Hinterm Ofen
Berlin! Einen Tag vor Heiligabend, nach vier Tagen in überfüllten Zügen und auf kalten, zugigen Bahnhöfen, war die Stadt endlich erreicht. Auf den Dächern die Qualmteufel der Schornsteine, auf dem Bahnsteig Dämpfe aus heißen Bockwurstkesseln – Heimatdüfte!
Die S‑Bahn-Fahrt begann, jene Fahrt durch die Stadt, die Bertie sich in den zurückliegenden sechzehn Monaten so oft ausgemalt hatte: Schlesischer Bahnhof, Warschauer Straße, Ostkreuz, nach dem Umsteigen Frankfurter Allee, Zentralviehhof, Landsberger Allee, Weißensee, Prenzlauer Allee.
Er setzte sich gar nicht erst hin, stand – Tornister und Brotbeutel auf dem Rücken – voller Ungeduld an der Tür. Kaum hatte sie sich nach einer Station wieder geschlossen, trommelte er mit den Fingern an die Fensterscheibe. Lisa! Lisa! Lisa!, trommelte er, und: Ich komme! Ich komme! Ich komme!
Die Steinstufen hoch, vor dem Bahnhof rechts über die S‑Bahn‑Brücke, danach die Prenzlauer Allee entlang: Ahlbecker Straße, Stargarder Straße, Hiddenseer Straße, Stubbenkammerstraße …
Es war viel zu mild für die Vorweihnachtszeit. Regenböen peitschten über die so breit angelegte Straße, Passanten, die ihm entgegenkamen, hatten ihre Hüte tief in die Stirn gezogen oder hielten ihre Schirme so schräg, dass er kein bekanntes Gesicht entdecken konnte. Darüber war er froh. Er wollte nicht aufgehalten werden. Sechzehn Monate hatten Lisa und er einander nicht gesehen, und wenn ihre Briefe auch immer sehr liebevoll gewesen waren, so hatte sie ihm doch nie so etwas wie ewige Treue versprochen. Vielleicht, weil sie Treue für selbstverständlich hielt. Nicht wenige Kameraden aber hatten anderes erlebt. Während sie an der Front die Helden spielen mussten, hatten ihre Frauen, Bräute oder Freundinnen es ohne »Ersatzmann« nicht ausgehalten.
Eine nass glänzende Straßenbahn überholte ihn, an den Fensterscheiben perlte der Regen. Er sah ihr nach, als hätte er noch nie zuvor eine Straßenbahn gesehen. Und dann blieb er stehen: Raumerstraße! Da lag er, Lisas Erster Ehestandsschoppen. Ein Anblick, den er genießen wollte. Hinter der geschlossenen Tür zapfte sie jetzt vielleicht gerade Bier oder spülte Gläser und dachte an ihn. Wartete auf ihn! Er hatte ihr geschrieben, dass er Genesungsurlaub erhalten hatte, doch woher hätte sie wissen sollen, wann genau er eintreffen würde? Er hatte ihr das nicht schreiben können, weil er es selbst nicht wusste.
Schon wollte er den ersten Schritt über die Straße tun, da wurde drüben mit einem Mal die Tür aufgerissen – und Lisa trat heraus. In ihrem weißen Kittel stand sie in der Tür und starrte ihn an. Und dann kam sie schon über die Straße gelaufen, um sich an seine Brust zu werfen.
»Bertie!«, stammelte sie und küsste ihn immer wieder, auf den Mund, die Wangen, die Stirn. »Dass du endlich da bist!«
»Lisa!« Mehr brachte er nicht heraus. Wie oft in den vergangenen anderthalb Jahren hatte er sich diesen Augenblick vorgestellt! Wie hatte er ihn herbeigesehnt! Nun war er da. Dass es solche, einem die Brust sprengenden Glücksgefühle wirklich gab! Er hätte das nie für möglich gehalten.
Noch am gleichen Tag, gegen Abend, kam Greta. Die Schwester hatte immer wieder bei Lisa nachgefragt, ob es ihm denn auch wirklich gut ging und er, als er im Lazarett lag, nicht böser verwundet war, als er in seinen Briefen an sie zugeben wollte. So hatte sie von seinem bevorstehenden Urlaub erfahren und war seither jeden Abend gekommen, um nachzuschauen, ob er schon eingetroffen war.
An dem kleinen Zweiertisch neben dem mit Aluminiumfarbe bestrichenen, leise vor sich hin bullernden Kanonenofen saßen sie einander gegenüber, der Fronturlauber mit dem grauen, müden Gesicht, das ihn älter machte, als er war, und die junge Frau, die auf den Bruder wie das blühende Leben wirkte. Seit einem halben Jahr war Greta verlobt, wie sie ihm bereits an die Front geschrieben hatte. Ihr Verlobter, ein junger Arzt, war vor Kurzem ebenfalls eingezogen worden und arbeitete in irgendeinem Lazarett weit hinter der Front. Sie hoffte sehr, dass das so bleiben und ihr Ferdl nicht weiter nach vorn geschickt und ebenfalls in unmittelbare Lebensgefahr geraten würde.
»Hab mir solche Sorgen gemacht, als du im Lazarett lagst«, gestand sie Bertie voller Wiedersehensfreude, um ihn gleich darauf ratlos anzublicken. »Ach, dieser Krieg! Wenn er doch nur endlich vorbei wäre! Wer denkt sich denn so etwas nur aus? Welcher Mensch bei klarem Verstand kommt auf die Idee, einen Krieg anzuzetteln?«
Er aber wollte nicht über den Krieg reden. All das Gerede änderte ja nichts. Während der tagelangen Bahnfahrt hatte er genug über all den Wahnsinn nachgedacht, der ihn umgab. War ja schon immer so gewesen, jeder kleine König, der mit seinem Nachbarkönig im Streit lag, schickte seine Untertanen für seine Interessen ins Feuer; jeder Kaiser machte sie zu Ameisen in dem Heer, das er ausschickte, um sein Reich oder Einflussgebiet zu vergrößern. Egal wie die Herren an der Spitze sich titulieren ließen, Kaiser, König, Präsident oder Führer, immer wieder verfügten sie über die Helmut Vries, Ulli Burg, Hardy Prinz und Bertie Lenz, als hätte irgendein Gott sie ihnen als persönliches Eigentum vermacht. Eine Erkenntnis, die ihn noch immer traurig und wütend stimmte, die er vor dieser noch so jungen, frisch verliebten Frau aber nicht ausbreiten wollte. Er war jetzt bei Lisa, die Front lag mehr als tausend Kilometer weit weg; jedes Gespräch über den Sinn oder die Sinnlosigkeit dieses Opferganges würde ihm nur den Urlaub vermiesen. Es war besser, die Schwester berichtete von sich.
Sie las ihm diese Bitte von den Augen ab und beteuerte mehrfach, dass es ihr trotz so mancher Einschränkung nach wie vor gut ging. An der »Heimatfront«, wie es jetzt immer öfter hieß, musste man nur zusehen, wie man mit all den Lebensmittel-, Kleider- und sonstigen Karten auskam, und sich hin und wieder auf Schwarzmarktgeschäfte einlassen. Sonst war man gezwungen, immer dasselbe zu essen oder mit unmodern gewordenen Kleidern und Schuhen herumzulaufen.
»Ich mach das öfter«, gab sie stolz lächelnd zu. »Obwohl es Vater nicht gefällt. Er ist in solchen Dingen sehr pingelig, will unbedingt, dass wir den Krieg gewinnen. Und das, obwohl er doch eigentlich gar kein richtiger Nazi ist. Er ist nur bei denen eingetreten, weil er sich beruflich was davon versprochen hat. Aber deshalb will ich doch kein Aschenputtel werden.«
Sie erzählte auch von der Mutter. »Der Krieg nimmt sie sehr mit. Sie wird von Tag zu Tag frommer, lässt keinen Gottesdienst aus … und … und sie fragt oft nach dir.«
»Bitte!«, unterbrach er sie.
Sie begriff, dass sie einen Fehler gemacht hatte. »Ich hätte nicht von ihr reden sollen, nicht wahr? Aber du darfst nicht denken, dass du ihr gleichgültig bist … Sie weiß längst, dass wir wieder Kontakt miteinander haben, weiß auch, dass du mir schreibst … Der Krieg verändert die Menschen, glaub mir, sie hat inzwischen erkannt, dass sie viel falsch gemacht hat.«
»Und deinen Ferdl, wie hast du den kennengelernt?« Nein, kein weiteres Wort über die Mutter. Er nahm ihre Hand und streichelte sie. »Erzähl mir deine Liebesgeschichte. Hab solche Geschichten schon immer gern gehört.«
Sie seufzte, legte dann aber los. Und nun bekam er eine eher lustige Geschichte zu hören. Vor einem Jahr hatte sie die Mutter ins Krankenhaus Friedrichshain begleitet. Die Mutter hatte was am Magen, und der zuständige Röntgenarzt, ein Dr. Ferdinand Viech, glaubte, sie, die Begleitperson, sei die Patientin und die Mutter nur als Anstandswauwau mitgekommen. Weshalb er sie und nicht die Mutter bat, eine der dafür vorgesehenen Kabinen zu betreten und den Oberkörper frei zu machen. Darüber hatte sie so schallend lachen müssen, dass der junge Doktor knallrot geworden war. Nach der Röntgenaufnahme hatte er sich dann für die Verwechslung entschuldigt und sie mit verlegenem Kindergesicht gebeten, ihm keine unlauteren Absichten zu unterstellen. Das fand sie so komisch, dass sie schon wieder lachen musste. Diesmal aber hatte der Herr Doktor mit dem ulkigen Namen mitgelacht. Und als sie zwei Tage später kam, um die fertigen Aufnahmen abzuholen, war er ihr – zufällig? – wieder über den Weg gelaufen. Und als er sie da fragte, ob sie nicht mal zusammen einen Kaffee trinken sollten, weil er ja etwas gutzumachen habe, hatte sie keine Sekunde gezögert, sondern sofort Ja gesagt.
In der Erinnerung an diesen Tag musste sie lächeln. »So ist es dann passiert. Ferdl und ich, wir passen zusammen wie zwei linke Latschen. Das Einzige, was mir an ihm nicht gefällt, ist sein Name. Nach der Hochzeit bin ja auch ich ein Viech. Frau Viech, wie klingt denn das!«
Er musste lachen. »Ich wünsch dir alles Glück der Welt. Vor allem, dass dein Doktor heil zu dir zurückkommt. Ihr zwei, ihr seid bestimmt ganz liebe Viecher.«
Auch Agnes Herbst kam gleich am ersten Abend.
Er saß noch immer an dem Zweiertisch hinterm Ofen. Auf seinem ehemaligen Stammplatz, dem Stehplatz zwischen Fenster und Theke, hätte er sich zu sehr auf dem Präsentierteller befunden. Er wollte nicht von jedem Zweiten gefragt werden, wie es denn so ist an der Front und wann er wieder zurückmuss.
Er hätte sich auch ganz und gar verstecken können – im Hinterzimmer oder in Lisas kleiner Wohnung im ersten Stock –, doch wollte er das nicht. Er wollte bei ihr bleiben. Er hatte so lange auf diesen Tag gewartet; von hier aus konnte er zuschauen, wie sie zapfte oder von Tisch zu Tisch eilte, sie mit Blicken streicheln und zurückstrahlen, wenn sie ihm zulächelte.
Trat dennoch ein Gast an ihn heran und stellte Fragen nach seiner Verwundung oder den Frontabschnitten, in denen er eingesetzt gewesen war, gab er so schleppend Auskunft, dass jeder rasch merkte, wie sehr er wünschte, in Ruhe gelassen zu werden. Gretas Besuch hingegen hatte ihn gefreut und auch Agnes Herbst war willkommen.
Sie war sehr grau geworden in diesen sechzehn Monaten und musste sich auf einen Stock stützen, ihre strenge, aufrechte Haltung aber hatte sie sich bewahrt. »Zurück im Hafen?«, fragte sie, ihre Rührung überspielend, als sie vor ihn hin trat. Und als er zur Begrüßung aufstand, umarmte sie ihn fest. Sie hatte von seiner Verwundung und dem anschließenden Lazarettaufenthalt gewusst und sich ebenfalls große Sorgen gemacht.
Er spielte den Unbekümmerten – »Unkraut vergeht nicht« –, und sie rügte ihn dafür. »Sagen Sie doch nicht so etwas, Herbert. Inzwischen müssten Sie doch wissen, dass Sie kein Unkraut sind.«
Sie mochte noch immer keine dummen Sprüche, er aber wollte auch mit ihr nicht über seine Kriegserlebnisse sprechen, und sie merkte ihm das an und wechselte rasch das Thema. Wortreich beschwerte sie sich über seine beiden Nachmieter. »Den einen hab ich schon nach drei Wochen rausgeschmissen. Ein charakterlich sehr unsauberer Mensch, der glaubte, mich zu seiner Dienstmagd abrichten zu können. Und als ich ihm zeigte, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat, drohte der Kerl mir doch tatsächlich damit, mich bei der Gestapo anzuzeigen. Als Kommunistin!« Sie lachte hell auf. »Stellen Sie sich vor, ich – eine Kommunistin! Wenn das mein Seliger wüsste … Na ja, und danach hatte ich so einen armen Kerl, der nicht mal eine leere Teetasse stemmen konnte. Vor vier Monaten wurde er einberufen und vor vierzehn Tagen ist er gefallen, irgendwo in diesem vermaledeiten Russland. Und jetzt ist Schluss, jetzt will ich keinen Untermieter mehr. Pass fortan lieber auf mich selbst auf.«
Sie trank zwei Kirschliköre und redete noch ein bisschen weiter – über die Zeiten und den Krieg – und konnte zum Schluss nicht mehr an sich halten. Laut schimpfte sie auf die Nazis. »Diese verfluchten Braunhemden! Erst haben sie mit ihren dummen Propagandalügen die Jugend aufgehetzt, jetzt verheizen sie unsere jungen Männer an der Front. Mein Mann hätte sich lieber eine Kugel in den Kopf geschossen, als seine Leute so schlecht vorbereitet in diesen russischen Winter zu schicken.«
Zum Glück hatte das in dem allgemeinen Stimmengewirr niemand mitbekommen. Nur Lisa hatte es gehört. Ganz weiß im Gesicht, trat sie heran. »Bitte, Frau Herbst, sagen Sie doch nicht so etwas. Bertie ist ja gerade den ersten Tag auf Urlaub – wollen Sie, dass er schon morgen in eines dieser Himmelfahrtskommandos abkommandiert wird?«
»Aber nicht doch!« Müde winkte die alte Frau ab. »Ich kann beschwören, dass mir Ihr Bertie aufs Heftigste widersprochen hat. Und was mich betrifft: Was hab ich denn anderes gesagt als die lautere Wahrheit? Sollen sie mich doch in eines ihrer Lager stecken, die Herren Nazis. Ab einem gewissen Alter kann einen so leicht nichts mehr beeindrucken.«
Sie tätschelte Lisa den Arm und bestellte sich noch einen Kirschlikör. »Ach, Herbert, als Sie noch bei mir gewohnt haben, das war eine schöne Zeit! Leider weiß man das immer erst hinterher. Ihre Lisa aber, die ist richtig. Wenn der Krieg vorbei ist, müssen Sie das Mädchen unbedingt heiraten.«
Er brachte sie noch bis vor die Tür. Draußen wurden ihr die Augen feucht, und fest küsste sie ihn auf die Wange. »Au revoir, Monsieur Erbert, und dass Sie mir ja wiederkommen, hören Sie!«
Er versprach es ihr, dann sah er ihr nach, wie sie, auf ihren Stock gestützt, die Straße hinunterging. Alte Frau in strammer Haltung, Majorswitwe!
Wieder am kleinen Tisch hinter dem Ofen, starrte er die Landkarte an, die das abblätternde Aluminium auf dem kleinen Kanonenofen gezeichnet hatte. Morgen würde er zwei Stühle reparieren, eine Steckdose und die Küchenlampe. Sollte er aber mal im Sommer kommen, würde er sich den Ofen schnappen, ihn abschmirgeln und gänzlich neu streichen. Und auch alle Wände würde er neu streichen, die Türen und Fensterrahmen. Er hatte eine solche Lust auf diese friedlichen Arbeiten, am liebsten hätte er sofort damit begonnen.
Er stellte sich vor, wie er all diese Arbeiten ausführte, und wusste schon, dass er damit ja nur eine Flucht antreten würde; eine Flucht vor all diesen Bildern, über die er weder mit Greta noch mit Agnes Herbst hatte sprechen wollen und die ihn ausgerechnet jetzt, in der Heimat und hinter Lisas Ofen, nicht losließen: das blutige Gesicht von Hartwig Prinz; Helmut Vries, wie er vor ihm lag; Ulli Burg, der noch nach ihm gerufen hatte. Im Lazarett der junge Gefreite, der ständig bayrische Kinderlieder vor sich hin summte, oder der tapfere Oswald Ranke, der tagtäglich die qualvolle Prozedur des Verbandwechsels über sich ergehen lassen musste …
Bilder über Bilder waren in ihm, und das waren ja nur die Kameraden, die er näher gekannt hatte. Was war mit denen, die er nicht so gut gekannt hatte?
Oder die Toten der Gegenseite? Das russische Frauenregiment zum Beispiel, das einen Durchbruch versucht hatte – sie waren direkt in die deutschen Maschinengewehre gelaufen und bis zur letzten Soldatin zusammengeschossen worden … Nicht aus dem Kopf zu bekommen auch die etwa dreihundert russischen Soldaten, die in der Nähe eines von allen Menschen verlassenen, wie ausgestorben daliegenden Dorfes gefallen waren. Die Männer hatten schon mehrere Tage unbeerdigt dort gelegen. Wie ein Pesthauch lag ihr Gestank über der Landschaft, Frauen und Mädchen aus anderen Dörfern mussten zusammengetrieben und gewaltsam dazu gezwungen werden, ihre toten Landsleute unter die Erde zu bringen. Mit Tüchern um Mund und Nase arbeiteten sie wie besessen, nur um diese furchtbare Arbeit rasch hinter sich zu bringen. Doch natürlich hätten sie sich trotzdem infizieren können und der einen oder anderen von ihnen war das vielleicht auch pas-siert …
An der Front hatte er diese Bilder von sich fortgeschoben. Der Kampf ums eigene Überleben ließ nicht zu, sich von solchen Erlebnissen überwältigen zu lassen. Und so war er noch einmal davongekommen. Doch jetzt, mitten in dieser Kneipenidylle mit dem geschmückten Tannenbaum neben dem Klavier, drängten sich ihm alle diese Bilder wieder auf – als wollten sie ihm zu verstehen geben: Jetzt hast du Zeit, Bertie Lenz, jetzt kriegst du uns nicht mehr weg. Wir werden bei dir bleiben, solange du lebst.
Lisa kam an ihm vorüber und wieder lächelten sie einander zu.
Verdammt noch mal, er wollte sich freuen! Wieso denn jetzt diese Bilder?
Ein Abend, der sich hinzog. Einfach die Kneipe dichtmachen war nicht erlaubt. Ein Fronturlauber auf Besuch rechtfertigte nicht, die Heimatfront ohne Bier darben zu lassen. Wäre ein Feldpostbrief mit der Nachricht seines Todes gekommen, hätte Lisa ein Schild an den Rollladen hängen dürfen: Wegen Trauerfall geschlossen. Dass der Gefreite Lenz erst vor wenigen Wochen dem Tod nur mit Mühe und Not von der Schippe gesprungen war, war ein Glücks- und kein Trauerfall.
Lisas Jungen hatten sich längst zur Nacht verabschiedet. Er hatte ihnen Wehrmachtsschokolade mitgebracht, doch hatten sie ihn nur kurz begrüßt. »Tag, Onkel Bertie!« – Onkel Bertie! Mehr würde er auch in zwanzig Jahren nicht für sie sein.
Sie waren, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, sehr viel größer geworden. Robert, nun zehn, würde wohl bald ins Jungvolk eintreten müssen. Lisa wollte das nicht, doch wie sollte sie sich herauswinden, wenn einer dieser sich so gern stramm gebenden Jungzug-, Fähnlein- oder Stammführer vor sie hin trat und sie auf ihre Pflichten als deutsche Mutter hin- wies?
»Bitte schön!« Lucie! Sie brachte ihm schon wieder ein paar Brote, hatte noch immer ein schlechtes Gewissen, weil sie ihm anfangs nur die kalte Schulter gezeigt hatte. Er war ihr zu mager geworden und in ihrer Hilflosigkeit schmierte sie ihm unentwegt Stullen oder machte ihm eine Bockwurst heiß.
»Danke!« Er lächelte ihr zu, und dann sah er die Brote an – und musste an die Kameraden denken, die jetzt in irgendwelchen Schützengräben lagen. Ihnen war kalt, und sie wussten nicht, ob sie diese Nacht überleben würden, hier aber saßen noch relativ wohlgenährte Männer und Frauen bei Bier und Wein, Bockwurst und Buletten und unterhielten sich leise miteinander. Fast so, als gäbe es die Front gar nicht …
Worüber sie wohl redeten? Über liebe Verwandte, die gefallen waren oder um die sie sich sorgten? Oder nur über den letzten Kinofilm, den sie gesehen hatten? Ein Film mit dem Titel Wir machen Musik soll der große Kassenfüller dieses Jahres gewesen sein, wie er in der Zeitung gelesen hatte. Der Inhalt: Ein Ehepaar streitet sich. Er, Opernkomponist, hält nichts von leichter Musik, sie, seine Frau, will unbedingt Schlager singen …
Nein, keine Vorwürfe! Die Leute wollten sich ablenken und mussten sich ablenken. Auch an der Front wurden hin und wie- der solche Trällerfilme gezeigt. War alles richtig so. Keiner sollte ewig nur Totenchoräle summen; es war kein Verbrechen, sich nicht vorstellen zu können, was an der Front geschah.
Endlich Nacht, endlich lag er wieder mit Lisa auf der Couch im Hinterzimmer; fast so, als wäre alles andere nicht gewesen. Die lange Trennung und all diese unauslöschbaren Bilder in ihm nur ein böser Traum, daraus aufgewacht und ausradiert?
Wie unwirklich war dieses Beisammensein! In Russland war er zum »Naturmenschen« geworden – schlafen in Erdlöchern, waschen in Bächen, solange sie noch nicht zugefroren waren, aus dem Kochgeschirr essen, Läuse, Flöhe und Wanzen jagen. Jetzt lag er auf einer gut gepolsterten Couch, Lisas nackten, warmen, weichen Körper neben sich. War das denn alles wirklich wahr? Er, Bertie Lenz, das Sonntagskind?
Immer wieder versanken sie ineinander, als wollten sie sich gegenseitig beweisen, wie sehr sie einander vermisst hatten. Ihr Blut summte, ihre Körper glühten. Nein, nicht an morgen denken, nicht an übermorgen. In dieser Nacht besaßen sie einander, was morgen sein würde, wusste keiner.
Irgendwann tastete sie seinen Hals ab, streichelte die Narbe und küsste sie. »Ich will gar nicht daran denken, was du alles mitgemacht hast. Wüsste ich alles, sicher würde ich das gar nicht aushalten.«
Später spielte sie auf seinen Rippen Klavier. »Wie dünn du geworden bist! Wir werden dich über Weihnachten herausfüttern müssen.«
»Dick oder dünn, Hauptsache, es ist noch was übrig geblieben.«
Ja, dachte auch Lisa, Hauptsache, er kehrt immer wieder zu mir zurück!
Er musste ihr das versprechen, obwohl sie wusste, wie dumm ein solches Versprechen war, und auch, dass es sie nicht beruhigen würde.
Er versprach ihr alles, was sie hören wollte, und dann schliefen sie erneut miteinander.
Wenn diese Nacht doch nur nie zu Ende gehen würde! Mehr Glück gab es nicht.