Mamatschi
Wieder ein solch sonniger Sonntag. Zusätzlich mit großer Hitze gesegnet. Auf dem Teerbelag der Straßen lief es sich wie auf Gummi, die Steinplatten der Bürgersteige schienen zu glühen. Barfüßige Kinder sprangen darauf hin und her, so sehr brannte es ihnen unter den Fußsohlen. Ein Tanz, der ihnen Vergnügen bereitete, sie lachten und kreischten laut.
Bertie, auf dem Weg zum Prater, war ebenfalls nach Springen zumute. In ein paar Minuten würde er Greta wiedersehen; er war so voller Vorfreude, er musste sich bemühen, nicht unentwegt vor sich hin zu grinsen. Diesmal jedoch war sie nicht vor ihm da, er musste warten.
Leise pfeifend wanderte er vor dem Eingangstor auf und ab. Eigentlich kaum zu glauben, dass sie sich Sonntag für Sonntag mit ihm traf. Als hätte ein so junges Mädchen nichts Besseres zu tun, als sich am einzigen freien Tag der Woche mit ihrem ihr doch eigentlich recht fremden großen Bruder zu treffen.
Immer ungeduldiger hielt er nach ihr Ausschau. Bereits zwanzig Minuten über der Zeit! Spielte sie bereits das gnädige Fräulein, das den Verehrer ein wenig zappeln ließ? Oder kam sie eventuell gar nicht? Vergangenen Sonntag hatte er mit dieser Möglichkeit gerechnet … Aber nein, sie brauchte ja die Fotos zurück. Irgendwann würde die Mutter ihr Fehlen bemerken. – Oder hatte sie es bereits bemerkt und Greta ihr alles gestanden und Ausgehverbot bekommen?
Eine ganze Stunde lang wartete er, dann gab er es auf. Doch das erst nach längerem Zögern. Er hatte sich so auf Greta gefreut, der ganze Sonntag, die ganze zurückliegende Woche war ihm verdorben. Und die vor ihm liegende auch. Mit einem trüben Gefühl im Herzen kehrte er in die Stargarder Straße zurück und warf sich, ohne der ihn verdutzt anblickenden Agnes Herbst irgendetwas zu erklären, in seinem Zimmer aufs Bett.
Was war passiert? Hatte sie ihn absichtlich versetzt? Nein, das konnte, das wollte er nicht glauben. Es musste etwas vorgefallen sein. Nur was?
Die Fotos! Es gab keine andere Möglichkeit. Die Mutter musste entdeckt haben, dass einige fehlten. Dazu Gretas Fragerei in der Woche zuvor, als sie versuchte, etwas über seinen Vater herauszubekommen … Zur Rede gestellt, wird sie, in der Überzeugung, nichts Unrechtes getan zu haben, der Mutter von ihren Treffen erzählt haben.
Er sprang auf, ging an seine Jacke, nahm den Umschlag mit den Fotografien heraus und sah sich die Bilder noch einmal an, obwohl er sie inzwischen auswendig kannte. Auf einem war die Mutter zu sehen, noch sehr jung und Greta nicht unähnlich: ein frisches, lebenslustig in die Kamera lächelndes junges Mädchen, das ihm ganz sicher gefallen hätte, wenn er beim Betrachten nicht immer die so herbe und in seiner Anwesenheit oft missmutig wirkende Frau vor Augen gehabt hätte, die später aus ihr geworden war. Auf einem anderen Foto: die Großeltern. In steifer Haltung sitzen sie auf einer Bank, Josef Lenz, ein dunkeläugiger, glatt gescheitelter, etwa fünfunddreißigjähriger, schmalgesichtiger Mann mit Kaiser-Wilhelm-Schnauzer, und seine Frau Caroline, rundlich, gutmütig, blond, mit Blümchenhut auf dem Kopf. Auf einem später aufgenommenen Foto ist das Paar dann schon sehr viel älter und ihre vier halb erwachsenen Töchter umgeben sie, alle dunkel gekleidet.
Immer wieder hatte er sich in der vergangenen Woche diese Fotos angeschaut. Da gab es ja noch so viele andere Gesichter zu studieren, jede Menge Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen. Und zu jedem Gesicht hatte Greta einen Namen notiert: Tanten und Cousinen namens Frieda, Herlinde, Valeska, Katharina, Anna, Hedwig, Maria, Gertrud und Susanna, Onkel und Cousins, die Vinzenz, Paul, Simon, Johann, August und Alfred hießen. Mit Büroklammern hatte sie an jedes dieser Fotos die mit ihrer zierlichen Handschrift beschriebenen Zettel geklemmt. Doch was für ein Gefühl, auf diese Weise so viele Menschen kennenzulernen, die alle irgendwie mit ihm verwandt waren. In einer Zeitschrift hatte er mal einen Stammbaum abgebildet gesehen; jeder Name ein Ast. Auch aus diesen Namen und Gesichtern ließe sich ein solcher Stammbaum basteln. Nur er selbst und sicher auch das Kind dieser ebenfalls verfemten Tante Magda hatten an diesem Baum nichts zu suchen.
Noch einmal ließ er alle diese Fotos durch seine Hände gleiten. Seine Familie? Quatsch! In Wahrheit hatte er mit diesen Leuten nichts zu schaffen. Wer ohne Eltern und Großeltern, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen aufwuchs, der konnte weder Ast noch Blatt an irgendeinem Stammbaum sein, der hatte nur eine Chance: selber ein Baum zu werden und irgendwann Äste, Zweige und Blätter zu treiben.
All diese Menschen auf den Fotos, er kannte sie nicht und sie kannten ihn nicht. Träfe er sie auf der Straße, würden sie achtlos aneinander vorübergehen. Also nichts wie raus aus dem Kopf mit allen diesen Gesichtern und Namen! Guten Tag und guten Weg! Doch eine Katastrophe wäre es, sollte er ihretwegen auch noch Greta verlieren.
Eine Woche, die nicht vergehen wollte. Tag für Tag redete er sich gut zu: Möglicherweise stand Greta nächsten Sonntag ja doch wieder vor dem Prater. Konnte ja sein, dass sie ganz einfach nur krank geworden war. Wieso hatte er das in seiner großen Enttäuschung nicht bedacht?
Als er sich dann endlich wieder auf den Weg zum Prater machen konnte, war er überzeugt davon, dass es für alles eine ganz simple Erklärung gab. Warum vermutete er denn hinter allem und jedem gleich etwas Böses? Weil seine Vermutungen sich meistens als richtig erwiesen hatten? Ja, aber es hatte auch Ausnahmen gegeben; es konnte sich immer noch alles als ganz harmlos herausstellen.
Doch wartete er auch an diesem Tag vergebens. Und kam sich bald lächerlich vor. Wer war er denn, dass er sich auf diese Weise zum Hanswurst machen ließ? Wenn Greta nicht kommen konnte – vielleicht weil sie krank war –, dann musste eben er zu ihr gehen. Oder durfte ein Bruder seine Schwester nicht besuchen, nur weil ihre Mutter solche Besuche nicht wünschte?
Verdammt noch mal, er war erwachsen, er besuchte, wen er wollte. Oder sollte er sich etwa vor ihrem Mann fürchten, diesem verhinderten Opernsänger?
Nein, er war kein kleiner Junge mehr, der sich so einfach abschieben ließ. Schnellen Schrittes machte er sich auf den Weg zur Immanuelkirchstraße. Unterwegs redete er weiter auf sich ein.
Jawohl, die Zeiten hatten sich geändert, er ließ sich nicht länger beiseiteschieben, nur weil er die Folge eines Fehltritts war. Diesen Fehltritt – egal ob aus Furcht, Dummheit oder Leichtsinn – hatte die Mutter zu verantworten, nicht er. Greta zuliebe würde er ihr all die Jahre, in denen er sie nur so selten zu Gesicht bekommen hatte, ja sogar verzeihen. Und auch, dass ihr Mann ihr wichtiger gewesen war als der Sohn – vergeben und vergessen. Nicht verzeihen aber würde er ihr, wenn sie ihm nun auch noch Greta nahm.
Vor der Nr. 26 blieb er stehen. Nie hatte er das Haus betreten, obwohl manchmal eine heftige Versuchung in ihm aufgekommen war, einfach mal hineinzugehen. Und sei es nur, um bis zu ihrer Wohnungstür hochzusteigen und die Tür anzustarren, als könnte sie ihm verraten, wie es dahinter aussah.
An diesem Tag überlegte er nicht lange. Er stieß die Haustür auf und stiefelte die Treppe hoch, von Stockwerk zu Stockwerk, um an jedem Türschild die Namen zu studieren. Er hätte es sich leichter machen können, wenn er auf den stillen Portier geschaut hätte, der im Hausflur an der Wand hing und den Besuchern verriet, in welchem Stockwerk welche Mieter wohnten. So viel Geduld aber hatte er nicht aufgebracht.
Dritter Stock: Hugo Ditters! Hinter dieser Tür wohnten sie also, die Mutter, Greta und jener Mann, der über die Mutter bestimmte und sich vor einer studierten Tochter fürchtete.
Er hatte die Hand schon ausgestreckt, um an der Klingel zu ziehen, zögerte aber. Was sollte er sagen, wenn dieser Ditters öffnete? Guten Tag, ich bin Ihr Stiefsohn und will zu meiner Schwester? Und was, wenn die Mutter öffnete? Will nur mal kurz nach Gretchen sehen?
Am einfachsten wäre es, wenn Greta zur Tür kommen würde. Dann brauchte er ihr nur den Umschlag mit den Fotos in die Hand zu drücken und zu fragen, weshalb sie vorige Woche verhindert war.
Noch immer unentschlossen, starrte er die Tür an, als sie mit einem Mal geöffnet wurde und die Mutter vor ihm stand, zum Ausgehen bereit, in Kostüm und mit Hut auf dem Kopf. Erst sah sie ihn nur verdutzt an – im Treppenhaus war es nicht besonders hell, sie hatte ihn nicht gleich erkannt –, dann wurde sie bleich. »Was … was fällt dir ein?«
Wut stieg in ihm auf. Wovor hatte sie denn Angst? War er ein Einbrecher, hielt er einen Revolver in der Hand, wollte er sie überfallen? »Ist Gretchen da?«, fragte er nur kalt. »Will ihr mal Guten Tag sagen.«
Er sah, wie es in ihrem Kopf arbeitete. Fragte sie sich, woher er ihre Adresse wusste? Aber nein, wenn Greta ihr alles gestanden hatte, wusste sie das längst.
Und da kam es auch schon. »Was unterstehst du dich!«, zischte sie ihn an. »Lass die Finger von Greta. Brichst einfach in unsere Familie ein!«
Klare Worte, deutliche Worte: ihre Familie! Er gehörte nicht dazu.
Ein Griff in die Jackentasche, und schon drückte er ihr die Fotos in die Hand. »Nimm sie nur zurück, deine Familie! Oder soll ich dich von jetzt an besser siezen? Nur Verwandte oder Freunde duzen einander. Und wir sind ja, wie wir beide wissen, keines von beiden.«
»Wer ist denn da?«
Eine Männerstimme.
Bestürzt, hilflos, fast in Panik blickte die Mutter an sich herunter. Zu einer Antwort war sie nicht fähig.
Bertie nahm ihr die Mühe ab. »Der Fehltritt steht vor der Tür«, rief er laut. »Wollte mich mal vorstellen. Ist doch schade, dass wir uns so gar nicht kennen, Herr Ditters. Immerhin ist Ihre Tochter ja meine Schwester.«
»Was? Wie?« Der kleine, schmale, Bertie von seinen Beobachtungen her schon bekannte Hugo Ditters baute sich im Türrahmen auf. Er trug nur Hose, Pantoffeln und Unterhemd, der kurze Schnauzer war zerzaust, die Hosenträger baumel- ten herab. Mit verschlafenen Mäuseaugen starrte er zu ihm hoch.
Was für ein mieses kleines Männeken! Unter jeder Türritze hätte er hindurchgepasst. Und der erzählte seiner Tochter, dass allein der Krieg seine Opernsängerkarriere verhindert hatte? Den hätte auf der Bühne doch überhaupt keiner gesehen, der Souffleurkasten hätte ihn verdeckt. Beinahe hätte Bertie laut aufgelacht. »Tag, Herr Ditters! Schön, dass wir zwei beide uns mal kennenlernen. Wollte mal nach meiner Schwester schauen, wenn Sie das nicht stört.«
Die Mutter begann zu weinen, in der Wohnung wurde an eine Tür geschlagen. In Bertie zog sich alles zusammen. Also hatte er richtig vermutet: Greta wurde in ihrem Zimmer festgehalten; Sonntag für Sonntag Stubenarrest, nur damit sie ihren Bruder nicht treffen konnte.
Der kleine Herr Ditters hatte seine Überraschung inzwischen überwunden. Wie um zu beweisen, dass er sich von körperlicher Überlegenheit nicht einschüchtern ließ, polterte er los: »Verschwinden Sie, Sie Strolch! Und das möglichst rasch. Was Sie hier veranstalten, so was nennt man Hausfriedensbruch. Sind Sie in zwei Sekunden nicht weg, rufe ich die Polizei.«
»Zwei Sekunden? Na, da hab ich ja noch Zeit.« Betont langsam nahm Bertie sein Zigarettenetui zur Hand, klappte es auf und tat, als müsste er erst überlegen, welches Stäbchen er sich denn nun anzünden sollte, obwohl sie doch alle von derselben Marke waren. Als er sich endlich entschieden hatte und die Zigarette brannte, pustete er das Streichholz aus und drückte es der Mutter in die Hand. »Hab acht, dass nichts passiert. Sonst bin womöglich ich schuld daran, wenn das Haus abbrennt.«
»Sie sollen gehen!« Kampfbereit streifte Hugo Ditters die Hosenträger über. »Sie sollen verschwinden. Haben Sie das immer noch nicht kapiert?«
»Doch, doch!« Ans Treppengeländer gelehnt, nahm Bertie ein paar Züge und schaffte es tatsächlich, den Zigarettenrauch in Kringeln aus sich herauszulassen. »Auf dem Bau aber heißt’s: Eile mit Weile. Doch wenn Sie so ungeduldig sind, dann rufen Sie doch die Polizei. Das hat für mich einen großen Vorteil, dann muss ich nicht laufen, dann werde ich gefahren.«
»Sie Bastard! Sie Schuft!« Jetzt wollte er tatsächlich mit den Fäusten auf ihn los, dieser kleine Herr Ditters.
Mit der freien Hand hielt Bertie ihn auf Abstand. »Nicht doch, Hugo! Mach dich nicht unglücklich. Wenn ich dich jetzt die Treppe runterwerfe, dann ist das reine Notwehr.«
Worte, die die Mutter aufschreien ließen. »Du Schweinekerl!«, rief sie unter Tränen. »Du Schande meines Lebens!« Und damit wollte auch sie mit erhobenen Fäusten auf ihn los.
Er wich zurück. Der Blick, mit dem sie ihn ansah! Ein Blick, der sie endgültig verriet. Sie warf ihm vor, dass es ihn gab! Er, ihr Sohn, hatte sie ins Unglück gestürzt. Wäre er nicht gewesen, wäre ihr Leben womöglich ganz anders verlaufen, und sie hätte nicht diesen Hugo Ditters heiraten müssen, nur weil sie als ledige Mutter für viele andere Männer nicht mehr infrage gekommen war.
Stumm schob er auch sie von sich fort und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, die Treppe hinunter.
Erst an der Ecke Prenzlauer Allee, als er sicher war, dass die beiden Ditters ihn nicht mehr sehen konnten, falls sie ihm aus dem Fenster nachschauten, wurde er langsamer. Tief in sich hineinstarrend lehnte er sich an eine Litfaßsäule, vollgeklebt mit Kinowerbung und anderen Werbeplakaten, trat seine Zigarette aus und zündete sich sofort eine neue an.
So! Nun hatte er seinen »Besuch« bei der Mutter gehabt! Wie oft hatte er sich ausgemalt, wie ein solcher Besuch wohl verlaufen würde, falls er wirklich mal wagen sollte, bei ihr zu klingeln – jetzt wusste er es …
Zufrieden? Ja! Die letzten Zweifel, die Mutter hatte sie be-seitigt. Dieser hasserfüllte Blick, mit dem sie ihn angesehen hatte! Immer schon hatte er geahnt, dass sie sich dafür schämte, einen Bankert zur Welt gebracht zu haben, von heute an wusste er, dass er sich nicht getäuscht hatte.
Heulte er? Ja! Wie lustig! Er hätte nicht geglaubt, dass er das noch konnte. Doch war es ein sehr stummes Weinen, die Tränen liefen ihm nur einfach die Wangen herunter.
Mit dem Handrücken wischte er sie fort. Er machte sich ja vor sich selbst lächerlich. Was hatte er denn schon groß verloren? Wen Gott strafen will, dem schickt er Verwandte. Er, Bertie Lenz, brauchte keine Verwandten, er war schon genug bestraft. Sollten die Mutter und er sich irgendwann mal zufällig über den Weg laufen, würde er sie nicht mehr erkennen. Allein um Greta war es schade. Bis ans Ende ihres Lebens jedoch konnten die beiden Ditters die Schwester nicht einsperren; er würde schon Mittel und Wege finden, sie nicht aus den Augen zu verlieren.
Langsam ging er weiter, bis er an jener Kneipe vorüberkam, die einst Zum Starken Gottfried geheißen hatte. Hier hatte an jenem Sonntag, als er Greta wiedertraf, der neue Wirt vor der Tür gestanden, der so freundlich zurückgegrüßt hatte, obwohl sie einander doch gar nicht kannten. Warum sollte er nicht wieder mal hier einkehren? Er hatte Durst, musste jetzt unbedingt etwas trinken.
Alles sah verändert aus. Neue Farben an den Wänden, neue Lampen, neue Gardinen, neue Tischdecken. Und hinter der Theke stand kein starker Gottfried und kein gemütlicher Dicker, sondern eine schlanke, dunkelblonde Frau im weißen Kittel. Mit einem Kopfnicken begrüßte sie den neuen Gast.
Er nickte zurück und stellte sich in den schmalen Gang zwischen der Theke und dem Fenster, das zur Prenzlauer Allee zeigte. Von hier aus konnte er, den Ellenbogen auf die erhöhte Balustrade der Theke gestützt, das ganze Lokal überblicken. Und hatte niemanden im Rücken.
»Ein Bier?«, fragte die Frau im weißen Kittel.
Wieder nickte er nur. Um diese Zeit waren kaum Gäste da, erst am späten Nachmittag würde sich das Lokal füllen.
Sie stellte das frisch gezapfte Bier vor ihn hin, er nahm es gleich in die Hand und trank das Glas in einem Zug aus.
»Na, Sie müssen ja völlig ausgetrocknet sein.« Die noch recht junge Frau, sicher die Wirtin, lächelte. »Noch eins?«
»Mindestens.«
Sie zapfte noch ein Bier ab, sorgte dafür, dass eine schöne Blume hinaufkam, und drückte es ihm gleich in die ausgestreckte Hand. »Neu in der Gegend?«
Er trank erst, dann wischte er sich den Schaum vom Mund. »Nee! War nur lange nicht hier. Zuletzt stand hier noch Gottfried hinter der Theke.«
»Das ist aber schon lange her.« Sie begann, Gläser zu spülen. »Vor vier Jahren haben mein Mann und ich den Laden übernommen. Herr Blanck züchtet jetzt Rosen und Primeln.«
»Und sicher auch Stiefmütterchen«, ergänzte er, ohne zu wissen, warum er das sagte. Vielleicht nur, um das Gespräch in Gang zu halten.
Ein Weilchen schwiegen sie, dann sagte er: »Nicht viel los um diese Zeit, was?« Es beruhigte ihn, mit dieser Frau zu reden. Sie hatte etwas so Tröstliches an sich, obwohl er sich nicht erklären konnte, was es war und woher es kam.
»Na ja, am Sonntagvormittag! Und bei diesem schönen Ausflugswetter! Abends ist es mir dafür manchmal ein bisschen zu belebt. Und vor allem zu laut.«
Auch ihre Stimme war voll Wärme. Eine sehr sympathische Frau. Sicher nur zwei, drei Jahre älter als er.
»Darf ich noch ein Bier haben, Madame?«
»Was denn sonst?« Sie musste lachen. »Ist ja mein Geschäft, Bier zu verkaufen.«
Was für ein angenehmes, freundliches Lachen! Bertie lächelte mit und schüttelte innerlich den Kopf: Was manche Männer doch für ein Glück hatten!
Es war längst später Abend, da stand er immer noch an der Theke. Er konnte sich einfach nicht losreißen. Die Nähe dieser Frau, wie tat sie ihm gut!
Wie viele Biere er inzwischen getrunken hatte? Er wusste es nicht mehr. Wozu mitzählen? Die so freundliche Wirtin, von der er inzwischen wusste, dass sie Lisa hieß und einen Sohn hatte, und auch der Wirt, dieser gemütliche dicke Schorsch, hatten alles auf dem Bierdeckel notiert.
Noch mehr Bier aber durfte er nicht trinken. Sonst kam er von der Toilette ja gar nicht mehr runter. Lieber pickte er Körner – Kornschnäpse sollten ihm Gemüt und Leber kitzeln.
Der Schnaps brannte im Hals und im Magen, das Deckenlicht in dem Zigarettenqualm, der durch das ganze, inzwischen gut gefüllte Lokal waberte, begann zu schwanken. Er trank sonst kaum Schnaps, aber hier stehen und ohne etwas zu trinken die Wirtin anstarren, das ging nicht.
»Mein lieber Schorsch, bitte das nächste Körnchen für den einsamen Hahn.«
»Wird das nicht zu viel?« Diese Lisa hatte schon mehrfach besorgt die Stirn gekraust, jetzt legte sie ihre Hand auf das leere Glas, um ihren Mann daran zu hindern, ihm weiter nachzuschenken.
»Zu viel?« Er lachte übertrieben laut. »Was ist schon ›viel‹? Kommt’s im Leben mal zu dicke, hilft nur Schnaps und kein Gezicke!« Sachte nahm er ihre Hand weg und deutete auf das leere Schnapsglas und der dicke Schorsch zuckte die Achseln und schenkte nach. »Bei mir ist der Kunde König.«
»So ist’s richtig!« Er kippte das scharfe Zeug hinter – und wurde traurig. »Kennt ihr das Lied von Mamatschi?«, fragte er.
Sie kannten es nicht, und da hub er an, erst leise, dann immer lauter: »Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen! Ein Pferdchen wär mein Paradies.« Er sang das ganze Lied und zum Schluss, unter Tränen: »Mamatschi, solche Pferdchen wollt ich nicht …«
»Bitte!« Die freundliche Lisa, nun blickte sie noch ernster. »Trinken Sie jetzt nichts mehr. Sie haben Kummer, das sieht man Ihnen an. Aber das Trinken ändert ja nichts. – Wohnen Sie denn weit von hier? Soll mein Mann Sie nach Hause bringen?«
Er riss die Augen auf. Was war denn das? Sie wollte, dass er heil nach Hause kam? Aber wo hatte es das denn schon mal gegeben, dass eine Wirtin sich dermaßen um ihre Gäste sorgte? War er ihr vielleicht ein bisschen sympathisch?
»Gut!« Er nickte brav. »Dann … dann geh ich jetzt mal. Aber … alleine. Doch der Bertie kommt wieder. Ihr … ihr seid so angenehme Leute …«
Er wollte noch weiterreden, da ging die Tür und fünf SA-Männer betraten die Gaststube. Vor der Theke blieben sie stehen und sahen sich um, als wollten sie kontrollieren, wer hier alles beieinandersaß.
»Seien Se jetzt bloß still«, flüsterte Lisa. »Die lauern auf jedes falsche Wort.«
Er versuchte, sich zusammenzureißen. Zwar hatte dieser Anblick ihn nicht ernüchtert, dazu hatte er zu viel getrunken, doch dass er ab sofort vorsichtig sein musste, war ihm bewusst. Die Zeit, in der man sich mit den Nazis herumprügeln durfte, war vorbei. Der Josef Weinrich und seine Leute waren keine politischen Spinner mehr; seit einem halben Jahr waren sie an der Regierung, und solche wie der Polier Leibelt und besonders der rote Rudi und seine Gesinnungsgenossen mussten leise sein, wollten sie nicht festgenommen und in irgendwelche SA-Kasernen verschleppt werden. Die SA, noch vor Monaten als Schläger- und Mörderbande gebrandmarkt, jetzt war sie Polizei. Zwar nur Hilfspolizei; die echten, die wahren Polizisten jedoch mussten vor den Weinrichs kuschen.
»Guten Abend, ihr Götter!« Verdammt, jetzt war ihm doch etwas herausgerutscht. Aber waren sie denn nicht wirklich Götter? Alle anderen Parteien hatten sie kaltgestellt, sogar schießen durften sie, wenn ihnen wer in die Quere kam. Alles durften sie seit Neuestem, sogar den Reichstag anzünden und es den roten Rudis in die Schuhe schieben …
Die fünf Uniformierten – Hakenkreuzbinde am Arm, Schaftstiefel an den Füßen, Schultergurt über der Brust, Tschako auf dem Kopf und Sturmriemen unterm Kinn – drehten sich zu ihm um. Und da wollte er lachen und das leere Schnapsglas heben, um ihnen zuzuprosten, als er das Glas schon wieder sinken ließ: Der nicht sehr große und nicht sehr breite Blasse, der als Erster durch die Tür gekommen war und sich ganz besonders straff hielt, das – das war doch Theo Thielecke! Zwar hatten sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen, doch es gab keinen Zweifel: Jener Sturmführer, der ihn nun so aufmerksam musterte, war niemand anderes als sein ehemaliger Schulfreund Theo Thielecke.
»Sieh an, der Lenz!«
Auch Theo hatte ihn erkannt, freute sich aber nicht, ihn wiederzusehen. Sie waren nicht als Freunde auseinandergegangen. Doch was für ein Zufall, dass sie sich ausgerechnet hier wiederbegegneten, in jener Gaststätte, in der geschehen war, was letztendlich zu ihrem Zerwürfnis geführt hatte?
Langsam bewegten die fünf sich auf Bertie zu. »Betrunken?«, fragte Theo spöttisch, als sie vor ihm standen.
»Ja«, antwortete die Wirtin für ihren Gast. »Seit dem frühen Mittag steht er hier. Erst Bier, dann Schnäpse. Der hat irgendeinen Kummer und weiß schon lange nicht mehr, was er redet. Am besten links liegen lassen.«
»Aber nicht doch!« Wer war er denn, dass eine Frau ihn in Schutz nehmen musste? Er, Bertie Lenz, stand auch mit ein paar Bierchen und Klaren im Bauch seinen Mann; niemand durfte ihn links liegen lassen. »Mein Kummer ist mein Kummer, der geht niemanden was an. Und ich weiß noch genau, was ich sage. Und deshalb sage ich, dass du, Theodor Thielecke« – er stieß dem ehemaligen Freund mit dem Zeigefinger vor die Brust – »schon immer ein Schwein warst. Und nun – taratara! – hast du noch jede Menge andere dumme Schweine gefunden, unter denen du ganz besonders dreckige Sau nicht auffällst.«
Das Stimmengewirr verstummte. Kein Gläsergeklapper, kein Stühlerücken mehr. Es war, als wären alle, die in diesem Raum beisammensaßen, von einer plötzlichen Lähmung erfasst worden.
Allein Lisa war zu einer Reaktion fähig. Bevor einer der SA-Männer sich rühren konnte, schlug sie ihrem betrunkenen Gast über die Theke hinweg schon rechts und links ins Gesicht. »Nun ist’s aber genug! Wie reden Sie denn mit meinen Gästen? Schämen Sie sich denn gar nicht? Diese Männer verrichten Polizeidienst. Sie schützen uns vor dem verlausten Gesindel, das uns bedroht. Wie kommen Sie dazu, diese Männer dermaßen zu beschimpfen?«
Und mit raschen Schritten kam sie um die Theke herum und packte ihn am Kragen, als wäre sie selbst bei der SA. »So! Und jetzt ab in die Küche. Dort werden Sie sich unter der Wasserleitung abkühlen und sich danach bei diesen tapferen Männern in aller Form entschuldigen. Und das vor all meinen Gästen, damit jeder sieht, dass ich so etwas nicht durchgehen lasse.«
Bleichen Gesichts folgte er ihr. Erst jetzt war ihm bewusst, was er gesagt hatte.
»Moment!« Der Sturmführer machte ein paar Schritte, als wollte er die Wirtin daran hindern, sich für ihren Gast einzusetzen, überlegte es sich dann anders und winkte nur noch ab. Dafür musterte er rasch die sonstigen Anwesenden. Sympathisierte etwa wer mit diesem betrunkenen Element?
»Hier hat früher viel linkes Pack verkehrt«, klärte er seine Leute auf. »Falls das immer noch so ist, werden wir hier aufräumen. Der Lenz aber, dieser versoffene Niemand, versteht nichts von Politik, der ist nur neidisch, weil er es zu nichts gebracht hat. Kenne die Kanaille von Jugend an. Ein Waisenhäusler, natürlich katholisch.«
Georg hatte sich lange nur still im Hintergrund gehalten, jetzt setzte er eine heitere Miene auf. »Was darf’s denn sein, meine Herren? Fünf Bier, fünf Körnchen?«
Der Sturmführer musterte ihn kurz, dann schnippte er mit den Fingern. »Fünf Bier, fünf Kognak. Und ’ne Prise aufrechte deutsche Gesinnung, falls Sie so was zu bieten haben.«
»Hab ich! Hab ich!« Georg beeilte sich, die gewünschten Biere zu zapfen, nebenbei füllte er die Kognakgläser. Doch sah er die fünf, die sich inzwischen gesetzt hatten, dabei nicht an. Er kannte seine Lisa, wusste, dass der betrunkene Gast nicht zurückkehren würde, um sich für seine Worte zu entschuldigen. Nur: Was geschah dann?