Tapetengeld
Drei Jahre betrieb Lotte Gerber die Schankwirtschaft in Zerbst. Dann, so spottete sie später über sich, machte sie nicht nur einen Sprung vom Schrank, sondern gleich einen doppelten Salto mortale. Und weil niemand bereitstand, um sie aufzufangen, stürzte sie ab.
Vorausgegangen war ein Übernahmeangebot, das sie nicht ablehnen durfte. Ihr ärgster Konkurrent, der Wirt der Goldenen Gans, hatte es ihr gemacht. Vielleicht, so gab sie im Nachhinein zu, hatte sie aber auch ihr Stolz gepikt. War ja eine Art Ritterschlag für sie, dass sie der Goldenen Gans in nur vier Jahren so viele Kunden abspenstig gemacht hatte, dass dem Herrn Schmitz, der sie zuvor stets nur sehr herablassend gegrüßt hatte am Ende gar nichts anderes übrig geblieben war, als ihr ein solch großzügiges Angebot zu machen. Und das nur, damit sie aus Zerbst fortging. Auch hatte ihr der grau melierte »Ganter« noch zusätzliches Geld angeboten – für den Namen Bei Mutter Gerber, den er gern behalten wollte, und für das Rezept ihrer berühmten Schokoladenbrause. Wer da Nein sagte, gehörte ein- gesperrt.
Lisa, inzwischen siebzehn, hatte ihr vom ersten Tag an zugeredet. Sie wollte raus aus dieser kleinen Stadt, in der noch immer die Pferdebahn über das Kopfsteinpflaster rumpelte. Ihr Traum war Berlin. Sie hatte so viele Romane gelesen, die in dieser, von Zerbst aus ja gar nicht weit entfernten Stadt spielten, sie war neugierig auf das Großstadtleben. Und sie wollte Max vergessen, was ihr in Zerbst kaum gelingen würde, da er nach wie vor in den Semesterferien zur Mutter Gerber kam, um dort mit seinen Kommilitonen zu pauken und zu trinken und sie zwischendurch immer wieder vorwurfsvoll anzublicken. Und das, obwohl er längst mit einer anderen ging; eine, die viel besser zu ihm passte, weil ihr Vater irgendein Stadtrat war.
Doch die Mutter musste gar nicht erst überredet werden. Wozu denn kleinmütig sein? Weshalb sollte ihr, der in Zerbst ein solcher Erfolg beschieden war, denn vor Berlin angst und bange sein? Berlin war größer als Zerbst, na und? Durst und Hunger hatten die Leute überall. Wäre doch gelacht, wenn sie, wo so viele Menschen lebten, keine Gastwirtschaft zum Florieren bringen sollte. Noch dazu, da Hilde ja nun die Schule hinter sich hatte und ebenfalls fester zupacken konnte, sie also wirklich ein Dreimädelhaus sein würden. Vielleicht würde sie die neue Wirtschaft ja sogar so nennen: Zum Dreimädelhaus. Drei freundliche, nette Grazien, die ihre Gäste verwöhnten; was konnte mehr Erfolg versprechen?
Und Heinz war ja nun auch schon aus dem Gröbsten heraus. Sollte mal Not am Mann sein, konnte er einspringen; Gläser und Teller spülen und die Aschenbecher leeren würde ihn nicht überfordern. Und lief der Berliner Laden gut – vielleicht nach ein, zwei Jahren –, konnten sie Grit zu sich holen. Die vielen Kurzbesuche in Thale verursachten der Mutter bei jeder Abreise ein schlimmes Bauchgrimmen. Ihre alten Eltern würde sie nicht zu sich nehmen können, auch weil sie das gar nicht wollten, Grit aber bekam sie endlich wieder unter ihre Fittiche. – Schöne Zeiten standen ihnen bevor, sie mussten nur kräftig Luft holen und springen.
Die Möbelpacker kamen, es wurde aufgeladen, was nicht zur Gastwirtschaft gehörte, und Lisa und Heinz lachten. Nichts wie raus aus diesem Pferdebahn-Zerrrbst. Nur Hilde weinte ein bisschen. Alle ihre Freundinnen, die würde sie nun niemals mehr wiedersehen. Nach Thale fuhr die Mutter ab und zu, da lebte der Rest der Familie; nach Zerbst würden sie nie wieder kommen.
Steglitz, einst ein Dorf im Südwesten der Stadt, seit zwei Jahren eingemeindet, wurde zur ersten Berliner Heimat der vier Gerbers. Offiziere wohnten hier, Kaufleute und bekannte Künstler und höhere und nicht ganz so hohe Beamte. Das vierstöckige Wohnhaus, in dem Lotte Gerber eine Dreizimmerwohnung gemietet hatte, wurde umgeben von vielen alten und neuen Villen und üppigen Gärten. An lauen Sommerabenden wehte ein starker Duft nach Bäumen und Büschen, Feld, Wald und Wiese durchs offene Fenster. Ein Duft, den die Mutter Morgen für Morgen durch die Nase sog, als würde er ihr ungeahnte Kräfte verleihen.
»Was wollen wir mehr?« Sie freute sich. »Hier haben wir gute Luft und leben trotzdem in der Großstadt. Außerdem gefallen mir die Leute. Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist.«
Sie wollte sich nicht nach »ganz unten« begeben. Wer war sie denn? Doch immerhin eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Die Zeit des Putzens und Waschens für fremde Leute war vor-bei. Weshalb für Lisa, solange die Mutter noch keine eigene Gastwirtschaft »in Regie« hatte, unbedingt ein »besseres« Restaurant gefunden werden musste, in dem sie als Servierfräulein arbeiten konnte. »Wer unten anfängt«, so erklärte sie ihr, »der hat’s schwer, sich in ein angenehmeres Milieu hochzu- arbeiten. Klüger ist es, vom ersten Tag an gewisse Maßstäbe zu setzen und Ansprüche an sich und seine Umgebung zu stellen.«
Sie fand dann auch bald eine ihr genehme Anstellung für Lisa: im Speiselokal Herrmann Rabandt, direkt am Charlottenburger Kaiserdamm gelegen, nur einen Katzensprung vom Berliner Messegelände entfernt. Den Herrn Rabandt kannte sie. Er war mal zu Besuch in Zerbst und bei ihr eingekehrt und hatte von seinem Speiserestaurant erzählt. In ihrem besten Kleid, dem blauen mit dem hellen Tulpenmuster, und mit einer Fuchsstola um den Hals fuhr sie mit der S-Bahn ins großbürgerliche Charlottenburg, die ehemals so erfolgreiche Wirtin aus Zerbst. Und kaum hatte sie ihn erblickt, den kleinen, dicken, ewig vergnügt blinzelnden Herrmann Rabandt, erzählte sie ihm von ihrem großartigen Geschäft mit dem Wirt der Goldenen Gans.
»Ich wollt ja nicht ewig in Zerbst bleiben, wollte nur einen guten Start haben«, erklärte sie selbstbewusst. »Nun will ich hier ansässig werden und bin mir sicher, bald etwas Ansprechendes zu finden. Doch lass ich mir Zeit, mich drängt ja nichts.«
Herrmann Rabandt war beeindruckt, und als sie ihm sagte, dass sie für ihre älteste Tochter, die tüchtige Lisa, die er ja kennengelernt habe, für die Zwischenzeit eine Tätigkeit in einem seriösen Haus suche, machte er ihr sofort ein Angebot. »Wenn se will, kann se schon morjen bei mir anfangen. Suche jerade’ne tüchtje Kraft. Mir hat so’n Bunte-Socken-Casanova mein bestes Servierfräulein wegjeheiratet. Und jejen die Liebe kann unsereens ja nischt machen. Um se zu behalten, hätt ick se schon selber heiraten müssen.« Er lachte kollegial. »Schicken Se mir Ihre Kleene mal vorbei. Wenn se nach Ihnen kommt, gnädige Frau, stell ick se ein.«
Lisa war alles recht. Das riesige Steinmeer, das ihre neue Heimat werden sollte, verunsicherte sie. »Berlin«, der Name der Stadt hatte für sie stets wie ein Zauberwort geklungen. Alles Großartige, alles Neue hatte sie mit Berlin in Verbindung gebracht. Jetzt machte ihr die Unzahl der Straßen, in denen sie sich zurechtfinden sollte, Angst. Dazu dieser ewige Lärm, all die vieltausendfachen Geräusche des so eilig dahinfließenden Verkehrs, das Gehupe und Geschrei, Gehaste und Gedrängel. Die vielen Menschen, die in dieser Stadt unterwegs waren, alle jagten sie irgendetwas nach, alle waren sie bis über beide Ohren mit außerordentlich Wichtigem beschäftigt. Dabei sahen sie weder rechts noch links; wer zu langsam war, der wurde beiseitegestoßen.
Nicht zuletzt: diese Unterschiede! Hier die gleißenden und glitzernden Einkaufs-, Vergnügungs- und Geschäftsstraßen des Westens und der Stadtmitte, dort die grauen, schäbig und armselig wirkenden Straßenfluchten in den Arbeiterquartieren des Ostens und Nordens. Hier Protz, da Rotz, wie Heinz mit gekrauster Nase gereimt hatte.
Als sie von Zerbst aufbrachen, war sie voller Lust am Neuanfang; stark und mutig kam sie sich vor. In Berlin angekommen, fühlte sie sich vom ersten Tag an zur kleinen Landpomeranze geschrumpft. Musste ihr nicht jeder ansehen, wo sie herkam, und voller Verachtung die Nase rümpfen?
Nun dieses vornehme Speiserestaurant! Die Wände holz-getäfelt, an der Decke mehrere Kronleuchter, die Stühle gepolstert, die Tischdecken aus weißem Damast. Die Bestecke waren zwar nicht aus Silber, aber doch silberlegiert. Und dann die Kellner! In schwarzen Anzügen und mit schwarzer Fliege überm blütenweißen Hemd glitten sie übers Parkett, als hätten sie Schlittschuhe an den Füßen. Alle elegant, alle ewig lächelnd. Nicht anders die Servierfräulein. In ihren schwarzen Kleidern sahen sie wie junge Fürstinnen aus, die steif gestärkten weißen Häubchen auf ihren Köpfen erinnerten an Prinzessinnenkrönchen. Dagegen war sie, die Lisa aus Zerbst, doch nur ein blasses, hässliches Entlein. Musste der Oberkellner, ein Herr Graul, groß, knochig und glatt rasiert, der das Personal dirigierte wie ein General seine Soldaten, nicht denken, was ist uns denn da für ein Vögelchen ins Haus geflattert? So was gehört doch nicht ins feine Charlottenburg, die gehört in eine der Kneipen am Wedding, in Kreuzberg oder Neukölln.
Auch die Gäste! Von denen sprachen viele ja nicht mal Deutsch; wer mit ihnen reden wollte, musste Englisch oder Französisch können. Nur gut, dass dieser glatzköpfige, dicke Zapfer so sehr auf sie aufpasste. In seinem braunen Zapferjäckchen stand er hinter der immer blitzblanken Theke und ließ sie nicht aus den Augen, egal ob er Bier oder Fassbrause zapfte, Wein- oder Schnapsgläser füllte. Sie brauchte ihm nur einen Hilfe suchenden Blick zuzuwerfen, schon ließ er alles stehen und liegen und kam heran, um zu dolmetschen.
Er war im Krieg in Frankreich gewesen, dieser Georg John mit dem schmalen Oberlippenbärtchen, dort hatte er ein paar Brocken jener so eleganten, ihr aber leider völlig unverständlichen Sprache aufgeschnappt. Und Englisch hatte er in der Schule gelernt. Ein Mann wie ein Rettungsring. Glaubte sie, mal wieder am Untergehen zu sein, tauchte er neben ihr auf und griff ihr unter die Arme.
Das war beruhigend und beunruhigend zugleich: Weshalb war dieser ihr ewig aufmunternd zulächelnde Zapfer denn so überaus hilfsbereit? Allein, weil er ihre Unsicherheit bemerkt hatte und helfen wollte? Oder steckte noch etwas anderes dahinter? Gefiel sie ihm vielleicht? Versprach er sich so etwas wie weibliche Dankbarkeit von ihr? – Na, da konnte er lange warten! Selbst falls er ernste Absichten haben sollte, sie war ja noch so jung und die Stadt war so groß; sie wollte erst was erleben, bevor sie sich mit einem Mann verband. War sie erst verheiratet, kamen bestimmt bald Kinder und der Haushalt würde sie auffressen. Auch war der dicke Schorsch, wie der bei allen Kollegen und Kolleginnen beliebte Zapfer nur genannt wurde, wirklich nicht der Mann ihrer Träume. Zwar war er trotz seiner Glatze noch nicht alt – wahrscheinlich nicht mal dreißig –, ein Filmheld aber war er nicht.
Und tatsächlich, als mal nicht viel zu tun war, erzählte er ihr, dass er in Köpenick aufgewachsen sei und noch immer dort wohne. Und das nicht weit vom Müggelsee, weshalb er eine geborene Wasserratte sei, gern schwimme und noch lieber segele. Und er zeigte ihr ein Foto, auf dem er vor einem kleinen Segelboot stand, in weißer Seglerkluft und mit weißer Seglermütze auf dem Kopf, strahlend wie die liebe Sonne. »Das Boot gehört mir. Hab ich mir zusammengespart. Noch heißt’s ja Wilhelmine – nach meiner Mutter –, aber wenn Sie wollen, Fräulein Lisa, dann tauf ich’s um – in Lisa.«
Deutlicher ging’s nicht und bei jedem anderen Mann hätte Lisa nur laut gelacht. Was für ein dummes, viel zu direktes Angebot! Der dicke Schorsch aber war kein Mann, über den man lachte, das hatte sie längst begriffen – er suchte kein kurzweiliges Vergnügen, er suchte eine Frau.
Es war besser, sie stellte sich dumm. »Aber da gibt’s doch sicher noch viel schönere Namen als Lisa.«
»Für mich nicht.« Mit seinen gemütlichen, treuen und dennoch pfiffigen Augen blickte er sie an – und zwinkerte ihr zu. »Wenn wir Schließtag haben, können Sie ja mal nach Köpenick kommen. Ich schipper Sie über den ganzen See, rundherum, hin und zurück. Sie sind der Kapitän und ich bin Ihr Leichtmatrose. Sie werden sehen, es gibt keinen schöneren See als unsere Müggel.«
Sie wurde rot bis unter die Haarwurzeln. »Sehr nett von Ihnen, nur hab ich für so was ja gar keine Zeit … Meine Mutter braucht mich. Und meine Geschwister nicht weniger. Und am einzigen freien Tag in der Woche habe ich immer ganz besonders viel zu tun.«
Das war keine Lüge. Aber wenn sie gewollt hätte, wäre ein freier Tag schon mal drin gewesen.
»Na, dann vielleicht ein andermal, wenn Sie mehr Zeit und wir uns schon ein bisschen besser kennengelernt haben.« Er nickte verständnisvoll und legte das Foto in seine Brieftasche zurück.
»Ja«, sagte auch sie, »sicher ein andermal.«
Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Dieser Mann half ihr, wo er konnte, und sie stieß ihn zurück, nur weil er kein Traumprinz war. Sie schämte sich richtig ein wenig. Was aber gar nicht nötig gewesen wäre, denn fortan tat der dicke Schorsch, als seien sie sich durch dieses kurze Gespräch schon sehr viel nähergekommen. Immer öfter lächelte er ihr zu, als wollte er sagen: »Ich versteh ja, dass du dich noch sträubst, aber warte nur, irgendwann gehst du doch mit mir segeln.« Und wurde er übermütig, summte er, wenn sie in seiner Nähe war, einen Schlager vor sich hin, der gerade sehr populär war. Komm mit mir nach Brasilien, ging der Text, komm mit mir in die Pampas. Dort gründen wir Familien – weil ich mit dir zusamm’pass.
Ein sehr blöder Schlager! Doch seltsam, wenn Georg John ihn summte, klang er gar nicht mehr so albern.
Die Mutter hatte geglaubt, im schlechtesten Fall würde es ein paar Monate dauern, bis sie eine passende Schankwirtschaft zum Erwerben oder Pachten gefunden hatte. Ein, zwei Jahre früher oder später wäre das auch keine allzu optimistische Hoffnung gewesen. Die vier Gerbers jedoch waren im Herbst 1922 in die Stadt gekommen, in einer Zeit, in der von einer großen Teuerung, aber noch nicht von einer immer rascher galoppierenden Inflation die Rede war.
Innerhalb weniger Wochen änderte sich das. Der Wert des deutschen Geldes verfiel von Tag zu Tag, später von Stunde zu Stunde, noch später viertelstündlich. Bekam man für einen amerikanischen Dollar im Januar 1923 noch fünfzigtausend Mark, so waren das im November dieses Jahres, als die Währungskrise ihren Höhepunkt erreicht hatte, mehr als vier Billionen; Zahlen, von denen Lotte Gerber nicht mal wusste, wie viele Nullen dazugehörten.
Die Preise zogen mit. Kostete Anfang November ein Vierpfundbrot noch vierhundertzwanzig Milliarden, so musste man Ende November für ein halbes Brot – ein ganzes konnten sich die Gerbers schon lange nicht mehr leisten – bereits eine Billion Mark auf den Tisch legen. Bäckerläden wurden gestürmt und geplündert, manche Bauern mussten ihr Hab und Gut mit Schusswaffen verteidigen. Die Hungernden hätten ihnen sonst die Ställe leer und die Felder kahl gefressen, wie Georg Lisa aus der Zeitung vorlas. Sogar von Toten wurde berichtet; solche, die hungers gestorben, und solche, die den Gewehrkugeln der Bauern zum Opfer gefallen waren.
Dreihundert Fabriken, auch das las er ihr vor, druckten Tag für Tag jede Menge Millionen- und Milliardenscheine, die – kaum getrocknet – schon wieder wertlos waren, sodass rasch noch ein paar Nullen mehr draufgedruckt werden mussten.
»Verrückter geht’s nicht«, so Georgs Kommentar. »Da kehren wir doch besser zum guten alten Tauschhandel zurück: Du bringst mir ’ne Wurst, ich reparier dir dafür dein Klo.« Und er riet Lisa, falls sie ihre Wohnung neu tapezieren wolle, dies mit Geldscheinen zu tun. »Tapeten sind viel zu teuer.«
Den dicken Schorsch warf so leicht nichts um, er konnte sogar über die allgemeine Not scherzen. Lisa ängstigte diese Zeit. Anfangs wurde ihr der Lohn monatlich, später wöchentlich, inzwischen täglich ausgezahlt. Und das immer um die Mittagszeit, damit sie losrennen konnte, um für das viele Geld, das sie in ihrer großen Einkaufstasche verstaut hatte, überhaupt noch irgendwelche Lebensmittel erwerben zu können. Am Abend war alles Papier nur noch die Hälfte wert.
Doch Herrmann Rabandts Angestellte hatten Glück. In Charlottenburg lebten viele Ausländer und Spekulanten, in deren Brieftaschen Dollars steckten. Als ungekrönte Könige jener Tage hätten sie die halbe Stadt aufkaufen können. So war das Restaurant auch weiterhin gut gefüllt und niemand musste entlassen werden. Viele Gaststätten in der Innenstadt oder in den Arbeitervierteln waren längst zu Volksküchen oder Wärmehallen für Obdachlose umfunktioniert worden.
Eine Katastrophe für ganz Deutschland, eine Katastrophe auch für die vier Gerbers. Alles Geld, das die Mutter für den Verkauf der Zerbster Schankwirtschaft bekommen hatte – innerhalb weniger Wochen war es keine einzige Scheibe Brot mehr wert. Der Herr Schmitz jedoch, ihr ehemaliger Konkurrent, besaß eine schöne Immobilie mehr und konnte in aller Ruhe bessere Zeiten abwarten.
Lotte Gerber verstand die Welt nicht mehr. Wie hatte nur so etwas passieren können? Dass es nach dem verloren gegangenen Krieg keinen Kaiser mehr gab, weil der vor seinem Volk nach Holland geflohen war, damit konnte sie leben. Der Kaiser hätte sich garantiert nicht viel um die Kriegerwitwe Gerber gekümmert. Dass anstelle des Kaisers nun ein ehemaliger Sattlergeselle Deutschland regierte, was sollte sie daran stören? Bisher hatte ihr dieser Fritze Ebert nichts getan. Aber dass nun auch das Geld nichts mehr wert war, das Einzige, womit eine Frau wie sie sich gegen eventuelle Schicksalsschläge absichern konnte, nein, so etwas hätte nie und nimmer passieren dürfen.
»Wenn das Geld keinen Wert mehr hat«, so sinnierte sie eines Abends laut, »dann hat bald alles keinen Wert mehr.«
Natürlich warf sie sich Leichtsinn vor, zitierte den Elefanten, der sich aufs Eis wagte, wenn es ihm zu gut ging, und auch der Spruch »Übermut tut selten gut« kam ihr eine Zeit lang öfter über die Lippen. Doch widerstrebte es ihr, sich länger als nötig Asche aufs Haupt zu streuen. Das Leben ging ja weiter. Sie durfte nicht verzagen, wollte sie nicht irgendwann mitsamt »Kind und Kegel« im Obdachlosenasyl landen.
Sie raffte sich auf, und dann war sie tagelang unterwegs, um eine Anstellung zu finden. Egal als was: Servierfräulein, Fabrikarbeiterin, Hilfskraft in einem Büro – sie suchte eine Arbeit, die eine Frau ausüben konnte, die nie einen richtigen Beruf erlernt hatte. Wer nichts wird, wird Wirt, so hatte sie sich gern voller Stolz über sich selbst lustig gemacht. Jetzt gab es nichts mehr, worauf sie stolz sein konnte, jetzt lebten sie und ihre Kinder von dem, was ihre älteste Tochter nach Hause trug, und von Schwager Emils Großzügigkeit. Die zweiwöchentlichen Pakete mit Dauerwürsten aus seiner Thalenser Fleischerei waren unbezahlbare Schätze. Lieber aber hätte sie darauf verzichtet, hatte sie doch immer auf eigenen Füßen stehen wollen. Wer aber stellte in jenem Jahr eine nicht mehr ganz junge und dazu auch noch ungelernte Arbeitskraft ein?
Am Ende blieb ihr nur, als Näherin etwas hinzuzuverdienen. In Heimarbeit. Gott sei Dank hatte sie ja noch ihre gute, alte Nähmaschine, und in Steglitz gab es nicht wenige Leute, die jede Neuanschaffung von Kleidungsstücken der unsicheren Zeiten wegen gern in die Zukunft verschoben, andererseits aber nicht ganz und gar unmodisch herumlaufen wollten. So ließen sie ihre alten Kleider umarbeiten. Eine Tätigkeit, auf die Lotte Gerber sich verstand. Doch nahm sie keine Geldscheine in Zahlung, sondern allein Lebensmittel. Vier Mäuler waren zu stopfen – und neue Tapeten brauchte sie nicht.
Es gab aber noch einen, der die vier Gerbers unterstützte: Georg John. Der dicke Schorsch gehörte einer großen, sehr frommen Familie an, die im Köpenicker Umland lebte und Bauernhöfe bewirtschaftete. Auf diese Weise konnte er Lisa öfter etwas mitbringen. Mal überreichte er ihr mit entschuldigendem Lächeln ein paar sorgfältig in Zeitungspapier gewickelte Eier, mal ein paar Schweinekoteletts, mal ein Paket mit Hühner-, Enten- oder Gänseklein, mal ein ganzes Suppenhuhn.
Er drückte ihr seine Gaben stets erst nach Feierabend in die Hand und erwartete dafür nichts. Er betrachtete es als seine Pflicht, sich um sie und ihre Familie zu kümmern – so als ob sie tatsächlich schon zusammengehörten. Was Lisa nicht gefiel. Andererseits durfte sie, was er ihr in die Hand drückte, nicht zurückweisen. Sie musste an die Mutter, Hilde und Heinz denken. Auch wollte sie dem dicken Schorsch nicht wehtun. Er war ein so gutherziger Mensch, es hätte ihn schwer getroffen, wenn sie seine Gaben abgelehnt hätte.
Die Mutter kannte den edlen Spender nur vom Hörensagen, war aber entzückt von ihm. »Ein braver Mann«, sagte sie jedes Mal, wenn Lisa eines seiner Eier- oder Fleischpakete auf den Küchentisch legte. »Wann bringst du ihn denn endlich mal mit? Hätte den guten Mann gern kennengelernt.«
Ein Wink mit dem Zaunpfahl, der Lisa jedes Mal in neue Nachdenklichkeit stürzte: War das Liebe, wenn man einen Mann nett und sympathisch fand und sich in seiner Nähe geborgen fühlte? Nur: Wenn das, was sie für Georg empfand, Liebe war, was hatte sie dann für Max empfunden? Oder gab es mehrere Arten von Liebe?