Ritter Bodo
Der Fluss, der durch das Tal rauschte, die vielen großen und kleinen, im Lauf der Jahrtausende vom sprudelnden Wasser glatt geschliffenen Steine, über die hin und wieder Forellen sprangen. Links lag der Hexentanzplatz, rechts die Rosstrappe. Beides keine sehr hohen, aber sehr felsige, im Sommer grün, im Herbst in vielen Farben leuchtende Berge. Lisa und Elsie bestanden Mutproben, indem sie den Fluss – Bode hieß er – von Stein zu Stein springend überquerten. Elsie war darin Meisterin, aber auch Lisa hatte kräftige Beine und viel Mut. Der weißblonde, ebenfalls sehr flinke, ewig lachende Karl wusste lange nicht, welches der beiden Mädchen er mehr bewundern sollte.
Ein Ferienparadies für viele Berliner, Hamburger und Hannoveraner, dieser kleine Ort Thale im Harz. Einziger Schönheitsfehler: das Eisenhüttenwerk. Seit dem 17. Jahrhundert wurden hier Stahl und Blech verarbeitet; große Werkhallen und hohe, ewig qualmende Schornsteine störten die Idylle.
Aber auch eine Sage gehörte zu dieser Stadt; Lisa hatte sie früh zu hören bekommen. Es war die Geschichte von Brunhilde und Bodo.
Hoch zu Ross hatte er die schöne Prinzessin Brunhilde verfolgt, der kühne Ritter Bodo. Durch den ganzen Harz ging die Jagd, bis beide auf dem Berg, der nun Rosstrappe hieß, angelangt waren und vor ihnen das Bodetal lag. In ihrer Verzweiflung gab die Prinzessin ihrem Pferd die Sporen und flog mit ihm über das gesamte Tal hinweg zum Hexentanzplatz hinüber. Der verliebte Ritter wollte es ihr nachtun, auch sein Ross stemmte sich mächtig gegen den Felsen, als es zum Absprung ansetzte. Doch sprang es nicht weit genug, Ritter und Ross fanden in der Bode den Tod. Beweis für den Wahrheitsgehalt dieser Sage: die hufeisenförmige Einkerbung im Felsen, die »Rosstrappe«, die Brunhildes Ross hinterlassen hatte und dem Berg seinen Namen gab. Und dass der Fluss Bode hieß, wie sollte das nicht mit dem Ritter Bodo zu tun haben?
Lisa war nicht dumm, sie wusste, eine Sage war nur eine Art Märchen. Auch hatte sie nicht übersehen, dass die »Rosstrappe« viel zu groß für einen Pferdehuf war. Doch machte es ihr Spaß, sich diese Geschichte vorzustellen und mit ihrer eigenen Fantasie anzureichern. Im Gegensatz zu Elsie jedoch, die es stolz machte, dass die Prinzessin ihrem Verfolger mit einem so kühnen Sprung entkommen war, verspürte sie Mitleid mit Bodo. Es war Brunhildes gutes Recht zu fliehen, wenn ein Ritter, den sie nicht liebte, sie verfolgte – aber der arme Bodo? Was für ein grausamer Tod! Und konnte er denn etwas dafür, dass er die Prinzessin liebte? Über die Liebe konnte niemand selbst bestimmen; der war man, wie die Mutter sagte, hilflos ausgeliefert. Und vielleicht war dieser Bodo ja gar kein schlechter Kerl und Brunhilde nur eine dumme, eingebildete Pute gewesen.
Oft brachte sie diese Geschichte zu einem guten Ende: Ritter Bodo und sein Pferd überleben den Sturz – ertrinken hätten sie in der flachen Bode ja ohnehin nicht können – und die Verfolgungsjagd geht weiter. Und am Mailaubenkopf oder an der Viktorshöhe hat Bodo die ängstliche Brunhilde endlich eingeholt. Er fällt ihr zu Füßen, legt beide Hände aufs Herz und schwört ihr, sie immer zu lieben und ihr nie etwas Böses zu tun, wenn sie bereit ist, seine Frau zu werden.
Die Prinzessin sieht den liebeskranken Mann lange an, bemerkt, dass er eigentlich ein ganz hübscher Kerl ist und – noch wichtiger! – gute, warme Augen hat. Und nun schämt sie sich ihrer Furcht. Bereitwillig gibt sie ihm ihr Jawort, auf einer großen Burg wird eine prächtige Hochzeit gefeiert und die beiden bleiben ineinander verliebt bis an ihr Ende.
So war es richtig, so musste es sein: Die beiden sollten glücklich miteinander werden! Es war nicht schön, wenn Liebende einander nicht bekamen.
Eine andere, wahre, eher lustig klingende Geschichte, die ebenfalls wie eine Sage von Mund zu Mund ging, hatte mit Lisas Familie zu tun. Leider war das eine Geschichte, für die Lisa sich lange schämte.
Ihr Großvater, der Fleischermeister Johannes Gerber, hatte eines Tages die Idee, einen Wettbewerb im Bockwurstessen ins Leben zu rufen. Wer die meisten Würste verdrückte, sollte mit einem halben Schwein belohnt werden. Eine Werbemaßnahme, die er sich ausgedacht hatte, um neue Kunden zu gewinnen. Doch wollte der Großvater in Wahrheit kein halbes Schwein opfern. Der große, kräftige Mann mit dem Kaiser-Wilhelm-Schnauzer unter der riesigen, blauroten Nase, dessen Foto Lisa nicht ansehen konnte, ohne sich zu genieren, war überzeugt davon, selbst die Siegespalme zu erringen.
Zwölf gestandene Männer fanden sich bereit, den Kampf um das halbe Schwein aufzunehmen. Doch hatten sie sich ein solches Wettfressen wohl leichter vorgestellt, schon nach sieben, acht Würsten schieden die ersten mit blassen Gesichtern aus. Andere bekamen das Dutzend nicht voll. Allein der Paul Giesecke machte dem Großvater noch Konkurrenz. Er hatte sieben Kinder zu ernähren, das halbe Schwein erschien ihm jeden Einsatz wert. So fraßen die beiden Männer weiter, bis auch der Giesecke nicht mehr konnte. Traurig sah er den Berg Würste an, der aufgeschichtet auf dem Tisch der Stammkneipe der Männer lag, dann rannte er aufs Klo und übergab sich.
Der Großvater, so wurde erzählt, strahlte über seinen Sieg wie die liebe Sonne und biss noch einmal ab, um allen zu zeigen, mit welch deutlicher Überlegenheit er das Wettfressen gewonnen hatte. In der gleichen Sekunde rang er nach Luft, lief blau an – und fiel tot um. Sein zuvor offenbar schon sehr angegriffenes Herz habe ausgesetzt, und schuld daran sei der übervolle, bereits sehr ausgeweitete Magen gewesen, der auf sein Herz drückte, wie der rasch herbeigerufene Arzt vermutete.
Eine schauderhaft blöde Geschichte, mit der Lisa und der Rest der Familie leben mussten. Etwas Gutes allerdings hatte dieser Tod: Nach jener »Bockwurst-Vergiftung«, über die ganz Thale sich lustig machte, hatte Lisas Vater – damals noch ein sehr junger Mann – es abgelehnt, Großvaters Fleischerei zu übernehmen. Er überließ das Hantieren mit halben Schweinen, ganzen Hammeln, Rinderstücken und Würsten seinem jüngeren Bruder Emil und wurde Kontorist im Eisenhüttenwerk. Auf diese Weise für sich selbst unter diese Geschichte einen Schlusspunkt setzend.
Lisa gelang das nicht. Immer wieder sah sie die Würste fressenden Männer vor sich, sah sie sich die prallen Wänste halten und den Paul Giesecke, inzwischen ein alter Mann und zigfacher Großvater, sich auf dem Kneipenklo übergeben. Und sie sah den Großvater, obwohl sie ihn nur von Fotos her kannte, die Augen aufreißen, nach Luft schnappen und tot umfallen. Ein Tod, der auf dem Namen Gerber lastete wie ein Fluch.
Lisa war das älteste der vier Gerber-Kinder. Vier Jahre nach ihr kam Schwester Hilde, weitere drei Jahre später Bruder Heinz und im Jahr darauf auch noch die kleine Margarete, von allen nur Grit genannt, zur Welt.
Doch war es kein Privileg, die älteste Tochter zu sein. Gab es im Haushalt etwas zu tun, wen winkte die Mutter heran? Wer musste sich ewig und drei Tage um die jüngeren Geschwister kümmern, Windeln wechseln, Brei kochen und Einkäufe erledigen? Natürlich die tüchtige und dafür oft gelobte Lisa.
Zum Glück machte es ihr nichts aus, zuzupacken. Ihre Fantasien waren das eine; die Wirklichkeit, die dem Menschen einen festen Boden unter den Füßen abverlangte, wie die Mutter ihr früh beigebracht hatte, ließ sich damit nicht verdrängen. »Wer immer nur zum Mond hoch schaut«, so ihre Überzeugung, »fällt über den klitzekleinsten Stein.«
Der Vater, der in seiner Freizeit hin und wieder Gedichte schrieb, sah das anders. »Wer ständig nur zu Boden blickt«, gab er zurück, wenn die Mutter so redete, »wird nie einen Stern sehen. Man muss mit erhobenem Haupt durchs Leben gehen.«
Lisa glaubte, dass beide recht hatten. Jeder auf seine Art. Sie wollte auf keinen Stern verzichten, aber auch nicht über dumm im Wege liegende Steine stolpern.
Die Mutter war gegen alle »Flausen im Kopf« – was sicher richtig war –, der Vater wollte seinen Kindern »Mut zum Leben« machen. Und auch das konnte nicht falsch sein. Lisa war vier Jahre alt, da hob er sie eines Tages hoch und setzte sie auf den Kleiderschrank. Und dann breitete er beide Arme aus und rief ihr zu: »Spring!« Und da zögerte sie keine Sekunde und sprang und er fing sie auf und lachte stolz, und sie lachte mit, obwohl sie anfangs große Angst gehabt hatte.
Erziehungsmethoden, über die die Mutter nur den Kopf schütteln konnte. »Wenn einen jemand auffängt, ist es leicht, mutig zu sein«, schimpfte sie. »Aber was, wenn man sich täuscht, weil einer nur so getan hat, als würde er die Arme ausbreiten?«
Ein Fremder hätte denken können, die Eltern seien viel zu unterschiedlich, um gut miteinander auskommen zu können. Doch das stimmte nicht, denn ernsthaft stritten sie nie. Dazu liebten sie sich zu sehr. Auch hatten sie viele Widerstände überwinden müssen, um einander endlich doch noch zu bekommen. Zu verdanken hatte der Vater das ganz allein der Mutter.
Charlotte Gerbers Vater, der Hüttenwerker Herrmann Hegen, ein knorriger Mann und überzeugter Sozialdemokrat, hatte einen ebenfalls sozialdemokratisch denkenden, jungen Kollegen zu seinem Schwiegersohn machen wollen. Sogar als sein von ihm über alles geliebtes Lottchen schon schwanger war von ihrem Fritz, hatte er noch versucht, ihr den jungen Schmied aus dem Hüttenwerk ein- und den Sohn vom »Bockwurst-Fresser« auszureden.
»Lieber einen Bankert in der Familie als so eine armselige Krämerseele«, soll er geschimpft haben.
Die Mutter aber hatte ihre Ohren auf Durchzug gestellt und während all der Vorhaltungen und Überredungsversuche ihres Vaters nur stumm in sich hineingelächelt. Niemand, das sollte dieses Lächeln besagen, würde es schaffen, ihr ihren Fritz aus dem Herz zu reißen. Ein Wettstreit in Sturheit entbrannte und zog sich über das ganze Frühjahr und den gesamten Sommer hin. Erst im September, einen Monat vor ihrer Niederkunft, gab ihr Vater nach. »Na gut!«, schimpfte er. »Wenn du unbedingt ins Kleinbürgertum absteigen willst, dann tu’s. Aber sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
Die Hochzeit wurde gefeiert und der Brautvater ertrug Zeremonie und Feier nur zähneknirschend. Aber die Braut, bereits im neunten Monat, war glücklich. Gegen den stursten Mann der ganzen Stadt hatte sie sich durchgesetzt. Doch sollten nur wenige Tage vergehen, bis Herrmann Hegen allen Zorn vergaß, denn da war seine Enkeltochter zur Welt gekommen. Das hübscheste Baby weit und breit, wie der frischgebackene Großvater voller Stolz im Hüttenwerk herumprahlte. Sogar seinen kleinbürgerlichen Schwiegersohn, über den er zuvor oft gelästert hatte, dass der nichts anderes könne als Tintenfässer stemmen und arglose Mädchen ins Gebüsch zerren, sah der strenge Sozialdemokrat Herrmann Hegen fortan mit anderen Augen. Wer ihm eine solch prächtige Enkeltochter beschert hatte, irgendwie musste der doch ein ganz brauchbarer Kerl sein.
Lisa hörte sie gern, diese alten Geschichten. Ihr Wunsch war, zu werden wie ihre Mutter. Ihr dichtes, dunkelblondes Haar hatte sie bereits geerbt, alles andere würde schon noch kommen.
Die kleine Grit war gerade ein halbes Jahr alt, da begann der Krieg. Nicht viel später hörte Lisa, wie die Mutter, die den ganzen Tag schon mit bleichem, sorgenvollem Gesicht herumgelaufen war, eines Abends laut und aufgeregt auf den Vater einsprach.
Der Vater versuchte, sie zu beruhigen, doch gelang ihm das nicht. Es fielen die Worte: »Und wenn du nicht wiederkommst?«
Die Mutter hatte das gesagt. Der Vater wiegelte weiter ab: »Aber wieso denn nicht? Der Krieg ist ja sicher Weihnachten schon vorüber.«
Sie sprachen in der Schlafstube miteinander, Lisa stand im Flur und wusste Bescheid: Der Einberufungsbefehl war gekommen! Der Vater musste Soldat werden und in den Krieg ziehen wie so viele andere Männer auch.
Tags darauf erfuhren es auch die Kinder. Der Vater sprach, die Mutter saß still dabei und starrte auf ihre Hände. Hilde und Heinz wussten nicht, wie sie die Botschaft aufnehmen sollten. Sie waren noch zu klein, lachten sogar, als der Vater Witze über die Uniform riss, die er dann tragen musste.
Lisa wollte es nicht glauben: Ihr friedlicher, schmaler, Gedichte schreibender Vater – ein Soldat? Das passte doch gar nicht zu ihm. Und warum konnte er sich denn nicht dagegen wehren, Soldat werden zu müssen? Wieso musste er in einen Krieg ziehen, der ihn gar nichts anging? Nur weil der Kaiser und seine Generäle das so wollten?
Kaum war der Vater im Feld, suchte die Mutter sich Arbeit. Da sie keinen Beruf erlernt hatte, blieben ihr nur Putzen und Waschen. Doch hatte sie Glück, es vergingen nur wenige Monate, da wurden im Hüttenwerk die ersten französischen Kriegsgefangenen zur Arbeit eingesetzt; Ersatz für jene Hüttenwerker, die nun an der Front standen. Eine Poststelle wurde benötigt, die allein für die Kriegsgefangenen zuständig war, und dafür wurde eine Frau gesucht, die bereit war, ein paar Wörter Französisch zu lernen. Die Mutter meldete sich, wurde eingestellt und ging fortan vor ihrer täglichen Postarbeit putzen. Und nach der Arbeit wusch sie für die Familien, für die sie morgens putzte.
Die Sorge für die Geschwister blieb der zu jener Zeit noch keine neun Jahre alten Lisa überlassen.
Vollgepackte Tage, Wochen, Monate, Jahre. Kam Lisa aus der Schule nach Hause, wartete Tante Hedwig schon auf sie, Onkel Emils kinderlose Frau, eine dralle, resolute Fleischermeistergattin. Solange Schule war, passte sie auf die Kleinen auf und nutzte die Zeit, das Mittagessen vorzubereiten. Alles Übrige hatte Lisa zu erledigen: putzen, einkaufen, das Abendbrot anrichten und sich um den kleinen Gemüsegarten kümmern, der das Haus umgab.
Arbeiten, die sie nicht ablehnen konnte. Nur selten verdrückte sie sich, um ungestört fantasieren zu können. Sie hatte das Talent, sich der Wirklichkeit stellen zu können, ohne ihre Träume aufgeben zu müssen. Anders hätte sie all die Lasten, die ihr aufgebürdet wurden, sicher auch gar nicht tragen können.
Die Mutter wusste das und bemühte sich, ihr Zeit für ihre kleinen Fluchten zu lassen. Sie förderte ihre Leselust – und sie schickte sie ins Bergtheater, in die Kindervorstellungen.
Direkt an den Hexentanzplatz schmiegte sie sich, die große Naturbühne, und sogar jetzt, während des Krieges, wurde in den Sommermonaten Theater gespielt. Es kamen ja immer noch Feriengäste. Und an den Sonntagvormittagen gab es Kindervorstellungen. Vor dem Krieg war der Vater oft mit Lisa zu diesen Vorstellungen gepilgert, jetzt durfte sie allein gehen: Belohnung für eine lange, arbeitsame Woche.
Mit feiertäglicher Begeisterung saß sie zwischen all den fein gemachten Urlauberkindern. Ihr schon recht verwaschenes Kleid, die mehrfach gestopften braunen Wollstrümpfe und die ausgetretenen Sandalen störten sie nicht. Ihre kleine bunte Perlentasche mit den zwei Butterbroten im Schoß, hockte sie im weiten Halbrund des Bergtheaters und war überzeugt davon, dass sie eine der wenigen war, die wirklich hierher gehörten. Die anderen Kinder und auch all die Erwachsenen um sie herum waren nur Gäste; sie war hier zu Hause.
Hatte sie Pech, saß sie direkt hinter einer dieser fein gemachten Feriengastmütter, die oft große, mal mit künstlichen Margeriten, mal mit Kornblumen, mal mit Mohnblüten verzierte Strohhüte trugen und keine Sekunde den Kopf still halten konnten. Ohne Pause wippten die unechten Blumen vor ihren Augen auf und ab, weil diese Frauen ihren Kindern unentwegt etwas erklären mussten. Dagegen half nur der Hustentrick. Sie hustete der vor ihr sitzenden Strohhutmutter so lange ins Ohr, bis die Frau sich aus Angst, sie oder ihre Kinder könnten sich bei ihr anstecken, mitsamt ihren Küken woanders hinsetzte und sie wieder freien Blick hatte.
Märchen wurden gegeben – Schneewittchen und die sieben Zwerge, Der gestiefelte Kater oder irgendein anderes für das Theater bearbeitetes, allseits bekanntes Märchen –, aber auch Till Eulenspiegels lustige Streiche oder Die Schildbürger. Lisa verfolgte jede Inszenierung mit gleich großem Interesse und ließ zwischendurch immer wieder den Blick schweifen. Er reichte ja weit über die aufgebaute Bühnenlandschaft bis ins Harzer Vorland hinaus. Bei schönem Wetter war sie jedes Mal aufs Neue beeindruckt von all dem Grün und Gelb und Himmelblau, das sich vor ihr ausbreitete. War es ein eher trüber Tag, sah sie den Wolken nach und fragte sich, ob sie wohl bis nach Frankreich zogen. Wenn ja, vielleicht sah der Vater irgendwann dieselben Wolken.
War alles vorüber, ging sie das Stück, das sie gesehen hatte, im Kopf noch einmal durch. Hatte denn wirklich alles so kommen müssen? Was wäre aus Schneewittchen geworden, hätten die sieben Zwerge sie nicht bei sich aufgenommen? Und der jüngste Müllerbursche, wie wäre es ihm ergangen, hätte der gestiefelte Kater ihm nicht beigestanden? Ja, und was, wenn Till Eulenspiegel vom Seil gefallen wäre, als er all die zuvor eingesammelten Schuhe unter die dummen Gaffer warf? Hätten die Leute ihn dann verprügelt?
Ihre Bücher holte Lisa sich aus der Leihbücherei. Und das, seit Krieg war, in eigener Regie. Vor dem Krieg war sie Vaters Empfehlungen gefolgt. Er kannte viele Bücher, schwärmte von ihnen oder lehnte sie in Bausch und Bogen ab. Als Elfjährige, die selber auswählen durfte, entdeckte sie viele spannende Romane für sich. Ihr Lieblingsbuch wurde Robinson Crusoe. Aber auch die Bücher von Jules Verne verschlang sie, die von Friedrich Gerstäcker und die Indianer-Romane von James Fenimore Cooper. Robinson und Lederstrumpf wurden ihre modernen Ritter Bodos.
Dann, wenige Tage bevor sie zwölf wurde, legte sie all diese Romane beiseite. An jenem Morgen kam die Nachricht, dass der Vater gefallen war. Von diesem Tag an interessierten sie keine Abenteuergeschichten mehr und sie ging nicht mehr in die Kindervorstellungen.
Waren ja doch alles nur Flunkereien, sie konnte damit nichts mehr anfangen.
Wenn der Vater auf Urlaub gekommen war, hatte er nie viel vom Krieg erzählt. Er hatte nur viel mit den Kleinen geschmust oder sie vom Schrank in seine Arme springen lassen. Fragten Heinz und Hilde ihn, ob es schön sei, Soldat zu sein, lachte er nur.
Sanitätsgefreiter war er zum Schluss gewesen, und so hatte Lisa lange gehofft, dass, wenn der Vater auf niemanden schoss, auch auf ihn niemand schießen würde. Ein schrecklicher Irrtum, wie sie nun wusste; Granaten, Kanonenkugeln und Bomben suchten sich wahllos ihr Ziel.
Einmal hatte sie den Vater gefragt, ob er als Sanitäter oft schlimm Verwundete von der Front forttragen musste. Sie hatte dabei an Karls Onkel aus dem Gartenhäuschen im Wotansblick gedacht, dem der Feind das halbe Gesicht weggeschossen hatte. Karls Onkel ging seither nicht mehr aus dem Haus; er wollte seinen Anblick niemandem zumuten.
Der Vater hatte erst ein Weilchen nachgedacht, dann hatte er stumm genickt. Und sie hatte sich nicht getraut weiterzufragen, weil er dabei ein so trauriges Gesicht machte. Nun war diese Todesnachricht gekommen. Die Mutter hatte sich damit in die Küche gesetzt und erst nach langem Zögern gewagt, den Brief zu öffnen, hatte sie doch gleich die fremde Handschrift erkannt. Danach saß sie dann, Hände im Schoß, Brief auf dem Tisch, lange wie erstarrt da. So, als wollte sie nicht glauben, was sie hatte lesen müssen.
Es vergingen mehrere Wochen, bis die Mutter die Kraft fand, das Foto, das den Vater als Soldat zeigte, aus dem elterlichen Schlafzimmer zu holen, ein schwarzes Trauerband daran zu befestigen und es im Wohnzimmer aufzuhängen. Von dort aus, von seinem Platz über dem Sofa, sah der Vater fortan bei allem zu, was in der Wohnstube geschah. Vor irgendeinem französischen Baum stand er, am Arm die weiße Binde mit dem roten Kreuz, in der Hand eine Zigarre, und ernst, aber nicht unfreundlich, blickte er auf sie herab. Wie geht es euch?, schien er jeden, der ihn betrachtete, fragen zu wollen. Und: Kommt ihr ohne mich zurecht?