Ich wurde vom Klingeln an der Haustür geweckt. Als ich verschlafen öffnete, stand Norbert auf dem Treppenabsatz. Mein ehemaliger Kollege prallte zurück, als wäre ihm der Leibhaftige erschienen. Was, wie ich fand, nicht ganz abwegig war. Mein Äußeres hatte sich meiner inneren Wandlung angepasst.

»Was is?«, presste ich gereizt hervor.

Norbert starrte mich durch die randlose Brille an. Sein offener Mund bildete ein klaffendes Loch im Vollbart.

»Die Kohle ist immer noch nicht auf dem Konto«, erklärte er, nachdem er sich halbwegs gefangen hatte. »Einunddreißigtausendvierhundertzwölf Euro.«

Ein Frösteln kroch meine Arme hinauf, obwohl mir die Sonne direkt ins Gesicht schien.

»Ich hatte dir drei Wochen gegeben«, fuhr Norbert fort. »Das hat sich geändert.«

Kies knirschte hinter ihm auf der Straße. Ein Streifenwagen tauchte auf, fuhr im Schneckentempo vorbei. Der Polizist am Steuer war nur undeutlich zu erkennen, doch ich spürte, dass er mich direkt ansah.

Die wissen, dass ich bei der Wondraschek war. Die sind hinter mir her. Die kennen meinen Namen. Die werden mich …

»… und wenn das Geld dann nicht da ist … sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«

»Äh …« Ich zwinkerte verwirrt. »Worum geht’s …?«

Ein wütendes Kläffen drang aus der Küche, als wüsste Karl-Heinz, wer da vor der Tür stand. Der Streifenwagen verschwand hinter der Hecke des Nachbarhauses.

»Ich hätte dich schon längst anzeigen sollen«, sagte Norbert. »Ich hab’s nicht gemacht. Bisher jedenfalls. Also, du hast noch drei Tage.«

Er musterte mich einen Moment von Kopf bis Fuß.

»Sag mal«, fragte er dann unvermittelt, »brauchst du Hilfe?«

Ja!, dachte ich sofort.

Ich brauche jemanden, mit dem ich über alles reden kann. Jemanden, der mir Mut macht und kurz für mich da ist und mir irgendwie hilft, aus diesem ganzen Elend herauszukommen.

Ich kannte Norbert seit über zehn Jahren. Eine Sekunde lang spielte ich tatsächlich mit dem Gedanken, mich ihm zu offenbaren. Aber nein, diesen Triumph würde ich ihm nicht gönnen.

»Du hast mich völlig grundlos in die Scheiße geritten«, sagte ich leise. »Du und Constanze. Und jetzt willst du den Samariter spielen? Nee, Freundchen.« Ich schüttelte den Kopf. »So läuft das nicht. Du hast ein Schicksal zerstört, Norbert. Damit musst du jetzt leben.«

Ich ließ mein geschundenes Gesicht noch drei Sekunden auf ihn wirken, dann knallte ich ihm die Tür vor der Nase zu.

*

Zu Recht. Denn nicht immer bedarf es einer Keule. Manchmal führt – bei einem Diabetiker zum Beispiel – ein Quarkkeulchen zum gleichen Ergebnis.

 

Sei subtil! Arbeite geschickt! Melancholische Empathie ist Ballast! Weg damit! Trau dich, sei ein Arschloch! Die Menschen werden dich trotzdem lieben!

 

Warum?

Ganz einfach:

Es darf nur niemand merken.

*

An: puhvogel78@yahoo.de

 

(Kein Betreff)

 

Lieber Roland,

wir kennen uns schon lange. Du weißt, dass ich dich nicht nur als stellvertretenden Vorsitzenden unseres Vereins betrachte, sondern auch (und vor allem) als Freund.

Roland, ich muss dir heute ein paar Dinge anvertrauen. Dieser Schritt fällt mir sehr schwer, aber unser gemeinsames Projekt liegt mir so am Herzen, dass ich mich dazu gezwungen sehe.

In der Buchhaltung sind mir in letzter Zeit vermehrt Unregelmäßigkeiten aufgefallen. Nur durch Zufall wurde ich darauf aufmerksam. Ich wies Constanze mehrmals auf die Thematik hin, aber seltsamerweise wich sie mir immer aus.

Norbert hingegen hat mich bei mir zu Hause aufgesucht. Angeblich, um über die finanzielle Situation zu sprechen. Arglos bat ich ihn herein. Nach einem verzehrten Bier machte er mir auf dem Sofa jedoch eindeutige Avancen, die ich ganz klar als sexuell übergriffig deklarieren muss.

Es geht nicht um mich, Roland, ich kann mich schützen (obwohl mich Norbert übel zugerichtet hat, siehe Foto im Anhang). Doch was ist mit all den hilflosen Schülerinnen und Schülern, die ihm anvertraut sind?

Ob beide Vorfälle im Zusammenhang stehen, kann ich nur vermuten. Aber wie du weißt, wurde ich wenige Tage später suspendiert. Ich glaube, mehr muss ich nicht erklären. Es steht zu befürchten, dass unser

Es liegt mir fern, jemanden zu verdächtigen, doch wenn zwei Mitglieder des Vorstands versuchen, mich unter Druck zu setzen und mit willkürlichen Argumenten mundtot zu machen, müssten dann nicht überall die Alarmglocken angehen?

Ich hoffe natürlich von ganzem Herzen, dass sich alles positiv aufklärt.

Dein Dirk

*

Ich schickte die Mail ab, schloss den Laptop und lehnte mich zufrieden zurück. Norbert hatte mir die Pistole auf die Brust gesetzt, doch ich hatte den Rat des Weltenmeister befolgt und mich anstelle einer Kanonenkugel mit ein paar Mausklicks verteidigt.

Ich ging zum Fenster, sah auf die Straße. Weit und breit kein Streifenwagen. Logisch, das war eine Routinefahrt gewesen, mehr nicht. Man konnte sich Probleme auch einbilden.

Und die dreißigtausend Euro?

Keine Frage, dieses Problem war real, doch ich war sicher: Der Tag würde kommen, an dem ich laut darüber lachen würde.

Jetzt konnte ich schon mal leise schmunzeln.