Das kleine Glück
Mochte die Umwelt ihrer Liebe auch mit Unverständnis begegnen, Lisa und Bertie wussten, dass sie zusammengehörten. Sie wussten es, wenn er auf seinem Platz zwischen Fenster und Theke stand und Lisa sich in ruhigen Momenten mit ihm unterhielt; sie wussten es, wenn sie in der Nacht erschöpft von ihrer Liebe Arm in Arm nebeneinanderlagen.
Nächte, wie Lisa sie noch nicht erlebt hatte. Bertie liebte sie voll Leidenschaft, erriet ihre Wünsche und erfüllte sie ihr. Er war eine ganz andere Art Mann als Georg. Sie liebte ihren Schorsch und die Erinnerung an ihre gute Zeit deshalb nicht weniger, Bertie aber erweckte etwas in ihr, was seit jenem einzigen Spaziergang mit Max wie eine Ahnung in ihr geschlummert hatte. Sie war selbst voller Leidenschaft; es bereitete ihr Genugtuung, sie auszuleben.
Alles war richtig, alles war gut. Und als besonders klug erwies sich Berties Beschluss, nicht Gastwirt zu werden. Was vie- le befürchtet hatten, trat ein: Die Politik der Nazis führte zum Krieg. Zwar hieß es, die Polen hätten das friedliebende Deutsche Reich überfallen, weshalb zurückgeschossen werden müsse; wer denken konnte, wusste es besser: Erst war Österreich »angeschlossen«, dann das Sudetenland, Böhmen und Mähren und das Memelgebiet »heimgeholt« worden – alles unblutige Eroberungen, die aus Deutschland das von vielen gewünschte Großdeutschland gemacht hatten –, jetzt streckten die Nazis ihre Krallen nach Polen aus, jetzt durfte Blut fließen.
Wäre der Anlass kein so trauriger gewesen, Bertie und Lisa hätten über die Mär vom kriegslüsternen Polen gelacht. Dass das militärisch so hoffnungslos unterlegene Polen es gewagt hätte, jenes Deutschland, das in den letzten Jahren so stark aufgerüstet hatte, anzugreifen, wer sollte das glauben? Doch wohl nur, wer diese dreiste Lüge, aus welchen Gründen auch immer, glauben wollte.
Das Problem: Alle »Ungläubigen« mussten ihre Zweifel für sich behalten. Jedenfalls solange sie nicht ganz genau wussten, wer ihnen zuhörte. Andernfalls mussten sie damit rechnen, in eines der inzwischen wie Pilze aus dem Boden geschossenen Konzentrationslager eingewiesen zu werden, aus denen, wie geflüstert wurde, nur zurückkam, wer einen Sondervertrag mit dem lieben Gott abgeschlossen hatte.
Jene Lager, so hieß es, seien zur Umerziehung uneinsichtiger oder dem deutschen Staat gegenüber feindlich eingestellter Kräfte gedacht. Seltsamerweise sollte jeder wissen, dass es diese Lager gab, gleichzeitig aber wurde streng darauf geachtet, dass nichts Genaueres darüber nach außen drang. Wenn doch mal über eines davon berichtet wurde, sei es in den Tageszeitungen, Illustrierten oder in der Kino-Wochenschau, dann war das ein so eindeutig geschönter Bericht, dass er Lisa nur noch mehr beunruhigte: Die abschreckende Wirkung war erwünscht, jeder Blick hinter die Kulissen war verboten. Das musste einen Grund haben.
Im Vordergrund all ihrer Sorgen aber stand der Krieg. Wie gut, dass Bertie nicht zu ihr ziehen und Gastwirt werden wollte! Es wurden ja täglich mehr junge Männer zur Wehrmacht eingezogen, Maurer jedoch wurden vorläufig noch verschont – im Gegensatz zu Gastwirten, deren Frauen ja den Laden schmeißen konnten. Der Aufbau der Reichshauptstadt sollte nicht ins Stocken geraten, Männer wie Bertie wurden zu Hause gebraucht. Nur: Was hieß schon »vorläufig«? Würde der Appetit der Nazis auf immer mehr denn gestillt sein, wenn Polen erobert war? Und würden bei anhaltendem Appetit bald nicht immer mehr Männer eingezogen werden?
Es war Krieg, noch aber merkte man in der Heimat nicht viel davon. Einmal abgesehen von den schon Tage zuvor eingeführten Lebensmittelkarten und einigen allseits belächelten Luftschutzübungen. Die Gäste kamen auch weiterhin zu Lisa, auf dem Bau wurde weiter die Maurerkelle geschwungen. In den Kinos liefen die lustigsten Komödien, in den Theatern standen die alten Klassiker, jede Menge Lustspiele, Opern und Operetten auf dem Programm. So einen kleinen Krieg führte das wieder erstarkte Deutschland ganz nebenbei.
Und die Welt sah zu. Zwar hatten England und Frankreich dem Deutschen Reich nur drei Tage nach dem Beginn des Polenfeldzuges den Krieg erklärt, noch aber stand man Gewehr bei Fuß. Das lustige Wort vom Sitzkrieg machte die Runde. Was war los? Schreckten die Kriegserklärer vor der militärischen Stärke der Deutschen zurück? Na, dann konnte es ja forsch weitergehen. Dieser selbsternannte »Führer« fühlte sich obenauf, und seine Anhänger jubelten: Der deutsche Soldat, der beste der Welt.
Nicht lange und aus dem »Sitzkrieg« wurde ein »Blitzkrieg«. Im April 1940 waren Dänemark und Norwegen dran, einen Monat später erfolgte der Angriff auf Holland, Luxemburg, Belgien und Frankreich. Wiederum nur wenige Wochen später wurde in Jugoslawien und Griechenland einmarschiert. Die Siegesfanfaren tönten immer lauter und viele von Lisas Gästen stellten ihre bisherige Überzeugung infrage.
Jener Führer, vor dem die ganze Welt zitterte, war ja wohl doch ein starker Mann. War es da nicht klüger, sich auf seine Seite zu schlagen, anstatt ewig ein ausgegrenzter Schwacher zu bleiben? Ein großer Unterschied, ob man nur Volksgenosse oder Parteigenosse war, wenn es um die eigene Karriere ging.
Doch nun stand die übrige Welt nicht mehr Gewehr bei Fuß. Der vergangene Krieg war nur noch Weltkrieg Nr. 1; der jetzige die Nr. 2. Immer öfter musste Lisa an ihren Vater denken. Sollte sich denn alles wiederholen? Ein anderer Krieg, ein anderer Mann, der zu ihr gehörte, und am Ende wiederum alles Bangen und Hoffen vergebens?
Für Bertie stand fest: Er wollte nicht Soldat werden, wollte nicht fort von Lisa. Doch traf es ihn, dann musste er gehen. Der Krieg fraß auch die, die nichts mit ihm zu tun haben wollten.
Weltkrieg Nr. 2 – und das Alltagsleben ging weiter. Grits Hochzeit mit Karl stand an und die Schwester wünschte sich eine große Feier. Krieg hin oder her, sie lebte jetzt; was die Zukunft brachte, wusste sie nicht.
Lisa und Lucie schmückten die Gaststube mit Papiergirlanden, alle Tische wurden zu einer riesigen Hochzeitstafel zusammengeschoben. Und dann kam auch schon Onkel Emil angereist, um mit seinen Thalenser Fleischpaketen für satte Bäuche und mit seinen Streichen und Scherzen für eine ausgelassene Stimmung zu sorgen. Seine kleine Grit heiratete, er fühlte sich als Brautvater.
Auch Hilde wäre gern gekommen, doch war sie im Jahr zuvor Mutter von Zwillingen geworden; zwei Töchter, die ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchten.
Dennoch machte der Erste Ehestandsschoppen, voll von Hochzeitsgästen, seinem Namen Ehre. Neben Karls Eltern, Geschwistern und sonstigen Verwandten waren viele seiner ehemaligen Schulfreunde und nicht wenige Kollegen gekommen. Alles Techniker, Ingenieure, Ärzte, Verwaltungsbeamte. Eine Runde, in der Bertie sich nicht wohl gefühlt hätte, wenn nicht auch Greta gekommen wäre; einziger Beweis dafür, dass auch er Familie hatte.
Sie hatten sich inzwischen schon öfter gesehen. Er hatte ja nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet, sie zu treffen. Während eines regnerischen Tages, nachdem er auf dem Bau von einer nicht genügend gesicherten Planke gestürzt war und sich böse den Knöchel geprellt hatte, war die Gelegenheit da. Am letzten Krankheitstag fuhr er mit der Straßenbahn in die Leipziger Straße und suchte das Haus mit der Tafel, die verkündete, dass hier die Rechtsanwälte Hartmann & Sohn ihre Büroräume hatten. Dann wartete er.
Es wurde ein schönes Wiedersehen. Kaum hatte Greta ihn entdeckt, kam sie schon auf ihn zugeflogen. Und da wagte er zum ersten Mal, sie zu küssen; dicker Geschwisterkuss auf beide Wangen. Seinetwegen hatte sie leiden müssen; wie sollte er das je wiedergutmachen können?
Er lud sie ins Café ein – mit einem so schick angezogenen Bürofräulein hätte er sich in keine Kneipe getraut –, und während sie Kaffee trank und Kuchen aß und er einen Schnaps kippte, erfuhr er, was geschehen war. Alle seine Vermutungen wurden bestätigt: Der Mutter war aufgefallen, dass Fotos fehlten, und gleich hatte sie Greta zur Rede gestellt. Und die Schwester, in der festen Überzeugung, nichts Unrechtes getan zu haben, hatte bereitwillig und in der Hoffnung auf Verständnis und allseitige Versöhnung alles zugegeben. Und wurde enttäuscht.
»Sie hat mich nicht geschlagen, aber die Wörter, die sie mir an den Kopf geworfen hat, waren schlimmer als Schläge. Ich dürfe mich nicht auf dein Niveau runterziehen lassen, hat sie mich angeschrien. Sie hätte für dich getan, was ihr Gewissen ihr auferlegt habe, ihre Tochter aber wolle sie nicht auch noch in der Gosse landen sehen.«
Greta waren die Tränen gekommen, er aber hatte keinerlei Zorn verspürt. Wozu auch? Für ihn alles keine Neuigkeiten. Er hatte Greta nur ernst angesehen und ganz sachlich gesagt: »Tut mir leid, aber weißt du, deine Frau Mama ist schon lange nicht mehr meine Mutter. Sie hat mich fortgestoßen, ich bin gegangen. Aus! Ich wünsche mir nur, dass du meine Schwester bleibst.« Und lächelnd: »Betrachte das als Antrag.«
Sie überlegte nicht lange, nickte gleich heftig. Und da hatte er ihre schmale, zartgliedrige Hand in seine Maurerpranken genommen und geküsst, als wäre sie seine Königin und er ihr Ritter. Vom ersten Tag an – als sie ihm das Karussell schenkte – hatte Greta ihn gemocht. Und das, ohne ihn überhaupt zu kennen, nur, weil er ihr Bruder war. Jetzt aber – und bedeutete das nicht noch viel mehr? – kannte sie ihn und mochte ihn trotzdem.
Inzwischen hatte Greta auch Lisa kennengelernt – und sich vom ersten Tag an gut mit ihr verstanden und viel mit ihr unterhalten. Nach der Mutter aber fragte Lisa sie nie, und dafür war Greta ihr dankbar: Wie sollte eine Frau, die ihren Bruder liebte, für ihre Mutter Verständnis aufbringen?
Es wurde mal wieder eine sehr lustige Hochzeitsfeier. Getanzt wurde und gesungen, viel gegessen und viel getrunken. Bertie tanzte mal mit Lisa, mal mit Greta und mal mit der kleinen Frau Rosenzweig, die so leicht war, dass er sie unter allgemeinem Gelächter nach jedem zweiten, dritten Tanzschritt so hoch und lange in der Luft herumschwenkte, bis sie vor Lachen keine Luft mehr bekam.
Sympathische Leute, dieses kleine Schneidermeister-Ehepaar. Als Lisas langjährige Stammgäste waren sie ganz automatisch zu dieser Hochzeitsfeier eingeladen worden. Von den anderen Gästen wusste ja niemand, dass der kleine Schneidermeister Jude war. Und hätte es doch wer gewusst oder am Namen gemerkt und irgendwelche dummen Sprüche vom Stapel gelassen, hätte er sich verabschieden müssen. Lisa konnte sehr halsstarrig sein, egal ob ihr das Ärger einbrachte oder nicht.
Doch kam es zu keinen diesbezüglichen Bemerkungen oder Anfeindungen. Alles blieb friedlich und das junge Hochzeitspaar, die hübsche Grit und ihr so flinker und pfiffiger Karl, feierten ausgelassen ihr Glück. Sie hatten auch allen Grund dazu: Die Firma Warnecke & Böhm, bei der der junge Bräutigam angestellt war, stellte Flugzeuglacke her, ein äußerst kriegswichtiges Produkt, und so würde er, der kompetente Fachmann, bis Kriegsende wohl nicht eingezogen werden. Weshalb also nicht diese Hochzeit so laut und lustig feiern wie nur möglich?
Bertie interessierten die Schneidersleute mehr als das Brautpaar. Bevor die Nazis an die Macht gekommen waren, hatte es ihn nie sehr gekümmert, ob einer Jude war oder nicht. Tust du mir nichts, tue ich dir nichts, so seine Devise. An diesem Tag wagte er zum ersten Mal die leise Frage: »Was haben die Nazis eigentlich gegen euch? Ich meine, was werfen sie euch vor?«
Maxe Rosenzweig blies erst mal nur die Backen auf. »An einem solchen Tag solche Fragen? Wollen Sie mir die Stimmung verderben?«
»Na ja, was da in den Zeitungen steht, wer soll das denn glauben? Geschäftemacher gibt’s doch nicht nur unter den Juden. Da muss doch irgendeine Absicht dahinterstecken.«
»So wird’s wohl sein.« Der kleine Schneidermeister nickte nachdenklich. »Wenn Sie mich fragen – und Sie fragen mich ja –, so sage ich Ihnen: Das ist gesetzmäßig. Jeder Diktator braucht eine Gefahr, die er an die Wand malen kann. Sonst weiß ja keiner, wozu er gut sein soll. Ohne Feinde, so fragt sich doch jeder, der auch nur fünf Gramm Schmalz im Kopf hat: Wozu denn eine solch strenge Diktatur? Und was ist ein Diktator ohne seine Diktatur? Eine Null, ein Nichts, den bläst der Wind fort. Aber«, und nun lächelte er spitzbübisch, der kleine Maxe Rosenzweig, »jetzt mal keine Trauer! Hat ja auch seinen Vorteil, Jude zu sein. Mit diesem Stigma ist man wenigstens nicht wehrwürdig. Wenn ich mir vorstelle, ich halbe Portion mit ’ner Knarre in der Hand – da bräuchte ich gar nicht erst zu schießen, da würde der Feind sich totlachen.«
Lächelnd prosteten sie einander zu und danach unterhielt Bertie sich ein bisschen mit Hete Rosenzweig. Auch die kleine Frau imponierte ihm. Sie hatte einen rosigen Teint und trotz der Pausbacken sehr feine Gesichtszüge. Und dazu Brombeeraugen. Vor allem aber gefiel ihm, wie sie allen Anfeindungen zum Trotz zu ihrem Mann hielt. Vor anderthalb Jahren waren die Schaufenster fast aller jüdischen Geschäfte zerstört, die Läden ausgeplündert, Synagogen in Brand gesteckt und viele jüdische Männer geschlagen und in Lager gebracht worden. Es war sogar gemunkelt worden, dass viele von ihnen jene »Reichskristallnacht« nicht überlebt hätten. Die Nazis hatten diese »Aktion« mit »Volkszorn« begründet, weil zuvor in Paris ein siebzehnjähriger Jude einen arischen Legationsrat erschossen hatte. Mal wieder eine ihrer leicht durchschaubaren Lügen. Ein »spontaner Volkszorn«, der sich in allen deutschen Städten gleichzeitig Bahn brach? Diese »Spontanität« war organisiert worden; im Organisieren waren sie ja Meister, die Nazis.
Hete Rosenzweig war anzusehen, dass nur äußerste Gewalt sie von ihrem Maxe trennen konnte. Nach Nazi-Gesetzen galt sie, solange sie zusammenlebten, als »jüdisch versippt«; ging sie mit ihm ins Bett, betrieb sie »Rassenschande«. Ein tägliches Spießrutenlaufen. Die Schneidersleute aber konnten alle Schikanen nicht auseinanderbringen. Sie lebten ihr kleines Glück, ganz egal was sich um sie herum abspielte. – Sollten Lisa und er, »Lisas Neuer«, sie sich zum Vorbild nehmen?
Sie waren inzwischen schon oft gefragt worden, weshalb sie denn nicht heirateten. In die Kneipe gehöre doch ein Mann. Lisa fragte dann jedes Mal nur zurück: »In diesen Zeiten? Da alles so unsicher ist?«; er witzelte: »Sie hat mir noch keinen Antrag gemacht.«
In Wahrheit gab es viele Gründe, besser nicht zu heiraten. Als Lisas Mann hätte er nicht mehr auf den Bau gehen dürfen; es gehörte sich nicht, seine Frau mit der Gastwirtschaft allein zu lassen. Einem Liebhaber war das nicht vorzuwerfen. Ging er aber nicht mehr auf den Bau, käme sicher bald der Einberufungsbefehl angeflattert. Außerdem – er hatte es Lisa längst gestanden – wollte er nicht hinterm Zapfhahn stehen. Er würde es nicht schaffen, auch noch zu den größten Eseln freundlich zu sein.
Dennoch: So wie Max und Hete Rosenzweig zusammenlebten und füreinander da waren, das konnte neidisch machen.
Auf Dauer bot aber auch der Maurerberuf keine Garantie, nicht eines Tages einberufen zu werden. Immer mehr von Berties Kollegen traf es. Er sagte es Lisa nicht, sie erfuhr es von ihren Gästen.
In den Nächten, wenn sie beieinanderlagen, versuchte er, ihr Mut zu machen. »Heute ist heute und nicht morgen oder übermorgen. Die ewige Grübelei, wie alles werden wird, ändert ja nichts.« Doch ließen sich die Gedanken an das Morgen und Übermorgen nicht ausblenden. Blieb nur die Hoffnung, dass der Krieg vorüber war, bevor er auch nach ihm gegriffen hatte.
Eine Hoffnung, die trog. Im Sommer 1941, nachdem die Wehrmacht eines frühen Sonntagmorgens auch noch in die Sowjetunion eingefallen war, ahnten sie, dass es bald so weit sein würde.
»Das kann nicht gut gehen«, flüsterte Lisa in der Nacht darauf mit halb erstickter Stimme. »Uns regieren Größenwahnsinnige.«
Bertie war nicht weniger bedrückt. Dieser Hitler und seine Generäle mussten tatsächlich wahnsinnig geworden sein. Ein Zweifrontenkrieg gegen die halbe Welt? Wie konnten sie hoffen, den gewinnen zu können? Aber – natürlich! – sie mussten sich ja wieder mal »verteidigen«, man war den Russen nur »zuvorgekommen«. Doch egal, welche Lügen die Nazis verbreiteten, für ihn bedeutete diese zweite Front vor allem eines: Nicht mehr lange und sein Einberufungsbefehl lag auf dem Tisch. Und was hieß das anderes, als dass er, nachdem er Lisa gefunden und sein Leben einen ganz neuen Sinn bekommen hatte, von einem Tag auf den anderen alles wieder verlieren sollte? Und nicht das Geringste dagegen tun konnte! Aber so war es ja auf der ganzen Welt: Die Regierungen schwebten über den Menschen wie der Himmel über der Erde. Sie spielten Schicksal und niemand, kein Gott und kein Teufel, verlangte Rechenschaft von ihnen. Nicht mal wenn es sich um eine ganz besonders grausame und verbrecherische »Obrigkeit« handelte.
Nur: Wieso machten alle bei diesem Höllentanz mit? All die Generäle, die sich früher über den Gefreiten Hitler – jetzt »der größte Feldherr aller Zeiten« – lustig gemacht hatten, weshalb widersetzten sie sich den Nazis nicht? Glaubten sie wirklich, dieser »Führer« sei befähigt, die halbe Welt zu erobern? Waren sie so borniert? Oder so leichtsinnig? Oder war ihnen das Befolgen von Befehlen längst dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie gar nicht mehr anders konnten als parieren?
»Sag doch was«, bat Lisa. »Mach mir Mut.«
Er versuchte es, küsste sie, zog sie noch enger an sich und flüsterte: »In keinem Krieg fallen alle Soldaten. Warum sollen nicht auch wir einmal Glück haben?«
Ein besserer Trost fiel ihm nicht ein. Lisa war nicht dumm, es machte keinen Sinn, sie zu belügen.
Ende August war es so weit. Als Bertie von der Arbeit kam, drückte Lisa ihm das verfluchte Papier in die Hand. Agnes Herbst hatte es gebracht, ihre Adresse war noch immer seine Adresse. Am 1. September hatte er sich in der Kaserne zu melden. – Er las das Schreiben länger als nötig und versuchte zu grinsen. »Tja! Jetzt muss i wohl zum Städtele hinaus …«
Lisa krampfte sich das Herz zusammen, doch weinte sie nicht. »Sag mir, was du brauchst, damit ich’s rechtzeitig besorgen kann.«
Sie taten geschäftsmäßig und gaben sich geschäftig. Sie fürchteten, ansonsten ihre Gefühle nicht unter Kontrolle zu haben.
Am letzten Augusttag räumte er sein Zimmer bei Agnes Herbst. Sie hatte ihn darum gebeten. »Hat ja seinen Zweck erfüllt«, hatte sie gesagt. »Wenn Sie von hoher See heimkehren, werden Sie einen anderen Hafen anlaufen als meinen.«
Ein kluger Vergleich: Lisa war sein Hafen, der Krieg die hohe See, in der man, wenn man Pech hatte, mit Mann und Maus ersaufen konnte.
Er bedankte sich bei ihr für alles, und sie kündigte an, sich öfter bei Lisa nach seinem Wohlergehen zu erkundigen. »Doch müssen Sie, wenn Sie mal auf Urlaub kommen, auch mich besuchen, ja? Oder mir mal schreiben. Ich will für Sie nicht ganz aus der Welt sein. Versprechen Sie mir das?«
Er versprach es ihr hoch und heilig und dann ließ er sich von ihr zum Abschied auf die Stirn küssen. Es war das erste Mal, dass die sonst so herb wirkende Frau ihm auf diese Weise ihre Zuneigung bekundete. Er drohte ihr mit dem Zeigefinger. »Na, am Ende doch noch Annäherungsversuche?«
Sie musste lachen und so flossen auch hier keine Tränen.
Der Abschied von Lucie geriet zur Zeremonie. Da sie ihn immer abgelehnt und bis zum Schluss gesiezt hatte, plagte sie ihr Gewissen. Durch die randlose Brille hindurch, die sie seit Neuestem tragen musste, sah sie ihn ernst an und schlug das Kreuz über ihn. »Gott der Allmächtige wird Ihnen helfen, gesund zu uns zurückzukehren.«
Sagte es und musste weinen. Und da nahm er die nur zögernd Widerstrebende in die Arme, drückte sie und duzte sie einfach. »Danke, Lucie! Und pass mir schön auf Lisa auf, ja?«
Rosenzweigs kamen, um »Tschüs!« zu sagen und ihm alles Gute zu wünschen, und natürlich auch Greta, die ebenfalls mit den Tränen kämpfte. »Ich weiß ja, du kommst wieder«, schimpfte sie mit sich. »Aber ich bin nun mal so ’ne olle Heulsuse.«
In der Nacht, bevor er aufbrechen musste, redeten Lisa und er nicht viel miteinander. Für ihre Gefühle gab es keine Worte. Doch liebten sie sich so heftig, als könnten sie damit irgend-etwas aufhalten.
Am Morgen darauf übergab er ihr sein Kleinod: das Karussell. »Pass gut drauf auf«, bat er sie. »Ich möcht’s nicht gern verlieren.«
Sie kannte die Geschichte dieses Kinderspielzeugs und versprach, es zu hüten wie ihren Augapfel. Vor allem vor Wölfchen, der es in seiner quirligen Art bestimmt bald kaputt gemacht hätte, wollte sie es verstecken.
Von der Mutter hatte er sich nicht verabschiedet. Trotz Gretas inständiger Bitten hatte er sie nicht wiedersehen wollen. Auch war er froh, dass Robby und Wölfchen noch schliefen, als er ging. Was hätte er ihnen denn sagen sollen? Seid schön brav, macht eurer Mutter keinen Ärger? Welches Recht hatte er, sie zu irgendetwas zu ermahnen?
Lisa winkte ihm von der Ladentür aus nach, er schwenkte den Persil-Karton, in dem er seine Zivilkleider an sie zurückschicken wollte. Als er sie nicht mehr sehen konnte, atmete er auf. Jetzt durften dem Helden die Augen feucht werden.