»Ach komm, das wird bestimmt lustig«, schmunzelte ich.
Meino stand missmutig neben mir an der Zookasse und starrte durch seine dicken Brillengläser ins Leere. Sein Atem ging schwer, die wenigen Meter von der Straßenbahnhaltestelle bis zum Eingang hatten ihn etwas aus der Puste gebracht.
»Ich hab k-keinen …«
»Ja?«
»B-B-B … Bock«, presste Meino hervor.
Dass mein neunjähriger Sohn den komplizierten Plosivlaut bereits im vierten Anlauf hervorbrachte, freute mich. Die wöchentlichen Besuche beim Sprachtherapeuten zeigten mehr und mehr Wirkung, sein Stottern besserte sich.
»Toll«, lobte ich ihn.
Ich streifte ihm die Kapuze über den Kopf und ging voraus in Richtung Affenhaus. Es war das erste Mal, dass wir uns nach Albinas rüdem Abgang vor einer knappen Woche wiedersahen. Ich war ein wenig aufgeregt, doch der Zoobesuch war eine gute Wahl. Ich mochte es nicht, diese eingesperrten Kreaturen zu beglotzen, während Meino Tiere im Allgemeinen nicht leiden konnte. Eine Abneigung, die uns verband und durch den Nieselregen noch verstärkt wurde.
Er trottete in zwei Metern Abstand hinter mir her und beschwerte sich, was wir überhaupt hier wollten, schließlich würden wir es beide b-b-beschissen finden. Ich wies darauf hin, dass wir nun mal eine Jahreskarte hätten.
»Zurzeit haben wir gerade mal zweiundsiebzig Prozent des Guthabens aufgebraucht. Da ist noch Luft nach oben, Meino.«
Damit beendete ich die Diskussion. Kinder brauchen klare Entscheidungen, das hatte ich bei einem freiwilligen Pädagogik-Aufbaukurs während meines Studiums gelernt. Natürlich war ich weit davon entfernt, theoretische Muster aus dem Bildungsbereich beim eigenen Kind anzuwenden, da verließ ich mich selbstverständlich auf Intuition und Bauchgefühl.
»Was meinste?« Ich deutete durch den Regen zum Spielplatz neben dem Elefantenhaus. »Willst du ’n bisschen rutschen?«
Anstelle einer Antwort verdrehte Meino die Augen.
»Also bei mir«, sagte ich, um das Gespräch in Gang zu bringen, »war heute ’ne Menge Trubel. Ich hab mit meinen Kids draußen das Baumhaus weitergebaut, hinten am Fußballfeld. Gernot Seibt aus der Dritten hat sich mit dem Hammer voll auf den Daumen gekloppt. Da war vielleicht was los.«
Meino vergrub die Hände im Anorak, kickte stumm einen Kieselstein vor sich her.
Natürlich hatte ich vor zwei Jahren darauf gedrungen, dass er auf meine Schule gehen sollte. Doch Albina hatte sich nicht auf Diskussionen eingelassen. Niemals, hatte sie kategorisch erklärt, würde ihr Sohn auf eine Freie Kreativschule gehen (aus ihrem Mund hatte der Name wie eine terroristische Vereinigung geklungen).
»Und?«, fragte ich beiläufig. »Wie ist der so, der Arnulf?«
Das tat ich natürlich nicht, um Meino auszuhorchen. Ich war neugierig, mehr nicht.
»Der ist k-k …«
»Kompliziert?« half ich.
»Nee. K-k-k …«
»Kafkaesk?«
Meino schüttelte den Kopf, konzentrierte sich.
»K-k …«
»Ja?«
»K-k-klasse.«
»Mmmmmh.«
Als Vater und ausgebildeter Pädagoge billigte ich meinem Sohn natürlich ein eigenes Urteil zu, auch wenn es mehrerer Anläufe bedurfte. Für Meinos Stottern, hatte der Sprachtherapeut erklärt, gab es keine körperlichen Ursachen, was mich in der Vermutung bestärkte, dass der Grund bei Albina lag. Meinos Mutter redete so viel, dass einfach nicht genug für ihn übrigblieb. Bildlich gesprochen hieß das, dass er sich die wenigen übrig gebliebenen Worte gut einteilen musste.
Arnulf, erklärte Meino, hätte eine Menge K-Kohle. »Und ’ne ganz normale F-Frisur.«
Unwillkürlich griff ich in den Nacken. Ich trug den Zopf seit über zwanzig Jahren. Noch nie hatte sich jemand darüber beschwert. Auch Albina nicht. Im Gegenteil, als wir uns kennenlernten, hatte sie ihn richtig süß gefunden.
Sein neues Zimmer, fuhr Meino indessen fort und goss damit weiter Salz in die Wunde, sei viel größer als das alte, Arnulfs Haus auch, das habe sogar einen P-P-Pool, und wenn Meino groß wäre, würde er dasselbe machen wie Arnulf.
»Und was«, fragte ich, »wäre das?«
Wir hatten das Affenhaus erreicht.
»F-F-F …«
Ich riss die Tür etwas zu heftig auf, so dass sie krachend gegen die holzverkleidete Fassade prallte. Meino zuckte zusammen.
»Finanzberater«, stieß er hervor.
»Wirklich?!«
Er nickte so heftig, dass das Regenwasser von der Brille tropfte.
Mein Sohn, ein … Finanzfuzzi?
Das war das Letzte, was ich mir vorstellen wollte!
Genügte es nicht, dass dieser … Arnulf mein Weib umgarnt hatte? Musste er auch noch eine unschuldige Kinderseele manipulieren?
Über Jahre hatte ich Meino tagtäglich die Prinzipien eines vernünftigen und sozialen Miteinanders vorgelebt, doch wenige Tage destruktiven pädagogischen Einflusses genügten, und der Junge war nur noch auf Geld und Besitz fixiert!
Ich erklärte Meino, dass er natürlich alles werden könne, wozu er Lust habe. Allerdings, fügte ich motivierend hinzu, sei es durchaus förderlich, einen Beruf korrekt aussprechen zu können, bevor man ihn ergreife.
Wir betraten das Affenhaus, und Meino beschwerte sich umgehend über den Gestank. Das, erwiderte ich, sei nun einmal die einzige Möglichkeit für diese bedauernswerten Tiere, sich zu wehren.
»Affen bestehen zu neunundneunzig Prozent aus den gleichen genetischen Bausteinen wie du und ich. Aus ethischer Sicht ist es absolut unvertretbar, diese Lebewesen zur Belustigung des Publikums in Käfige zu pferchen.«
Meino stand tropfend da und sah dumpf durch die beschlagene Brille zu mir auf. Ich spürte, dass meine kritischen Fragen ihn zermürbt hatten, und empfand es als väterliche Pflicht, den Jungen wieder aufzubauen. Glücklicherweise verfügte ich als Sozialpädagoge über ausreichend Erfahrung und Talent, selbst etwas langweiliges wie einen Zoobesuch durch unkonventionelle Maßnahmen zu einem tollen Erlebnis zu machen.
»Guck mal!«
Ich deutete auf ein besonders unattraktives Schimpansenweibchen und schnitt ein paar Grimassen, worauf Meinos Laune sich schlagartig verbesserte. Gemeinsam machten wir uns lustig, klopften an die Scheibe des Gorillageheges, intensivierten unsere Grimassen und Verrenkungen, während die Affen immer aufgeregter wurden, bis ein offensichtlich spaßbefreiter Zoobeamter unserem fröhlichen Treiben barsch ein Ende setzte.
Lachend über unseren gelungenen Streich schlenderten wir gemeinsam zum Imbissstand, wo ich Meino eine Currywurst mit doppelter Portion Pommes spendierte. Albina achtete strikt auf Meinos Ernährung (was in Anbetracht seines Übergewichts durchaus angebracht war), doch meine Aufgabe als Vater war es, dem Jungen zu zeigen, dass es auch Ausnahmen von strengen Regeln gibt.
»Unter uns Männern läuft’s eben anders«, blinzelte ich ihm zu. »Kein Wort zu Mutti, abgemacht?«
Wir liefen zum Ausgang, wo ich Albina in einiger Entfernung in einem großen SUV warten sah. Als wir uns verabschiedeten, zwinkerte mir Meino verschwörerisch zu, und zum ersten Mal seit Tagen ging mir das Herz auf.
Die Freude währte allerdings nur kurz, denn als ich nach Hause kam, erwartete mich eine böse Überraschung.
Das Haus war so gut wie leergeräumt.
Das, was Albina als meine Sachen bezeichnet hatte, erwies sich als beinahe die komplette Einrichtung. Das Sofa und die beiden Ledersessel waren weg. Auch das komplette Schlafzimmer. Immerhin, der Gummibaum stand noch in der Ecke, doch der Plattenspieler war verschwunden. Ebenso die meisten Bilder. Das war nicht weiter schlimm, aber die sieben hellen Rechtecke auf der Raufasertapete störten mich. Nur das Hochzeitsfoto hing noch neben der gerahmten Urkunde mit meiner Ernennung zum staatlich anerkannten Erzieher; beides hatte Albina verschmäht.
Ich hängte das Foto ab, wodurch sich die Rechtecke auf acht erhöhten (ebenfalls nicht optimal, doch besser als eine ungerade Zahl), holte einen Stuhl aus der Küche und setzte mich ins Wohnzimmer.
Was für eine Frechheit!
Der Regen wurde stärker, prasselte gegen die Fenster.
Albina wusste um meinen Gerechtigkeitssinn. Sie hatte mich ausgespielt, und zwar, wie an den hässlichen Schuhabdrücken von Arnulf und seinen Helfershelfern auf meinem hellen Spannteppich zu erkennen war, bar jeder Rücksicht!
Ach, dachte ich und betrachtete die verschmutzte Auslegware, dieser Teppich und ich, wir beide liegen am Boden.
Mein Telefon vibrierte.
Und wenn jemand am Boden liegt, trampeln alle auf ihm herum!
Ich musste lachen.
Weltenmeister steht dir bei ☺
… las ich weiter und erschrak. Stirnrunzelnd sah ich mich um. Erlaubte sich Albina oder sonst wer einen bösen Scherz? Beobachtete mich jemand?
Was war das für ein kranker Quatsch?