das Wichtigste. Ziemlich beachtlich, was ihr für so ’ne Serie hier auffahrt.«
»Ich mach das alles nur wegen der Kohle.« Björn stand auf, streckte den Rücken und erklärte, dass er an der Filmhochschule studiere und etwas dazuverdienen müsse. »Aber der Kaffee«, er deutete auf die Tasse, »schmeckt besser als in der Mensa.«
Es klingelte. Als ich öffnete, standen die nächsten Kollegen vor der Tür, zwei kräftige Männer mit raspelkurz geschnittenem Haar.
»Hi!«, begrüßte ich die beiden. »Ihr müsst die Jungs von den Kameras sein, oder?«
Sie nickten mir freundlich zu, steuerten ins Wohnzimmer und setzten sich auf das Sofa.
»Na?«, fragte ich. »Ihr auch ’nen Kaffee? Der wurde gerade gelobt.«
Wieder nickten die beiden, also holte ich zwei weitere Tassen aus der Küche.
»Ich hab’s schon eurem Kollegen erzählt«, erklärte ich. »Ich bin Cineast. Aber gute Filme, also richtig gute, die haben’s immer schwerer auf dem Markt. Qualität allein reicht nun mal nicht aus, um …«
»Die verstehen dich nicht«, fuhr mir Björn schroff über den Mund.
»Ach.« Meine eben noch im Aufstieg befindliche Stimmungskurve fiel abrupt ab. »Rede ich vielleicht chinesisch?«
»Nee«, machte Björn mir klar. »Die Kameraden reden nur englisch. Oder russisch.«
»Pa Russkie?«, rief ich. »Otschen choroscho, ja panimaju! Menja sovud«, ich deutete auf mich, »Dirk! Dirk, äh … B.«[2]
Die zwei grinsten mich vom Sofa aus an.
»Kolja!«, sagte der linke.
»Wladimir!«, der rechte.
Ich wusste sofort, was zu tun war. Wieder lief ich in die Küche und kehrte mit einer halbvollen Wodkaflasche zurück, die somit den Lausitzer Kräuterschnaps um einige Monate überlebt hatte.
»Dawai!«, rief ich. »Nam nuzhno Wodka!«[3]
»Nam nuzh-na Wodka!«[4], verbesserte mich der, der sich als Wladimir vorgestellt hatte, lachend.
Mit einem Schlag war das Eis gebrochen. Die russischen Kollegen johlten enthusiastisch, während ich vier Gläser füllte.
»Na sdrowje!«[5]
Selbst Björn stieß grummelnd mit an und kippte mürrisch seinen Anteil hinunter.
Ein Bellen drang aus der Küche.
»Eto Karl-Heinz«, erklärte ich. Moi … äh, Wauwau!«[6], fügte ich hinzu, nachdem ich vergeblich nach dem passenden Wort gesucht hatte.
»Ah!«, nickte Wladimir. »Sobaka!«[7]
»V gorodje«, setzte ich die Konversation mit meinen neuen Freunden begeistert fort, »nachodiza mnogo Dostoprimeltschadjinosti!«[8]
Zum fröhlichen Gelächter schenkte ich eine zweite Runde ein, die ebenfalls beherzt oral verklappt wurde. Björn wirkte zwar deutlich lockerer als noch vor einer Stunde, war aber immer noch Stimmungsbremser genug, den Kollegen in gekonnt klingendem Englisch zu vermitteln, dass in fünfzehn Minuten Drehbeginn sei. Das dritte Glas musste ich deshalb allein trinken. Aber unverdrossen fröhlich.
»Mei inglisch is not so pörfekt hau mei russian. Sorry plies«, flötete ich in Richtung des verbissenen Fleißbienchens, »Mister Oberboss.«
Dass Björn auf meine harmlose Stichelei nicht reagierte, signalisierte mir, wieder einmal gewonnen zu haben. Diesen Sieg begoss ich mit einem weiteren Wodka.
Während Björn eine schwere Kamera auf ein Stativ hievte, kramte ich noch den ein oder anderen russischen Satz aus dem Gedächtnis. Wladimir und Kolja lauschten schmunzelnd, doch nach einigen Minuten verlor diese Belustigung ihren Reiz.
Logisch. Der Wodka war alle.
Ich schlenderte zur Küche.
»Für welche Serie dreht ihr eigentlich?«, rief ich, dann stoppte ich im Flur, denn mich überfiel ein im wahrsten Sinne des Wortes ernüchternder Gedanke. Keinerlei Destillat, das einen vernünftigen Fortgang des vormittäglichen Alkoholverzehrs ermöglicht hätte, war vorrätig.
Hilfe tat Not.
Ich schnappte mein Jackett, um Nachschub zu holen, als es abermals klingelte. Björn wollte öffnen, doch ich war schneller.
»Mooomentchen, Held der Arbeit!« Mit einem Ausfallschritt versperrte ich ihm den Weg. »Hier holt der Herr des Hauses die Stars noch persönlich ans Set!«
Ich öffnete.
Drei Frauen standen vor der Tür.
Ich salutierte. »Hereinspaziert!«
»Hallo«, stellte sich die erste vor, ein blasses, schwarz gekleidetes Mädchen mit einer schweren Ledertasche über der Schulter. »Ich bin Sabine, ich mache die Maske.«
Die anderen Damen drängten sich ins Haus, ohne Notiz von mir zu nehmen. Doch ich ließ mich nicht beirren. Nachdem ich Björn und seine russischen Kollegen weichgekocht hatte, würde es mir mit den Neuankömmlingen genauso gelingen.
»Macht’s euch gemütlich«, erklärte ich gut gelaunt. »Vati geht kurz einkaufen.«
Ich schloss die Haustür, holte gewohnheitsmäßig die Autoschlüssel aus dem Jackett und steuerte pfeifend auf das Cabrio zu. Im Laufen fiel mein Blick auf mein Fahrrad, das an der Mülltonne lehnte. Ich erinnerte mich des eben getrunkenen Alkohols, und obwohl ich mich hervorragend fühlte, beschloss ich, pflichtbewusst, wie ich nun einmal war, die Hände vom Steuer zu lassen.
»Kling, klingelingeling! Hier kommt mein Drahtesel!«
Ich hatte das Lied nicht mehr gehört, seit wir es in der Grundschule hatten lernen müssen. Unvermittelt war es mir wieder eingefallen, und so trällerte ich vor mich hin, während ich vom Parkplatz vor dem Supermarkt auf die Hauptstraße bog. Die Schnapsflaschen (ungeachtet meiner angespannten finanziellen Lage hatte ich sicherheitshalber zwei gekauft) klapperten hinter mir im Korb auf dem Gepäckträger.
»Wenn ich mit ihm durch die Straßen flitz! Wie der Blitz!«
Der Wodka und die frische Luft brachten meine Wangen zum Glühen. Seit Ewigkeiten, so kam es mir vor, war ich nicht mehr mit meinem guten alten Klapprad unterwegs gewesen. Ich fühlte mich frei und glücklich wie lange nicht.
»Kling, klingelingeling! Hier kommt mein Draaaahteeeesel!«
Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, und pling! – da meldete sich Weltenmeister. Im Fahren kramte ich das Handy hervor:
Erfolgreich wird man nicht, wenn man nur tut, was man mag.
Sondern, wenn man mag, was man tut!
Jede Betätigung, die dir Gewinn bringt, ist wertvoll!
Weltenmeister, stellte ich begeistert fest, war in jeder Situation der richtige Ratgeber. Verblüffend, wie schnell ich mich an ihn gewöhnt hatte! Ich akzeptierte ihn mittlerweile vollkommen. Nicht nur das – ich schätzte ihn als unbekannten Freund, als Instanz. Mehr noch, er war mein virtueller Gott. Die Erhabenheit dieses Wissens ließ mein Herz aufgehen. Vor Freude schossen mir Tränen in die Augen.
Ich radelte an den niedrigen Reihenhäusern entlang zu meinem Heim. Der gelbe Transporter parkte halb auf dem Bürgersteig, davor glänzte das schwarze Cabrio in der Sonne. Eine bullige Gestalt lehnte mit verschränkten Armen an der Motorhaube.
»Mensch, Timo!«, rief ich schon von weitem, als ich meinen früheren Kollegen erkannte. Wie lange war es jetzt her, dass wir mit unseren Topfsets um die Häuser gezogen waren? Jahre schienen vergangen zu sein!
»Wie geht’s, alte Granate?« Strahlend rollte ich auf ihn zu. »Was machen die Geschäfte?«
Timo kam mir entgegen.
»Echt cool, dich zu sehen!«, rief ich. »Erzähl mal, was …«
Etwas krachte mit voller Wucht in mein Gesicht.
Und alles wurde schwarz.
Als ich zu mir kam, wusste ich zunächst nicht, wo ich war. Mein Kopf dröhnte, Lichtpunkte flackerten vor meinen Augen. Schnapsgeruch stach mir in die Nase, Glasscherben blitzten in einer Wodkapfütze. Mein Fahrrad lag neben mir auf dem Bürgersteig. Das Hinterrad drehte sich noch, lange konnte ich also nicht ohnmächtig gewesen sein.
»Ralf hat dir ’ne Rechnung geschickt«, drohte eine tiefe Stimme über mir.
Blinzelnd hob ich den Kopf. Timo sah auf mich hinab, die massige Faust war noch immer geballt.
»Elftausendsechshundertsiebzig Ocken.«
Mühsam setzte ich mich auf, schirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne ab.
»Echt?«, nuschelte ich zwischen den schmerzenden Lippen hervor. »Da müsste ich mal in meinen Unterlagen nachsehen, wahrscheinlich ist da bei der Buchung was schief-«
Ich wurde unsanft am Kragen gepackt. Timo zerrte mich mit einem Ruck mühelos in die Höhe.
»Der Ralf«, brummte er, »ist ziemlich sauer.«
»Vom, äh … buchhalterischen Ablauf wäre es an ihm, mir eine schriftliche Mahnung zuzustellen«, schlug ich stammelnd vor, während mir Timos Zigarettenatem aus nächster Nähe ins Gesicht wehte. »Laut Gesetzgeber ist er verpflichtet …«
»Der Ralf«, knurrte Timo, »kennt nur ein Gesetz. Und das hier …«
RUMMS!
»… ist Paragraph eins.«
Wieder ging ich zu Boden. Schon bevor ich aufprallte, war mein linkes Auge zugeschwollen.
»Und?« Timos Pranke erschien verschwommen in meinem Gesichtsfeld, wedelte fordernd mit den behaarten Fingern. »Haste die Kohle?«
»Nicht vollumfänglich«, keuchte ich. »Aber im Laufe der Woche könnte ich zumindest eine Anzahlung …«
Ein weiterer Ruck, erneut zappelte ich hilflos an Timos ausgestrecktem Arm. Mit der freien Hand griff er in mein Jackett, holte zuerst das Handy hervor, warf es beiläufig ins Gebüsch, um danach die Autoschlüssel aus der Innentasche zu fischen.
Er trat einen Schritt zurück, musterte mich prüfend unter gesenkten Brauen. Als er die Hand hob, duckte ich mich in Erwartung eines weiteren Hiebes, aber Timo strich mein Jackett glatt und ordnete mir sorgfältig den Schlips.
»War nicht persönlich gemeint. Kennst mich doch.«
Er entriegelte das Cabrio, öffnete die Tür.
»Kriegst du vielleicht wieder, wenn die Kohle kommt«, sagte er und raste mit quietschenden Reifen davon.
Ich kniete auf dem Bürgersteig, tastete nach meinem Handy. Plötzlich hörte ich den vertrauten SMS-Ton und fand es links von mir unter den Zweigen einer Hecke.
HIER BIN ICH!
Mit tränenden Augen starrte ich auf das Display, sah mich irritiert um. Dass mich der Weltenmeister auch in dieser äußerst misslichen Situation irgendwie zu beobachten schien, störte mich in meiner Benommenheit nur sekundär.
Mühsam rappelte ich mich auf, rieb den stechenden Rücken. Als ich gebückt auf mein Haus zuhumpelte, hörte ich ein seltsames Quieken. Besorgt überkam mich der Gedanke, eine Gehirnerschütterung davongetragen zu haben. Ich klingelte, und Sabine, die Dame von der Maske, öffnete umgehend die Tür. Augenblicklich verstärkte sich das Quieken zu einem absurden Geheule, woraus ich schloss, dass die Geräusche keine Einbildung waren, sondern aus dem Haus drangen.
»Dreht ihr schon?«, presste ich hervor.
»Alter, dein Gesicht!«, strahlte mich die Maskenbildnerin an. »Absolut geil, das sieht total echt aus! Drehen wir heute was mit Zombies? Wer hat denn das geschminkt?«
Ich taumelte an ihr vorbei in den Flur. Ein spitzer Schrei drang aus dem Wohnzimmer, zu dem enervierenden Heulen gesellte sich ein rhythmisches Gerumpel.
»Was ist denn hier los?« Ich griff nach der Türklinke. »Ist da drinne Indianerangriff?«
»Warte mal«, hielt mich die Maskenbildnerin zurück. »Du kannst da noch nicht rein.«
»Warum?«
»Klingt, als würde Kolja gleich abspritzen.«
»Der will … was?«
Vor meinem geistigen Auge offenbarten sich plötzlich bizarre Zusammenhänge, während im Wohnzimmer das akustische Inferno mehr und mehr anschwoll.
»Sag mal, merkt ihr’s noch?«
Ruckartig riss ich die Tür auf.
Ein grunzendes Jaaaaa! sowie ein nicht minder verstörendes Nein! brandeten mir gleichzeitig entgegen, während ich entgeistert auf vier nackte, eng ineinander verschlungene Menschen starrte. Das brunftige Ja! ordnete ich dem verdatterten Kolja zu, das zornige Nein! stammte von Björn, der mich umgehend beschimpfte.
»Spinnst du?« Björn stand wutschnaubend hinter der Kamera. »Du kannst doch hier nicht einfach so reinlatschen! Ich fass es nicht, du hast die ganze Szene versaut!«
Kolja sah mich kopfschüttelnd an. Wladimirs erigierter Penis wies vorwurfsvoll in meine Richtung, als wolle er Koljas Anklage unterstützen.
»Versaut? Ich?!« Ich stieß ein hysterisches Lachen aus. »Das sagt der Richtige! Ihr veranstaltet hier den Ferkelkram! Ihr könnt doch hier im Wohnbereich nicht einfach so … drauflos koitieren!«
Die beiden Damen, die vorhin schweigend mit Sabine ins Haus gekommen waren, saßen nackt auf dem Sofa. Ich war dermaßen fassungslos, dass ich mich nur noch in abgehackten Wortgruppen zu artikulieren vermochte.
»Ich meine – ihr könnt doch hier – nicht tatsächlich – FICKEN! In – in – meiner guten Stube?«
»Deinetwegen«, blaffte Björn, »können wir die ganze Scheiße noch mal von vorn drehen!«
Kolja und Waldimiv sahen ratlos umher. Offensichtlich verstanden sie nicht. Da mein Russisch in dieser Ausnahmesituation an seine Grenzen stieß, ging ich in die Englischoffensive.
»Not … äh, ficking!« Ich wedelte mit den Armen. »Sometimes stops the Joke! Oder muss ich deutlicher werden?«
»Gerne«, erwiderte Björn trocken. »Bleib mal lieber beim Deutsch, Alter.«
»Also, irgendwann hört der Spaß auf!«, übersetzte ich. »Verstehste? Ich meine, ich hab … Kinder!«
»Na und?«, rief Björn. »Ich auch! Mann, HENGST-Film!? Denkst du, wir drehen Naturreportagen für Arte? Oder …«
»Jetzt reichts aber.« Eine der Damen stand auf, schob Björn resolut beiseite und kam mit wippendem Busen näher. »Mann, Mann, Mann.« Sie bedachte mich mit einem mütterlichen Blick. »Du siehst aus wie vom ICE überrollt. Tut’s dolle weh?«
Meine Wut implodierte, mit einem Schlag war mir zum Heulen. Ich nickte heftig, was das Dröhnen in meinem lädierten Kopf noch verstärkte.
»Guck mal in meiner Tasche, Jenny«, sagte sie über die Schulter zu ihrer Kollegin. »Da ist ’ne Packung IBU fünfhundert. Und bring ’n Glas Wasser mit. Danach«, sie deutete auf Wladimirs abklingende Erektion, »bläst du ihm einen, und wir machen weiter. Und du«, sie wandte sich wieder an mich, »nimmst jetzt ’ne schöne Tablette und legst dich ’n bisschen in die Heia.«
Jenny kam auf ihren unpraktisch hohen Schuhen herbeigestöckelt und brachte das Gewünschte. Während ich die Tablette gehorsam mit einem Schluck Wasser hinunterspülte, hörte ich, wie sie sich geräuschvoll an Waldimiv zu schaffen machte.
»Das ist alles doof gelaufen«, stammelte ich. »Sorry, tut mir echt leid. Die App meinte, das wäre ’ne gute Idee. Mit euch und so.«
»App?« Die Nackte neigte skeptisch den Kopf. »Was’n für ’ne App?«
»Kennst du bestimmt nicht«, winkte ich ab. »Der Weltenmeister.«
Sie hob eine Augenbraue.
»Der beobachtet mich quasi«, nuschelte ich. »Und sagt mir immer, was ich machen soll. Verstehste?«
»Klar«, nickte sie ernst. »Ich bin nicht sicher, ob Ibuprofen bei deiner Sorte Sorgen wirklich weiterhilft, aber ich denke«, sie nahm meinen Arm und führte mich in den Flur, »du legst dich erst mal schön hin und danach …«
Die Türklingel schrillte auf.
»Was’n jetzt noch los?« stöhnte ich, riss die Tür auf, um im nächsten Moment so heftig zurückzutaumeln, dass ich das Gleichgewicht verlor. Geistesgegenwärtig legte die nackte Dame ihren Arm um meine Schulter und hielt mich fest.
»Hallo Meike«, stammelte ich. »Schön, dass du mich so schnell besuchen kommst.«
»Er ist ’n bisschen durch den Wind«, erklärte die Nackte und tätschelte meine verschorfte Wange. »Aber das wird schon wieder.«
Meike sah mich mit großen Augen an, dann wanderte ihr Blick an mir vorbei in den Flur. Aus dem Wohnzimmer drangen wieder eindeutige Geräusche.
»Also, äh …« Ich leckte etwas Blut von der Oberlippe. »Ich weiß …«
Sie machte kehrt und rannte davon.
»Meike!«, rief ich ihr nach. »Es ist nicht das, wonach es aussieht!«
Doch sie war schon weg.