Brennende Häuser
In der Schule fielen die Jungen aus dem Waisenhaus auf. Ihre Jacken, Hosen und Hemden entstammten Spendensammlungen, waren an den Knien und Ellenbogen abgescheuert und am Hosenboden nicht selten geflickt. Wenn sie Schuhe trugen, dann waren sie ihnen entweder zu groß oder kurz vor dem Auseinanderfallen. Weshalb sie im Sommer oft barfuß in laut klappernden Holzpantinen in der Schule erschienen, auf diese Weise alle Welt auf ihre Schäbigkeit aufmerksam machend.
Es war keine feine Gegend, in der die Schule lag – Arbeiter und niedere Angestellte lebten hier –, und so liefen auch die anderen Schüler nicht wie junge Lords herum. Aber einen so erbärmlichen Eindruck wie die Waisenhäusler mit ihren wegen der Hygiene zudem auch noch sehr kurz geschorenen Köpfen machten sie nicht.
Gegen Spott jedoch wussten die Jungen aus dem gelben Backsteinhaus sich zu wehren. Kam ihnen einer der Bessergekleideten dumm, fackelten sie nicht lange, sondern schlugen zu. Mochten sie ansonsten auch keine Freunde sein, gegen die Außenwelt hielten sie zusammen. Grund genug für viele Eltern, die Waisenhäusler von der Schule ihrer Söhne verbannen zu wollen. Es durfte nicht sein, dass diese »Räuberbande« den Lehrern mehr Mühe machte und mehr Zeit abverlangte als die eigenen Kinder und dass die sich vor denen auch noch ducken mussten.
Als einer der schlimmsten Räuber galt Bertie Lenz. Kaum war er eingeschult, da hatte er einem Jungen, der ihn wegen seiner kurz geschorenen Haare auslachte, schon die Schiefertafel auf den Kopf gehauen. Später wurde der Griffelkasten seine Waffe. Als er zehn war, gab es keinen Jungen mehr, der es wagte, ihn auch nur scheel anzusehen. Sogar die aus den höheren Klassen verweigerten ihm nicht den Respekt.
Bertie beneidete die anderen Jungen nicht und er lehnte sie nicht ab. Solange sie ihn in Ruhe ließen, durften sie tun und lassen, was sie wollten.
Eine ähnliche Haltung nahm er den Lehrern gegenüber ein. Spürte er ihre Ablehnung, stellte er sich stur. Wenn die ihn nicht wollten, weshalb sollte er sie wollen? Er würde sich nicht über sie ärgern, sollten die sich doch über ihn ärgern.
Darunter litt am heftigsten Lehrer Klammroth, ein langer, dünner, noch recht junger Mann mit unsicher hin und her huschenden Augen, der sich an dieser Gemeindeschule unterfordert fühlte. Ganz besonders störten ihn die Waisenhäusler. Musste er sich mit einem von ihnen etwas länger beschäftigen, weil der ihn nur stumm anstarrende Junge seine Frage nicht verstanden hatte oder nicht verstehen wollte, stieg Wut in ihm auf. Mit was für einem armseligen Niveau hatte er es hier zu tun; nichts als geistige Blindschleichen, Rüpel und Schläger unterrichtete er. Womit hatte er das verdient?
Es war nicht etwa so, dass die Jungen aus dem Waisenhaus den Unterricht störten. Ganz im Gegenteil, meistens saßen sie nur still da und mucksten sich nicht. Und wollte er sie examinieren, standen sie brav auf und sahen ihn mit großen, verständnislos blickenden Augen an; Augen, die dafür sorgten, dass er ins Zittern geriet. Da konnte er vor ihnen den Hampelmann machen, sie wollten einfach nicht am Unterricht teilnehmen.
Vor allem dieser Lenz ärgerte ihn. Der war ja gar nicht wirklich dumm, in vielem erschien er ihm sogar reifer und nachdenklicher als seine Klassenkameraden. Der Bengel war nur verstockt, hatte keine Lust, irgendwas zu lernen, sah auch viel zu oft zum Fenster hin, als wünschte er sich weit, weit fort von allem, was mit Schule zu tun hatte. Rief er ihn an die Tafel oder fragte er ihn etwas, zuckte dieser Flegel selbst dann die Achseln, wenn er die gestellte Aufgabe mit Leichtigkeit hätte lösen können, wie er ihm anzusehen glaubte.
Eine Verweigerungshaltung, die Lehrer Klammroth Galle schmecken ließ. »Frech wie eine Wanze bist du«, tobte er mehrmals die Woche. »Wozu gehst du denn überhaupt zur Schule? Du landest ja doch mal in der Gosse.«
Anfangs hatte Herr Klammroth widerspenstige Schüler nur an den Haaren gezogen oder ihnen die Ohren so verdreht, dass sie danach noch lange rot leuchteten. Inzwischen suchte er immer öfter Zuflucht zum Rohrstock. Hände ausstrecken und rauf auf die Finger. Dieser Lenz aber, auch das ein Beweis für seine Renitenz, zuckte nicht zurück, wenn der Stock auf seine Hände niedersauste. Dem stiegen vor Schmerz nicht mal Tränen in die Augen, ganz egal wie kräftig er zuschlug. Gegen diesen Lenz blieb er machtlos.
Was der Lehrer Klammroth nicht wissen konnte: Wer einmal über Pater Constantins Hocker gelegen hatte, der hielt was aus. Und Bertie hatte sich inzwischen schon öfter in den Teppich unter Pater Constantins Folterbank krallen müssen. Lehrer Klammroths Schläge, egal wie heftig, kosteten ihn nur ein böses Grinsen; ein Grinsen, das den wütenden Lehrer jedes Mal in die Nähe eines Tobsuchtsanfalls trieb.
Aber hatte Bertie denn andere Verteidigungsmöglichkeiten? Ihn schmerzten die Schläge, Lehrer Klammroth schmerzte sein Grinsen.
Nur wenn er abends im Bett lag, allein mit sich und seinen Gedanken, fand er noch eine zweite Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen – indem er sich in Rachefantasien hineinsteigerte: Er als Erwachsener, wie er Pater Constantin und Lehrer Klammroth auf der Straße abfängt. Es ist dunkel, später Abend oder Nacht, er tritt vor sie hin und sie erkennen ihn nicht. Aber kaum hat er seinen Namen gesagt, erbleichen sie. Und dann stehen sie vor ihm und zittern vor Angst, und er packt sie am Kragen, einen links, einen rechts, und steigt mit ihnen auf ein Dach hinauf und droht ihnen an, sie hinunterzustoßen. Er will das nicht wirklich tun, will ja wegen diesen beiden Pappfiguren nicht ins Gefängnis kommen; er will ihnen nur eine solche Angst machen, dass sie sich vor Schreck in die Hosen scheißen. Und das klappt! Wimmernd flehen sie ihn an, sie doch bitte, bitte zu verschonen. Sie geben zu, dass sie unrecht an ihm gehandelt haben, geben zu, dass sie einen schlechten Charakter haben, und dann, wenn er sie bis dicht an den Rand des Daches getrieben hat, dann, ja dann quillt ihnen die Scheiße aus den Hosenbeinen und er darf sie auslachen …
Wenn es einen Grund dafür gab, dass Bertie hin und wieder doch gern zur Schule ging, dann hieß der Fräulein Baake. Die rundliche, früh grau gewordene, sehr kurzsichtige Frau, deren eher farblose Augen hinter den dicken Brillengläsern stets ein wenig übergroß wirkten, unterrichtete die Schüler in Deutsch. Ihr Verlobter, das wussten die Jungen, war im Krieg gefallen. Nur deshalb, so hatte sie ihnen einmal erklärt, sei sie noch Lehrerin. Hätte es keinen Krieg gegeben, wäre sie längst eine verheiratete Frau und sicher selber Mutter von Kindern. Und dann hätte sie den Lehrerberuf aufgeben müssen, weil verheiratete Frauen nun mal nicht Lehrerin sein durften.
Wenn Fräulein Baake das Wort »Krieg« aussprach, bekam sie jedes Mal einen ganz bitteren Zug um den Mund. Zwar sagten inzwischen viele Erwachsene, wie sinnlos der Krieg gewesen sei, und bedauerten die vielen Opfer; dass sie alle mal laut gejubelt hatten, als die Soldaten blumengeschmückt ins Feld zogen, schienen sie vergessen zu haben. Fräulein Baake, davon war Bertie überzeugt, hatte auch damals nicht gejubelt.
Fräulein Baake, das spürten alle Jungen, hatte ein sehr zartes, warmes Herz. Hatte einer von ihnen etwas Trauriges erlebt, litt sie mit. Lernte ein Junge nicht, schimpfte sie nicht und schlug nicht, sondern hob nur mahnend den Zeigefinger und zitierte ihren Lieblingsspruch: »Wissen ist der Schatz in der Truh’, Fleiß der Schlüssel dazu.«
Bertie freute sich auf jede Unterrichtsstunde mit Fräulein Baake und ließ sie während der Stunde keine Sekunde aus den Augen. Er verehrte diese Lehrerin und bemühte sich, ihr bester Schüler zu sein, und sie merkte ihm das an und nickte ihm immer wieder freundlich zu.
Und abends im Bett, wenn er sich mal nicht in Rachefantasien erging, kam sie hin und wieder zu ihm, strich ihm übers Haar und fragte ihn alles Mögliche. Und bereitwillig erzählte er ihr von der Mutter und der kleinen Schwester, die er noch gar nicht kannte, und von diesem Herrn Ditters, der ihn nicht wollte. Nur über seine Rachefantasien sprach er nicht; er wusste, die hätten ihr nicht gefallen.
Anfang der Fünften kam Theo Thielecke in die Klasse. Seine Eltern waren aus Charlottenburg zugezogen, weil rund um den Alexanderplatz die Mieten nicht so hoch waren. Sein Vater, vor dem Krieg leitender Ingenieur in den Siemens-Werken, hatte in der Schlacht bei Verdun beide Beine verloren; nun saß er zu Hause, goss Bleisoldaten und malte sie detailgetreu an. Theos Mutter fuhr jeden Morgen mit der Straßenbahn nach Weißensee hinaus, um dort in einer Fabrik zu arbeiten; abends, kurz vor Ladenschluss, zog sie mit den Bleisoldaten von Spielzeuggeschäft zu Spielzeuggeschäft, um sie den Inhabern anzubieten.
Theo, ein eher schmaler, dunkelhaariger Junge, wirkte sehr blass und brav, und vielleicht war das der Grund, weshalb Herr Klammroth ihn anwies, sich neben Bertie zu setzen – in der Hoffnung, dass der so ordentlich und reinlich gekleidete neue Schüler ein wenig auf den störrischen Lenz abfärbte.
Ein Weilchen sah Bertie stur zur Seite. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, ein solcher Musterknabe sein Banknachbar! Irgendwann aber blickten die beiden Jungen einander an – und da grinste Theo ihm zu, als wollte er sagen: Denk bloß nicht, ich bin so, wie ich aussehe. Hab keinen Heiligenschein über meinem Kopf schweben. Und du, ja, du gefällst mir. Wir beide könnten manches zusammen anstellen.
Nach dem Unterricht, kaum hatten sie das Schulhaus verlassen, zog Theo eine ganze Packung Zigaretten aus der Jackentasche. »Du rauchst doch, oder?«
Bertie rauchte, und so stellten die beiden neuen Freunde sich in den nächsten dunklen Hausflur und steckten sich erst mal eine an. Dass Bertie Ärger bekommen würde, da alle Zöglinge nach Unterrichtsschluss sofort ins gelbe Backsteinhaus zurückzukehren hatten, störte ihn nicht. Dieser Theo war interessant. Er hatte irgendwas ganz Besonderes, neugierig Machendes an sich.
Nicht lange und sie hatten festgestellt, dass viele Gemeinsamkeiten sie verbanden. Von der Schule hielten sie beide nichts, die Stadt interessierte sie. Auf den Straßen war Freiheit, da war man nicht unter der Knute, egal ob unter der eines ewig schlecht gelaunten Vaters, der zweimal am Tag von Selbstmord sprach, oder unter der von Erziehern, die ihre Zöglinge mit Schlägen zur Fröhlichkeit erziehen wollten. Auf den Straßen passierte immer etwas, da gab es viel zu beobachten und, wenn man Glück hatte, sogar etwas Wertvolles zu finden.
Theo hatte sogar schon mal einen goldenen Ring gefunden, von dem niemand etwas wissen und den vor allem seine Mutter nicht sehen durfte. »Die is so meschugge, die bringt’s fertig und gibt ihn im Fundbüro ab.«
»Echtes Gold?« Unter den Waisenhauszöglingen gab es viele Jungen, die gern maßlos übertrieben; ein Bertie Lenz glaubte nicht jeden Blödsinn.
»Echtes Gold! Mit Tinnef geb ich mich nicht ab.«
Theo sagte das so abgeklärt – Bertie wusste sofort, dass er nicht log.
Fürs Zuspätkommen gab’s Karzer, was Bertie nicht sehr gestört hätte. Er hatte sich längst an den Karzer gewöhnt, fand es nicht mal schlecht, mal für längere Zeit mit sich allein sein zu dürfen. Nur dass er deshalb auf die regelmäßigen Mahlzeiten verzichten musste, schmerzte ihn; von Wasser und Brot bekam er ja noch mehr Hunger.
Tags darauf hatte Theo den Ring mitgebracht, ein echtes Schmuckstück mit einem im Sonnenlicht violett glitzernden Stein; bestimmt hatte es mal einer richtigen Dame gehört. 585, so war der Fingerring abgestempelt. Und wenn das Gold echt war, dann war auch der Stein nicht aus buntem Glas.
Bertie war beeindruckt. Die Frage war nur: Hatte Theo diesen, doch sicher sehr kostbaren Ring tatsächlich irgendwo gefunden? Oder hatte er ihn seiner Mutter oder Großmutter oder irgendeiner Tante gestohlen? So harmlos Theo aussah, in Wahrheit war er ein Fuchs. Doch natürlich, der Krieg hatte viele Leute sehr dünn gemacht, da konnte es schon mal passieren, dass einer ehemals korpulenten Dame ein Ring zu groß geworden und vom Finger gerutscht war.
Nur schade, dass sie das gute Stück nicht verkaufen konnten, solange sie noch Kinder waren. Sonst hätten sie sich für das Geld viele tolle Dinge kaufen können, wie Theo bedauerte.
Also hätte er mit ihm geteilt? Das gefiel Bertie. Stumm strahlte er den neuen Freund an.
Theo grinste zurück und sorgfältig verstaute er seinen Schatz in der Jackentasche. »Und nun?«, fragte er danach. »Was machen wir jetzt? Ich will noch nicht nach Hause. Mein Vater macht nur wieder Stunk.«
»Gehen wir zum Alex«, schlug Bertie vor, »da ist immer was los.«
Es war ein so sonniger, schon richtig warmer Frühlingstag. Kehrte Bertie ins Waisenhaus zurück, musste er in den Karzer. Und ob Pater Constantin ihn einmal mehr oder weniger über den Hocker legte oder mit noch mehr Karzertagen bestrafte, was spielte das für eine Rolle? Heute war heute, er wollte was erleben; morgen war er ja vielleicht schon tot.
Die Ranzen auf den Rücken, zogen sie los, hin zum belebten Alexanderplatz mit dem riesigen Warenhaus und der imposanten, stolz über all dem wimmelnden Verkehr thronenden, steinernen Stadtgöttin Berolina. Straßenbahnlinien kreuzten den Platz, Busse, Lkw und Pkw fuhren über ihn hinweg, über die Bahnüberführung nahe dem Stadtbahnhof ratterten S‑ und Fernbahnzüge. Zum wahren Leben aber erweckten den Platz so kurz nach dem Krieg vor allem die vielen Straßenhändler, die Bauchläden vor sich her trugen oder hinter Klapptischen standen, um irgendwelche Waren anzupreisen: Schnürsenkel, Sockenhalter, Strumpfbänder, Hosenträger, Krawatten mit und ohne Gummiring und vieles andere mehr.
Es machte Spaß, hier herumzustreifen, die Blicke aufs Pflaster geheftet, immer in der stillen Hoffnung, etwas Brauchbares zu finden, und dabei den zumeist lustigen Sprüchen der Händler zu lauschen. Allein bei den Kriegsinvaliden blieb Theo nicht gern stehen. Viele boten einen zu schrecklichen Anblick. Ein weggeschossenes Bein oder ein weggeschossener Arm, das ging ja noch, manche aber waren nicht nur blind, sie hatten gar keine richtigen Gesichter mehr.
Bertie ahnte: Sicher dachte Theo jetzt an seinen Vater, der auf einem mit Rollen versehenen Brett durch die Wohnung fuhr und gar nicht mehr auf die Straße hinunterwollte. Es war schon seltsam: Mit welch fröhlichen Gesichtern waren all diese Männer einst in den Krieg gezogen, blumengeschmückt, winkend und lachend. Vier Jahre später, als der Krieg verloren war, waren sie dann wiedergekommen, hatten rote Fahnen geschwenkt, eine Revolution gemacht und den Kaiser abgesetzt. – Und jetzt? Jetzt standen sie hier und spielten trotz ihrer Kriegsverletzungen die lustigen Onkel, um die Passanten zum Kauf zu animieren.
Auch am Waisenhaus war der Krieg nicht spurlos vorübergegangen, deutlich zu spüren an dem, was im Speisesaal auf den Tisch kam. Und die Kleidungsstücke, die ihnen gespendet wurden? Das waren oft nur noch Lumpen. Erst vor Kurzem waren drei sehr gut gekleidete Frauen zu Pater Constantin gekommen, um die größte Not zu lindern, wie sie sagten. Ein paar Lebensmittel und jede Menge schon sehr abgetragene Hosen und Jacken hatten sie mitgebracht und alle Jungen freundlich angelächelt. Eine von ihnen, lang und hager und mit großem Hut auf dem Kopf, hatte Bertie sogar übers Haar gestrichen. »Was für ein verwegen dreinschauender, braver deutscher Blondschopf«, hatte sie gesagt und sich vor Rührung mit einem Spitzentaschentuch die Augenwinkel trocken getupft. »Auf Jungen wie euch setzen wir unsere Hoffnung. Eure tapferen Herzen und fleißigen Hände werden unser armes Deutschland eines Tages wieder groß und stark machen.«
Er hatte ihre Zärtlichkeit nicht als unangenehm empfunden, vor den anderen aber nicht als niedlicher kleiner Junge dastehen wollen. Nur deshalb hatte er »Vorsicht, Tante! Ick hab Läuse« gerufen. Und da war die »Tante«, von der es später hieß, dass sie irgendeine Fürstin aus Mecklenburg war, wie vom Blitz getroffen zurückgezuckt. Und vorwurfsvoll hatte sie Pater Constantin angeblitzt. »Solche Zustände herrschen hier? Ja, aber warum unternehmen Sie denn nichts dagegen? Reinlichkeit ist doch kein Luxus.«
Es hatte Pater Constantin viel Kraft gekostet, seine Wut zu verbergen. Laut und gestenreich beteuerte er, dass es in seinem Haus keinerlei Ungeziefer gäbe. »Der Junge ist einer unserer Problemfälle. Er lügt gern und ist auch ansonsten ein ausgesprochen schwer erziehbares Kind.«
Woraufhin die fürstliche Tante ihn erst nur voller Entrüstung ansah und schließlich mit ganz schmalem Mund sagte: »Na so was! Noch so jung und lügt schon wie ein Münchhausen.«
Er aber hatte sie nur angegrinst. Und das so lange, bis sie, wie alle gesehen hatten, sogar ein wenig rot geworden war.
»Da!« Einem einbeinigen Kriegsinvaliden mit Bauchladen, der sich auf zwei bis unter die Arme reichende Krücken stützte und seine Militärmütze zum Schutz gegen die Sonne tief in die Stirn gezogen hatte, waren ein paar Münzen heruntergefallen. Offensichtlich hatte er den Verlust noch nicht bemerkt. Es war ein sehr magerer, graugesichtiger Mann, die Münzen lagen direkt neben seinem Fuß.
»Geh hin«, flüsterte Theo. »Frag ihn was.«
Er sollte den Mann ablenken und ein paar Schritte von den Münzen fortlocken, damit Theo sich danach bücken konnte? Nur kurz zögerte Bertie, dann trat er vor den Bauchladenbesitzer hin und studierte, was er anzubieten hatte. Nichts als Schuhwichse, eine Dose neben der anderen aufgestapelt.
Der Mann im Soldatenmantel musterte ihn kurz, dann setzte er ein freundliches Lächeln auf. »Na, Schule schon aus?«
Bertie nickte nur und studierte weiter die Dosen, als suche er eine ganz bestimmte Farbe.
Der Kriegsinvalide lächelte weiter. Vielleicht stand ja ein Kunde vor ihm. »Suchste was für karierte Schuhe oder für gestreifte?«
»Gepunktete!«
Eine Antwort, die dem Mann gefiel. »Gut gekontert, Jungchen.« Er lachte. »Nur kann ich dir da leider nicht helfen, die gepunktete Wichse hat den Krieg nicht überlebt. Aber jetzt mal im Ernst: Welche Farbe suchste denn? Hab Schwarz, Braun und Weiß.«
»Und was kostet die Dose?«
Die Hände in den Taschen, trat Bertie ein wenig zurück. Und richtig, der Mann kam ihm nach. Zwar nur langsam, weil er sich ja auf seine Krücken stützen musste, doch bewegte er sich fort von den Münzen. »Eine Mark. Aber haste denn überhaupt Geld dabei? Und hat dir deine Mutter den Auftrag gegeben, Schuhwichse zu kaufen?
»Hab keine Mutter.«
»Ist sie tot?«
»Schon lange.«
»Und dein Vater?«
»Auch. Im Krieg gefallen.«
Da veränderte sich das Gesicht des Mannes. Er nickte müde. »Ja, Junge, Zeiten sind das! Bei wem lebste denn?«
»Bei meiner Tante.« Bertie dachte an Fräulein Baake. Warum sollte er denn nicht bei einer Tante leben?
»Und für deine Tante sollste Schuhwichse kaufen? Welche Farbe hat sie denn bestellt?«
Sie waren längst weit genug von den Münzen entfernt. Theo schlenderte heran, bückte sich, als wollte er sich seine Schuhe neu binden, und klaubte eine nach der anderen auf. Danach ging er seelenruhig weiter.
»Gar keine. Ich will sie ihr zum Geburtstag schenken.«
»Und welche Farbe?« Der einbeinige Bauchladenbesitzer wurde langsam ungeduldig. »Willste mir das nicht endlich verraten?«
»Grün.«
»Waas?« Jetzt wurde der Mann böse. Zornig fuchtelte er mit einer seiner Krücken. »Willst mich wohl verscheißern, Rotzbengel? Wer trägt denn grüne Schuhe? – Verschwinde, Freundchen, oder es setzt was!«
»Na denn – auf Wiedersehen!« Mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt ging Bertie davon. Erst als Theo und er schon ein ganzes Stück fort waren, drehte er sich noch mal um und sah, dass der Mann mit dem Bauchladen ihm noch immer nachstarrte. Frech zeigte er ihm einen Vogel; das war besser, als sich zu schämen.
Erst Pater Constantins Folterbank – dreißig Schläge ohne Rabatt –, dann der Karzer. Er hatte beides vorausgesehen; er war diesmal ja nicht nur zu spät von der Schule heimgekehrt, er war praktisch überhaupt nicht gekommen. Es ging schon aufs Abendessen zu, als er versucht hatte, sich ungesehen ins Haus zu schleichen, aber von dem schon auf ihn lauernden Herrn Ketelsen sofort entdeckt und Pater Constantin überstellt worden war.
»Glaub nicht, dass ich dich nicht kleinkriege«, hatte der Pater zwischen den Schlägen geschäumt. »In unserem Haus gibt’s Regeln und an die wirst auch du charakterloser kleiner Strolch dich halten. Und wenn ich sie dir mit dem Hammer ins Gehirn meißeln muss.«
Eins, zwei, drei, vier, fünf … Er hatte mitgezählt. Er schaffte das inzwischen und wusste, dass Heini Hühnerfeld nicht gelogen hatte: Mitzählen lenkte ab.
Jetzt stand er am Karzerfenster und schaute in den dunklen Hof hinaus. Sitzen konnte er nicht, sein Hintern brannte wie Feuer.
Wenn Pater Constantin wüsste, was Theo und er an diesem Tag getan hatten! Einer, der mithalf, einen einbeinigen Kriegsinvaliden zu bestehlen, der vielleicht Kinder hatte, die auf etwas zu essen warteten, der war ja noch viel schlimmer, als Pater Constantin dachte …
Und alles wegen fünfundsechzig Pfennigen! Deswegen würden der Mann, seine Frau und seine Kinder, wenn er welche hatte, nicht verhungern, ein Diebstahl war es aber doch. Und es hatte nicht mal Mut dazu gehört.
Sie hätten das nicht tun dürfen. Dass ein Einbeiniger immer noch mehr Glück gehabt hatte als Theos Vater, dem die feindliche Granate gleich beide Beine weggerissen hatte, war kein Trost. Gab es einen Unterschied zwischen sehr schlimm und noch schlimmer?
In der Nacht quälte ihn ein Traum: Es ist Kindergottesdienst, er kniet zwischen Herrn Ketelsen und Pater Constantin, und Pfarrer Engelbrecht predigt und sagt immer dasselbe: »Heilige Mutter Gottes, bitte für uns! Heilige Mutter Gottes, bitte für uns!« Hallend dringt seine Stimme durchs ganze Kirchenschiff, bis auch die Gipsengel an der Decke, die mit großen, plötzlich sehr lebendigen Augen auf sie herabschauen, mitrufen: »Bitte für uns! Bitte für uns!« Die Orgel setzt ein, aber auch sie dröhnt: »Bitte für uns! Bitte für uns!« Sonne dringt durch die bunten Kirchenfenster, lässt die Farben glänzen, und nun rufen auch die darauf abgebildeten Heiligen lauthals: »Bitte für uns! Bitte für uns!« Er will sich die Ohren zuhalten, weiß ja, dass die Engel und auch die Heiligen nur seiner Schande wegen zum Leben erwacht sind, doch hilft das nichts. Die Stimmen dröhnen in seinem Kopf, als wollten sie ihn zum Platzen bringen …
»Nein!«, schrie er. »Nein!« Und er fuhr hoch und blickte sich keuchend um.
Ein Traum! Nur ein Traum. Er war im finsteren Karzer, niemand war bei ihm, keiner rief irgendwas.
Ein Weilchen starrte er still in sich hinein, dann schlief er wieder ein, und bald quälte ihn ein neuer Traum: Theo und er, sie laufen durch die nächtliche Stadt und überall brennt es. Aus allen Häusern schlagen Flammen. Aber seltsam, es sind gar keine Menschen zu sehen …
Theo weint. »Meine Mutter, mein Vater! Nun verbrennen sie.«
Er erschrickt: Seine Mutter ist ja auch in einem dieser Häuser. Muss er nicht hin, sie retten? Aber wie soll er sie denn retten, er weiß ja gar nicht, wo sie wohnt?
Wieder fuhr er schweißgebadet auf, und nun schlief er nicht mehr ein: Was, wenn der Mutter wirklich mal was passierte? Dann würde er erst davon erfahren, wenn sie ihn längere Zeit nicht besuchen gekommen war …