Schlummermütter
Ein sonnenwarmer, grauer Hinterhof. Drei rostbraune Müllkästen und eine Teppichklopfstange grüßten zu dem weit offenen Fenster hoch, an dem Bertie stand. In den Wohnungen rechts und links von ihm und auch direkt gegenüber rührte sich nichts.
Auch zuvor, als er durch die Stargarder Straße spazierte, eine Abenddämmerung, als wollte die Welt eine Pause einlegen. Und das, obwohl die Stargarder doch sonst eine sehr belebte Straße war. Laden an Laden reihte sich hier, an jeder Ecke lockte eine Kneipe. Aber natürlich, heute war Sonntag, da hatten die Läden geschlossen und die Kneipengäste um diese frühe Zeit noch nicht genug getrunken, um laut zu werden.
Wieder eine Gegend, die seine neue Heimat werden wollte. Bei der dritten »Schlummermutter« war er nun schon gelandet. Zuerst diese unsägliche Helene Maier, die ihn von Anfang an argwöhnisch betrachtete, immer in der Furcht, von ihm bestohlen zu werden. Bis ihr, er war erst seit vier Wochen ihr Untermieter, eines Tages tatsächlich eine »wertvolle« Brosche »abhandengekommen« war. Und wer konnte da schon der Dieb sein, wenn nicht er, der ehemalige Waisenhauszögling? Auch die Polizei glaubte das, nur konnte keiner der Polizisten ihm diesen Diebstahl nachweisen, weil er die Brosche ja nun mal nicht hatte. Dennoch glaubten sie dieser versponnenen Alten, die ganz sicher nie eine wirklich wertvolle Brosche besessen hatte. Waisenhaus und Diebstahl, das passte zusammen.
Und noch schlimmer, als die Mutter kam, um ihn umzuquartieren, traute auch sie ihm diesen Diebstahl zu. Er hatte es ihr ganz deutlich angesehen. Hätte sie in diesem Augenblick auch nur ein einziges falsches Wort gesagt, wer weiß, was dann passiert wäre …
Nächstes Quartier: Veteranenstraße 28, Bertha Garmisch. Eine Schlummermutter, die wirklich mit ihm »schlummern« wollte. Die so rosig wirkende, glatte, runde, einem lustig springenden Gummiball ähnelnde Kriegerwitwe, keine Sekunde ließ sie ihn aus den Augen. Kam er von der Arbeit, sah sie ihn mit sehnsuchtsvollen Kuhaugen an; lag er auf seinem Bett, hatte sie ständig irgendeine Frage: Ob der kleine Gemüseladen an der Ecke eventuell Blumenkohl ausliegen hatte, ob das Licht im Treppenhaus wieder in Ordnung war oder – diese Frage kam öfter – ob er dem jungen Mädchen aus dem zweiten Stock begegnet sei, die sich immer so auftakele und ganz bestimmt »so eine« sei. »Vor solchen Flittchen, lieber Herbert, müssen Sie sich in Acht nehmen. Sie wissen schon, von wegen Geschlechtskrankheiten und so.«
Sagte es und wurde dabei jedes Mal rot, erregt von ihren eigenen Worten.
Offensichtlich empfand sie das Mädchen aus dem zweiten Stock als Konkurrenz. Was ihn sehr zum Lachen reizte. Diese Bertha, die wollte, dass er sie Tante nannte, war ja schon beinahe vierzig, glaubte sie wirklich, sie käme für ihn infrage?
Eines Morgens sorgte sie dann selbst dafür, dass er auch bei ihr nicht bleiben konnte. Er wollte gerade zur Arbeit gehen und zuvor wie immer noch einen Schluck aus der Wasserleitung nehmen, da stand sie – er traute seinen Augen nicht – splitterfasernackt am Herd und rührte in ihrem Milchbrei. Als sie ihn sah, sagte sie: »Huch, ich dachte, Sie wären schon weg!«, zog rasch ihren geblümten Morgenmantel über und lächelte verschämt und zugleich hoffnungsvoll.
Sie hatte ihm zeigen wollen, dass sie in Wahrheit noch längst keine alte Tante war, und – er war ehrlich zu sich – hätte sie ihm auch nur ein kleines bisschen gefallen, wäre er an diesem Morgen zu spät zur Arbeit gekommen. Weil er dann das erste Mal mit einer Frau geschlafen hätte, was ja irgendwann mal sein musste und wovon er schon lange träumte. Diese »Tante Bertha« aber stieß ihn ab, ihre Annäherungsversuche hatten etwas Lächerliches an sich.
Jetzt war er bei Schlummermutter Nr. 3 gelandet: Agnes Herbst, Stargarder Straße 37. Auch eine Kriegerwitwe. Braun gefärbte, hochgesteckte Haare, grell geschminkte Lippen, eine vierreihige Perlenkette um den schon sehr faltigen, rötlich rauen Hals, an den Fingern mehrere Ringe, am linken Handgelenk ein schweres goldenes Armband. Eindeutig eine Frau, die es nicht nötig hatte, Untermieter aufzunehmen. Nur: Warum tat sie es dann? Fürchtete sie nicht um ihren Schmuck? Oder würde etwa auch sie irgendwann nackt am Küchenherd stehen?
Er hatte nicht sein freundlichstes Gesicht gemacht, als die Mutter ihn dieser Agnes Herbst vorstellte, dennoch hatte jene Nr. 3 ihn mit ihren großen, strengen Augen nur kurz angesehen und sofort genickt. »Lenz und Herbst, das passt! Außerdem sieht er nicht dumm aus, den nehme ich.«
Eine Einschätzung, die ihn nicht milder stimmte: Sie fand, dass er nicht dumm aussah? Was hatte sie denn erwartet? Einen Blödian, dem die Spucke vom Kinn tropfte? Und das nur, weil er Maurer war und kein Beamter oder Herr Doktor?
Sein Zimmer war wieder nur eine etwas größere Kammer. Doch war es besser möbliert. Ein hoher Kleiderschrank, eine Kommode, ein Tisch, zwei Stühle, ein wuchtiges Bett und ein Nachttisch drängten sich aneinander. Alle Möbel aber hatten etwas sehr Gediegenes an sich, waren bestimmt mal sehr teuer gewesen. Hoffentlich machte er hier nie etwas kaputt.
Er ging ein paar Schritte auf und ab, die Dielen knarrten.
Und nun? Was fing er an mit seiner schönen Sonntagseinsamkeit? Im gelben Backsteinhaus war ihm jede Minute ohne die anderen sehr willkommen gewesen. Da hatte er mitten im größten Trubel hin und wieder einfach die Augen zugeklappt und die Ohren auf taub gestellt, nur um mal einen Augenblick niemanden hören und sehen zu müssen. Seit er ausgezogen war, war das anders. Jetzt fühlte er sich oft auf erschreckende Weise allein gelassen. Kein Pater Constantin oder Herr Ketelsen »kümmerte« sich noch um ihn, kein Pfarrer Engelbrecht machte ihm Mut. Mit Heribert Leibelts Truppe konnte er trinken, Zoten reißen und lachen, nach Feierabend aber war er einsam wie der Tiger im Käfig.
Wieder stellte er sich ans offene Fenster. In einigen Wohnungen brannte inzwischen bereits Licht: Abendbrotzeit. Doch was würde er sehen, wenn sein Fenster nicht zum Hof, sondern zur Straße hinausginge? Junge Frauen, die mit hohen Absätzen unter ihren Schuhen über das laternenbeschienene Pflaster trippelten, auf dem Weg zur Schönhauser Allee, um dort ins Kino oder Tanzcafé zu gehen? Junge Burschen, die vor den Haustüren herumstanden, rauchten und mit irgendwelchen Abenteuern prahlten? Kinder, die den schönen warmen Tag nutzten, um möglichst lange auf der Straße bleiben zu dürfen?
Wenn er wollte, könnte er noch ein bisschen spazieren gehen. Er war frei, die ganze Stadt stand ihm zur Verfügung. Zwar hatte diese stark geschminkte Agnes Herbst sich ausbedungen, dass er niemals erst nach zehn Uhr abends heimkehrte, weil sie ihren Schlaf benötigte und nicht Abend für Abend von seinem Schlüsselgerassel geweckt werden wollte, doch war das ein Hinderungsgrund? Wenn sie Ärger machte, würde er eben wieder ausziehen. Es gab jede Menge alte Witwen, die Zimmer vermieteten.
Aber er wollte ja gar nicht mehr weg, hatte zu nichts Lust. Kurz entschlossen zog er sich aus und legte sich in das noch so fremd riechende Bett mit der steif gestärkten Bettwäsche. Und dann lag er da und wusste schon, dass er mal wieder lange nicht würde einschlafen können. Immer wieder neue Betten, stets und ständig Fremdes um ihn.
Und? Woran sollte er jetzt denken? Daran, wie er doch noch den Gong geschlagen hatte?
Er hatte das eigentlich gar nicht mehr tun wollen, doch dann war die Sache mit Karo passiert, und aus dem zuvor so mildfreundlichen Pater Constantin war wieder der alte Knochen geworden, der ihn schon auf dem Weg zum Verbrecher sah. Während seines letzten Mittagessens im Kreis der anderen hatte der Pater dagestanden und ihn angeblitzt, als könnten seine Augen Feuer speien und ihn niederbrennen. Und auch in ihm hatte es gebrodelt. Er bemerkte gar nicht, was er aß, schlang es nur einfach runter. Und als das Mittagessen beendet war, stand vor dem Speisesaal die Mutter, um ihn abzuholen. Sonntäglich fein gemacht stand sie da, aber ohne Greta. Sicher damit die Schwester nicht mitbekam, wo sie ihn hinbrachte. Und da war es über ihn gekommen, er hatte laut gelacht, zum Schlägel gegriffen und den Gong geschlagen. Und das mit aller Kraft. Es tönte und schepperte so laut, als stünde der Weltuntergang bevor.
Vor Schreck kalkweiß im Gesicht, hatte die Mutter ihn angestarrt. »Was soll denn das?«
Seine kalte Antwort: »Ich wollte nur Auf Wiedersehen sagen.«
Er erzählte ihr nichts von Karo. Und Pater Constantin hielt es wohl nicht mehr der Mühe wert, die Mutter über ihren verbrecherischen Filius aufzuklären. Dabei war die Sache mit Karo gar nicht so schlimm ausgegangen. Er hatte sich bald wieder aufgerappelt und ihm vorgeheult, dass er ihm das Karussell doch nur deshalb fortgenommen hatte, weil er so traurig darüber war, wieder einen Freund verloren zu haben.
Karo war ein armer Hund. Sie hatten doch nur einige Zeit das Zimmer miteinander geteilt, wirkliche Freunde waren sie nie …
Ein Blick zum Nachttisch. Dort, im Schein der kleinen Nachttischlampe, stand es, das Karussell, das an dem ganzen Abschiedsärger die Schuld trug. Abgesehen von seiner Kleidung, ein paar schon sehr zerlesenen Abenteuerromanen und seinem Waschzeug, der einzige Gegenstand in dieser Kammer, der ihm gehörte.
Er nahm es in die Hand und zog es auf. – Wie laut der Walzer zu hören war in der Stille dieses ihm noch so fremden Raums! Wie die Farben im Lichtschein glänzten! Sein einziger, treuer Begleiter. Was für ein Glück, dass die Schwester, die damals noch so kleine, niedliche Greta, ihm unbedingt dieses Karussell schenken wollte!
Wann aber würde er sie wiedersehen? Seit er zur Untermiete lebte, hatte die Mutter sie noch kein einziges Mal mitgebracht. Befürchtete sie wirklich, dass der Kontakt zwischen Greta und ihm, jetzt, da er sich frei bewegen konnte, allzu eng werden könnte? Bereute sie längst, dass sie die Schwester überhaupt jemals mitgebracht hatte?
Der Walzer verklang, er stellte das kleine Blechspielzeug auf den Nachttisch zurück, löschte das Licht und schloss die Augen. Einschlafen müsste er jetzt können, einschlafen und an nichts mehr denken. Doch anstatt müde wurde er immer wacher. Bis er die Bettdecke beiseitewarf, aufsprang und sich erneut ans Fenster stellte.
In einer der Wohnungen rund um den Hof weinte ein Kind, eine Frau schimpfte, ein Mann lachte laut. Von etwas weiter her drangen Akkordeonklänge an sein Ohr. Er spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog. Hastig schloss er das Fenster, legte sich wieder hin und verkroch sich unter der Decke.
Nein, mit der Nr. 3 hatte er es nicht schlecht getroffen. Diese Agnes Herbst besaß sogar ein Bad, er musste sich nicht mehr in der Küche waschen, wie es zuvor üblich gewesen war. Und betrat er danach ihre Küche, hatte sie schon sein Frühstück vorbereitet und begrüßte ihn mit frühmorgendlich ernster Feierlichkeit, um sich gleich darauf vornehm zurückzuziehen. Erst wenn er fertig gefrühstückt hatte, setzte sie sich für ein paar Minuten zu ihm, um sich ein wenig mit ihm zu unterhalten. Und dann durfte er sich mal wieder darüber wundern, dass diese Agnes Herbst, die tagsüber die große Dame spielte und schmuckbehangen und grell geschminkt durch ihre Wohnung stolzierte, morgens so wenig auf sich hielt. Mit müden, vom Schlaf verquollenen Augen saß sie ihm dann gegenüber, um »die Weltlage« zu besprechen, wie sie das nannte.
Anfangs ging es aber mehr um ihn. Bereits während ihres zweiten Morgengesprächs fragte sie ihn, woher er denn das wunderschöne Karussell habe, das auf seinem Nachttisch stehe. Sie hatte es gesehen, als sie ihm einen blühenden Geranientopf aufs Fensterbrett stellte. Und – er staunte über sich selbst – er wich dieser Frage nicht aus, sondern erzählte ihr gleich die ganze Greta-Geschichte. Er wusste selbst nicht, was ihn so redselig gemacht hatte.
Sie hörte sich alles an und nickte zufrieden. »Ein schöner Zug von Ihnen, Herbert, dass Sie dieses Spielzeug so hoch in Ehren halten.«
Bald wagte auch er, ihr Fragen zu stellen: Ob sie schon immer in Berlin gelebt habe, und weshalb sie Untermieter aufnehme, sie brauche die Miete doch sicher gar nicht.
Sie sei in Königsberg aufgewachsen, erzählte sie bereitwillig. Ihr Mann, ein Offizier, der es, bevor er im Krieg fiel, bis zum Major gebracht hatte, habe sie dort weggeheiratet und nach Berlin »verfrachtet«. Jetzt sei sie schon seit zehn Jahren Witwe, kinderlos und viel zu alt, um noch ein neues »Männerglück« zu finden. Und natürlich sei sie nicht aus Not Zimmerwirtin geworden. Sie vermiete das schmale Zimmerchen allein deshalb, um nicht ganz allein leben zu müssen. Das allerdings nur an junge Männer.
Ein »Geständnis«, das ihn verlegen machte. War sie etwa doch so eine Art »Tante Bertha«?
Sie sah ihm seine Furcht am Gesicht an, lächelte und beruhigte ihn: »Keine Sorge, das hat keinerlei erotische Hintergründe. Ich komme mit jungen Frauen eben nicht so gut aus. Vielleicht machen sie mich neidisch. Bei jungen Männern kann ich ein bisschen die fürsorgliche Gouvernante spielen.«
Von diesem Tag an beschloss er, sie zu mögen. Es machte ihm Spaß, sich mit ihr zu unterhalten. Und das nicht nur morgens. Kam er abends heim, spielte sie hin und wieder die Gräfin, die einen Empfang gab und noch mehrere Gäste erwartete, obwohl sie auch dann miteinander allein blieben, und war erst recht zum Reden aufgelegt.
»Nun?«, fragte sie dann hoheitsvoll. »Wie war’s auf dem Bau?« Und antwortete er: »Wie immer. Viel Arbeit«, dann seufzte sie bestätigend. »Ja, das Leben ist nicht aus Marzipan geknetet. Wer sich nicht bückt, der wird geduckt.«
An solchen Abenden servierte sie ihm Tee und Gebäck und sie saßen in ihrem Wohnzimmer mit den schönen, sorgfältig gepflegten Eichenholzmöbeln beieinander und es ging wirklich über die »Weltlage«. Über Nazis, Kommunisten, Sozialdemokraten und alle möglichen anderen »Weltverbesserer« unterhielt sie sich mit ihm und hatte zu allem ihre eigene Meinung. Meistens landeten sie aber schon bald wieder beim »Privatkram«. Nicht lange, und sie wusste alles über seine Waisenhaus-Erlebnisse und vieles über die Mutter, für die sie Verständnis zeigte, ohne sie zu verteidigen. Hatte er mal keine Lust, von sich zu erzählen, schwelgte sie in eigenen Jugenderlebnissen.
Einmal zeigte sie ihm dazu die entsprechenden Fotos. Auf einem war eine große weiße Villa zu sehen, vor der eine vielköpfige Familie stand. Das hübsche, junge Fräulein im hellen Rüschenkleid, das einen geschlossenen Sonnenschirm in der Hand hielt und in die Kamera starrte, als hätte sie dem Fotografen am liebsten die Nase abgebissen, das war sie selbst, eine noch sehr, sehr junge, doch bereits überaus selbstbewusst blickende Agnes.
Ein anderes Foto zeigte einen noch sehr jungen, bartlosen Mann in Leutnantsuniform – Friedrich Wilhelm Herbst, ihr späterer Mann, aus dem einige Fotos weiter ein schnauzbärtiger Hauptmann und noch später ein müde dreinschauender, grauhaariger Major geworden war.
»Ja«, sagte sie und seufzte. »So ist das nun mal: Der Zahn der Zeit nagt und nagt. Damals waren wir jung, heute sind wir alt oder leben nicht mehr. Doch darf unsereins klagen? Hatte immer ein angenehmes Leben, kannte keinen Hunger und keine Not … Allerdings frage ich mich, je älter ich werde, immer öfter, ob ich richtig gelebt habe. Wofür war ich gut? Nicht mal Kinder habe ich bekommen … Wenn mir der liebe Gott eines Tages ein Bein stellt, wird die Welt keine Miene verziehen. Sie weiß ja gar nicht, dass es mich gibt.«
Sagte es, seufzte noch mal und rief sich gleich darauf zur Ordnung: »Entschuldigung! Wie sollen Sie mein Gejammer denn verstehen können, Sie mit ihrem schlimmen Schicksal. Doch trösten Sie sich, lebt man in seiner Jugend in einem Paradies, sehnt man sich sein ganzes späteres Leben danach zurück. Für Sie, lieber Herbert, kann alles nur noch viel besser werden. Das ist, so verrückt es Ihnen auch erscheinen mag, ein großes Glück.«
Sie wollte, dass es besser für ihn wurde, und bemühte sich mit der Zeit immer intensiver um seine, wie sie sagte, bisher so böse vernachlässigte Erziehung. Vor allem gegen seine häufigen Kneipenbesuche kämpfte sie an.
»Ja, ich weiß«, sagte sie, wenn sie ihm mal wieder ansehen konnte, woher er kam. »Ist das Leben mal nicht schön, musst du in die Wirtschaft gehn! Doch glauben Sie mir, die Welt wird um keinen Deut angenehmer, nur weil man sie sich für ein paar Stunden hübschgetrunken hat.«
Auch vor den »falschen Frauen«, die in solchen »Saufbuden« ihr Zuhause fanden, warnte sie ihn. »Sie sind ja nun so gut wie erwachsen, Herbert, wir dürfen deutsch miteinander reden. Deshalb: Gehen Sie niemals mit solch einem Kneipenschmuddel mit. Bewahren Sie sich Ihre Würde. Das sage ich Ihnen nicht aus moralischen Erwägungen heraus oder weil ich Gesundheitsbedenken habe, sondern nur, weil ich nicht möchte, dass Sie sich wegwerfen. In Ihnen steckt mehr, als Sie selber ahnen. Haben Sie Geduld, irgendwann kommt sie schon, die Richtige.«
Es verstand sich von selbst, dass er keines dieser »Schmuddel« mit auf sein Zimmer nehmen durfte.
Willig nahm er ihre Mahnungen in sich auf. Er war überzeugt davon, dass sie recht hatte. Hören aber konnte er nicht auf sie. Wo sollte er seine Abende denn sonst verbringen, wenn nicht in der Kneipe? Er konnte doch nicht Abend für Abend auf ihrem geblümten Sofa die Weltlage besprechen oder ins Kino rennen. Anfangs hatte er sich ja dagegen gewehrt, sein sauer verdientes Geld in den Kneipen zu lassen. Da war er lieber spazieren gegangen, die ganze Stargarder rauf und runter, am Stadtbauernhof mit den Pferde- und Kuhställen und den unterschiedlichsten Handwerksbetrieben und Ladengeschäften vorüber und links und rechts durch die Seitenstraßen hindurch. Die ganze Gegend hatte er abgeklappert, bis ihm das zu langweilig wurde. In den Kneipen war Leben, und da blieb er nie lange allein, sondern wurde schon bald angesprochen und zum Mittrinken und Mitreden aufgefordert.
Und was die »falschen Frauen« betraf, kam jede Warnung zu spät. Es war längst an der Zeit gewesen, es hatte endlich mal passieren müssen.
Die blonde Mimi Stolz, eine der zahlreichen Kriegerwitwen, nicht mehr jung und noch nicht alt, nicht hässlich und keine Schönheit, war es, die ihn »entjungfert« hatte. Eines Abends, als er schon ziemlich angetrunken war, hatte sie ihn einfach untergehakt und mit nach Hause genommen. Am nächsten Morgen hatte er sich dafür geschämt, dass er sich auf so dumme Weise hatte abschleppen lassen. Andererseits war dieses erste Mal eine richtige Erlösung für ihn gewesen. Wie ein Stausee war es aus ihm herausgebrochen, und endlich musste er nicht mehr dieses Manko mit sich herumschleppen, zwar groß und kräftig, aber noch immer kein richtiger Mann zu sein.
Agnes Herbst hatte ihm angesehen, was in dieser ersten Nacht, in der er nicht nach Hause gekommen war, passiert war. Doch war sie nicht darauf eingegangen, hatte nur streng die Augenbrauen gerunzelt. Als lebenskluge Frau hatte sie sicher längst geahnt, dass es trotz all ihrer Mahnungen irgendwann dazu kommen würde.
Nicht so viel Verständnis brachte sie auf, wenn sie ihm ansah, dass er mal wieder in eine Schlägerei geraten war. »Wer Grips hat, benutzt sein Köpfchen, um sich mit der Welt auseinanderzusetzen«, schimpfte sie dann und machte ein sehr ärgerliches Gesicht. »Wer nur die Fäuste sprechen lässt, hat sein großes Hirn ganz umsonst bekommen.«
Was hätte er dem schon entgegensetzen sollen? Tatsache war nun mal, dass auch Leibelts Truppe nach Feierabend öfter durch die Kneipen zog. Es ging darum, die Steinlaus zu ertränken, die sich während der Arbeit in ihnen eingenistet hatte. Dabei kam es nicht selten zu Schlägereien: Nazis gegen Kommunisten, Kommunisten gegen Sozialdemokraten, Sozialdemokraten gegen Nazis. Ein falsches Wort und schon ging es los.
Er war weder Nazi noch Kommunist oder Sozialdemokrat, doch fühlte er sich nach solchen Schlägereien jedes Mal irgendwie befriedigt. Er hatte das Gefühl, dass es ihn irgendwie befreite, wenn er mal so richtig zuschlagen durfte. Alle diese Großfressen ödeten ihn von Monat zu Monat mehr an. Sie meinten, alle Wahrheiten der Welt für sich gepachtet zu haben, und dabei wussten sie doch nicht mehr als er.