Blanke Knöpfe
Ein Fronturlaub, der Folgen hatte: Lisa war wieder schwanger. Und damit hatte, wer da zur Welt kommen wollte, entschieden: Bertie und sie mussten heiraten. Sie wollte kein bloßes Soldatenliebchen sein; auch sollte ihr drittes Kind mit Nachnamen Lenz heißen. Etwas von Bertie musste bleiben, falls er aus dem Krieg nicht heimkehren würde.
Sie schlug eine Ferntrauung vor, da er ja so schnell nicht wieder Urlaub bekommen würde, und schickte ihm, nachdem sie sein Einverständnis erhalten hatte, die beglaubigten Abschriften von allen dafür notwendigen Papieren. Darunter auch ihren Ariernachweis. Letzteres war in seinem Fall schwierig, da sein Vater unbekannt geblieben war und so auch alle anderen Vorfahren väterlicherseits. Doch hätte sie seine Mutter nach seinem Vater fragen sollen? Da jene Frau Ditters weder Bertie noch Greta anvertraut hatte, wer dieser Mann war, würde sie es einer ihr völlig Fremden erst recht nicht offenbaren. Unbekannt blieb unbekannt; kam ja öfter mal vor, dass Söhne oder Töchter nicht wussten, wer ihr Erzeuger war.
Ein Argument, das akzeptiert wurde. So genau nahm man solche bürokratischen Hürden zu jener Zeit schon nicht mehr, wenn es um einen Verteidiger der Heimat ging. Die Ferntrauung konnte auf den 30. Januar angesetzt werden, ein Sonnabend und zugleich zehnter Jahrestag der Machtübernahme durch die Nazis. Ein Jubiläum, das in diesem Jahr allerdings kaum gefeiert wurde. Die Katastrophenmeldungen aus Stalingrad und zwei Luftangriffe, so heftig und zerstörerisch, wie die Reichshauptstadt sie bisher noch nicht erlebt hatte, hatten den Nazis die Stimmung verhagelt. Hunderte Bomber waren da über die Stadt hinweggeflogen, Luftminen und Brandbomben hatten sie abgeworfen und kilometerlange Trümmerfelder und zahllose Tote hinter sich zurückgelassen. Ein wahres Glück für die Leute vom Prenzlauer Berg, dass ihr Bezirk nicht Angriffsziel gewesen war.
Trotz allem wollte Lisa den Tag der Hochzeit festlich begehen. Unter dem Mantel ein neues, wie sie fand, sehr schönes dunkelblaues Kleid – die Punkte auf ihrer und Lucies Kleiderkarte hatten dafür gerade noch ausgereicht –, machte sie sich mit Lucie, Grit, Hete Rosenzweig und Onkel Ziesche auf den Weg zum Standesamt.
Es war alles vorbereitet. Auf dem Schreibtisch des Standesbeamten lag die Heiratsgenehmigung des Oberkommandos der Wehrmacht, auf dem leeren Stuhl neben dem der Braut lag ein Stahlhelm – Berties Stellvertreter. Lucie und Grit fungierten als Trauzeuginnen.
Der Standesbeamte, grauer Mann im grauen Anzug, am Kinn ein Bärtchen, das nicht wusste, ob es ein Kinn- oder Spitzbart werden wollte, sagte seinen Text auf – gespickt mit Führer-Zitaten – und fragte Lisa danach mit feierlicher Miene, ob sie den Gefreiten Herbert Josef Lenz zum Mann nehmen wolle. Sie sagte laut und deutlich Ja, Berties Einverständniserklärung wurde verlesen und danach waren Stahlhelm und Lisa Lenz, geborene Gerber, verwitwete John, Mann und Frau.
Einzige Unterbrechungen dieser feierlichen Angelegenheit: Onkel Ziesches heftiges Nasenschnauben immer dann, wenn ein Führerzitat kam. Was den Standesbeamten, Bonbon im Knopfloch, jedes Mal veranlasste, irritiert die Stirn zu kräuseln.
Nach der Trauung kehrte die Hochzeitsgesellschaft – wo sonst? – im Ersten Ehestandsschoppen ein. Was alle sehr lustig fanden. Wenn Lisa auch nicht zum ersten Mal in den Ehestand getreten war, so hatte sie sich doch noch nie zuvor einen eigenen Ehestandsschoppen eingeschenkt.
Am späten Abend, als sie mal für einige Minuten mit Grit allein war, machte die Schwester ihr ohne Rücksicht auf ihre Festtagsstimmung besorgte Vorhaltungen: In solchen Zeiten ein Kind! Und noch dazu von diesem Bertie Lenz! Und dann auch noch diese ganz und gar unnötige Ferntrauung! Sie könne doch schon morgen wieder Witwe sein. Weshalb habe sie denn nicht wenigstens bis nach dem Krieg gewartet? Dann hätte das Kind doch noch immer den Namen seines Vaters bekommen können. – Nein, sie kenne ihre sonst immer so klar und vernünftig denkende Lisa nicht wieder. Was war nur in sie gefahren, dass sie plötzlich solche Dummheiten machte?
Lisas einzige Erwiderung: »Du verstehst nichts von Liebe.«
Zwei Tage später war diese Hochzeit kein Thema mehr. Alle Welt blickte nach Stalingrad. Am Sonntag, dem 31. Januar, hatte der Rest der 6. Armee unter Generalfeldmarschall Paulus kapituliert. Und das gegen den ausdrücklichen Befehl des Führers. Zweihunderttausend Soldaten sollten gefallen sein, bis zu einhundertfünfzigtausend sich in Gefangenschaft begeben haben. Für Onkel Ziesche – über die BBC bestens informiert – hatte sich das Dritte Reich damit so gut wie erledigt. Diese Niederlage, so seine feste Überzeugung, würde es ins Wanken bringen, weil auch die tollkühnsten Propagandaparolen die wahre Lage an der Front nicht mehr schönreden konnten.
In den Zeitungen bekam Lisa davon kaum etwas zu lesen. Kein Wort über die Kapitulation, kein Wort über die Gefangenen. Eine Heldensaga wurde zusammengedichtet. Von einem zuvor in der Weltgeschichte nie bewiesenen Mut und einer über alle Maßen feindverachtenden Einsatzbereitschaft der 6. Armee wurde geschwärmt; ein Opfergang, der alle großen Tragödien der Menschheitsgeschichte weit übertraf und von dem noch in tausend Jahren in ehrfürchtigen Heldengesängen berichtet werden würde. Im Geheimen jedoch, so Onkel Ziesches BBC, wurde dem Feldmarschall Paulus Verrat vorgeworfen. Er hätte sich nicht ergeben dürfen, sondern bis zum letzten Mann kämpfen und sich am Ende selbst erschießen müssen. »Und genau das«, so Onkel Ziesche, »wird unser geliebter Führer tun. Er wird das ganze Volk verheizen und sich am Ende feige verdrücken. Darauf verwette ich alle meine Gold- zähne.«
Die Stimmung hatte sich geändert. Auch wer nicht Feindsender hörte, spätestens jetzt ahnte er, wie sehr er belogen worden war und noch immer belogen wurde. Viele, die noch wenige Tage zuvor dem Führer gläubig an den Lippen gehangen hatten, seit dieser Niederlage blickten sie nachdenklicher, wie Lisa beobachten konnte. War vielleicht doch alles nur ein großer Irrtum gewesen, schien sich so mancher zu fragen. War er, war ganz Deutschland auf einen Scharlatan hereingefallen?
Oft musste sie sich ein böses Lächeln verkneifen. Jene plötzlichen Zweifler erinnerten sie an Kinder, die sich in der Hoffnung auf einen Gewinn auf dem Rummelplatz ein Los gekauft hatten und feststellen mussten, eine Niete gezogen zu haben.
Bertie wurde von Hauptmann Dreyer getraut, einem nur mittelgroßen Mann mit gedrungenem Körperbau, dicht zusammengewachsenen Augenbrauen und silbergrauem Bürstenhaar.
Dreyer, ein überzeugter Nazi, der gern von den künftigen deutschen Siedlungsgebieten schwärmte – »vom Schwarzen Meer bis an die Barentssee, von Brest bis an den Ural werden wir uns Lebensraum schaffen und den Slawen Ordnung und Fleiß beibringen« –, nahm diese Aufgabe sehr ernst. Unter zwei hohen Pappeln ließ er einen Tisch aufstellen, auf den Tisch kamen zwei große Porträts – eines vom Führer, eines vom Reichsmarschall Göring –, davor baute er sich auf, in straffer Haltung und feierlicher Pose eine lange, lange Rede haltend.
Wörter wie Treue, Familie, Führer, Volk und Vaterland prasselten auf Bertie nieder, doch dachte er nur daran, dass Lisa von diesem Tag an Lenz heißen würde, und Rührung überkam ihn. Damit hatte sie sich ihm endgültig verbunden, und so würde auch das Kind seinen Namen tragen. Er war nicht mehr der einsame Stromer und ewige Untermieter, er hatte eine Frau und bald auch ein Kind – er hatte Familie, gehörte dazu.
Nach der Trauung, an der auch einige Kameraden teilgenommen hatten, drückte der Hauptmann ihm herzlich die Hand, und im Bunker, nahe am wärmenden Ofen, gab es ein Tässchen Hühnersuppe und ein Gläschen französischen Weißwein. Die Offiziere und Unteroffiziere, die Dreyer dazu eingeladen hatte, ließen Bertie hochleben und hänselten ihn mit der Frage, wie viele Kinder er seiner Berliner Kneipenwirtin denn noch machen werde; eines sei ja nicht viel mehr als keines.
Leutselig gestand Hauptmann Dreyer, er habe es bisher schon auf drei gebracht. Seit Kriegsbeginn habe er in jedem Urlaub eines in Marsch gesetzt. Er lachte stolz. »Am Ende bin ich damit aber noch lange nicht. Muss schon noch ’n büschen arischer Nachwuchs kommen. Wird ja gebraucht, wenn wir erst den Endsieg errungen haben. Der slawische Untermensch braucht Führung.« Er hob sein Glas. »Das walte Wotan!«
Bertie prostete zurück und dachte an Maxe Rosenzweig. Hier Untermenschen, da Untermenschen! Und das wurde einfach so bestimmt von Leuten, die behaupteten, die Menschen so einteilen zu dürfen, wie es ihnen passte.
Von Maxe Rosenzweig wanderten seine Gedanken zu Agnes Herbst. Ihr Vergleich: Lisa, der Hafen – die Front, die hohe See. Seit er aus dem Urlaub zurückgekehrt war, war ihm oft, als hätte er auf einem Totenschiff angeheuert; eines, das schon lange am Abgluckern war, das Kapitän und große Teile der Mannschaft aber noch immer für einen Stolz der Meere hielten.
»Na, Lenz? Was machen Se denn für ’n Gesicht?« Leutnant Bittner, ein noch junger blonder, recht sympathischer Offizier, war nicht zufrieden mit dem Bräutigam. »Menschenskind, Sie oller Griesgram, Sie haben heute geheiratet! Da dürfen wir uns doch eine gewisse Fröhlichkeit ausbitten. Oder trauern Sie, weil Sie die Braut heute Nacht nicht ins Bett bekommen?«
Es wurde gelacht und Bertie grinste mit. Er war kein Schauspieler, immer sah man ihm an, was in ihm vorging. Doch wozu eine Rolle spielen? Dreyer, Bittner und die übrigen anwesenden Offiziere und Unteroffiziere wussten längst, dass er kein begeistertes Frontschwein war. Sie stempelten ihn nur deshalb nicht zum Defätisten, weil er sich schon des Öfteren als zuverlässiger Kamerad erwiesen hatte. Männer wie er wurden nun mal gebraucht. Allein mit denen, die Dreyers Überzeugung teilten, war der Krieg nicht zu gewinnen. Vor allem weil die von Tag zu Tag weniger wurden.
Es war eine leichte Schwangerschaft. Zwar schien das Kind in Lisas Leib recht groß zu werden, im Gegensatz zu ihren ersten beiden Schwangerschaften jedoch wurde ihr nicht so oft übel. Nur ein einziges Mal musste sie sich übergeben, das war im März, am Heldengedenktag.
An jenem Tag stand sie an der Kasse und zählte die Geldscheine, die sie in der kleinen Kassette im Hinterzimmer verschließen wollte. Es war nicht gut, allzu viel Bares in der Ladenkasse aufzubewahren. Im Regal hinter ihr lief das Radio. Aus Anlass dieses Tages und im Gedenken an die »Helden von Stalingrad« mal wieder viele laute Reden, Getrommel und Gedöns.
Was für ein Wahnsinn, schoss es ihr durch den Kopf. Die Mörder rufen das Volk auf, ihrer Opfer zu gedenken. Sie stehen vor den von ihnen mit Leichen gefüllten Massengräbern, heulen Krokodilstränen und trompeten Rotz in die Luft und erwarten auch noch, dass man ihnen applaudiert.
Ihr würgte es im Hals, sie ließ die Geldscheine in die Kasse zurückgleiten, stürzte auf die Toilette und übergab sich, bis sie Galle schmeckte. Keuchend und mit vor Anstrengung tränenden Augen stand sie danach neben dem Klobecken und starrte die Wand an. Sie bekam ein Kind und würde es nicht anders als Robby und Wölfchen bemuttern und behüten, doch sollte auch dieses Kind ein Junge werden, würden alle ihre drei Söhne vielleicht irgendwann ebenfalls in einen Krieg geschickt werden. So wie ihre Väter und Großväter. Und sollten sie in diesem Krieg fallen, würden wieder irgendwelche Oberen sie zu Helden verklären und eine verlogene Totenmesse zelebrieren.
Gedanken, die ihr in der Brust schmerzten. Sie musste sie verdrängen. Es war nicht gut für das Kind in ihrem Leib, wenn seine Mutter sich so aufregte. Sie wankte in die Küche, beruhigte die erschreckte Lucie und bat sie, sie für einen Moment hinter der Theke zu vertreten. Dann setzte sie sich erst mal.
Und was, wenn Bertie in diesem Krieg fiel? Was, wenn er sein Kind gar nicht erst zu Gesicht bekommen würde? Solche Fälle hatte es ja nun schon mehrere gegeben … Ihre Ratschläge an Olga Ziesler! Wie »klug« sie dahergeredet hatte! Aber könnte sie, Lisa, solch verlogene Klagegesänge wie die, die ihr eben diese Übelkeit beschert hatten, dann noch ertragen?
Lange saß sie da und sinnierte, dann trat sie ans Waschbecken, putzte sich die Zähne und machte sich frisch. Es nutzte ja nichts, sie musste lernen, einfach alles auf sich zukommen zu lassen; endlose Grübeleien hatten noch niemanden auch nur einen Schritt weitergebracht.
Mitte September war es dann so weit, Grits Karl brachte sie im Beiwagen seines noch ganz neuen Motorrads nach Pankow in eine Entbindungsstation namens Maria Heimsuchung. Für ein paar Tage musste Lucie die Wirtin spielen, ganz egal wie viele Bekreuzigungen sie das kosten würde.
Eine nicht gerade Spaß bereitende, aber, wie Lisa sagte, erträgliche Geburt, wenn man in Betracht zog, dass es sich um einen Zehnpfünder handelte, der an diesem schönen, sonnigen Septembertag ans Licht der Welt drängte. Einziger Wermutstropfen: Es war – all ihren Hoffnungen zum Trotz – mal wieder ein Junge geworden; ihr dritter Sohn! Und das, obwohl auch Bertie sich so sehr eine Tochter gewünscht hatte. Monika hatte sie heißen sollen. Mädchen, so hatte er in einem seiner Briefe geschrieben, seien ihm seit jeher lieber gewesen als Jungen. Aus Jungen würden ja später mal Männer, und da er selber einer war, wisse er aus erster Hand, dass sie nicht Gottes beste Erfindung wären.
Sie musste ihm schreiben, dass seine Monika ein Manfred geworden war, ein richtiger Berliner Bengel mit riesigem Kopf und blonden Haaren; ein Knabe, der schon allein von der Figur her seinem Vater alle Ehre machte. Und auf Kinder gäbe es nun mal keine Garantie mit Umtauschrecht.
Ein zweiter Bertie Lenz, nur dass er nicht Herbert, sondern Manfred hieß? Damit musste der Gefreite Lenz erst mal fertig werden. Einziger Trost: Es konnte ja später, wenn erst der Krieg zu Ende war, noch immer eine Monika kommen.
Er beantragte Sonderurlaub, und Hauptmann Dreyer ließ es sich nicht nehmen, ihm die Genehmigung dafür höchstpersönlich in die Hand zu drücken.
Es war im Bunker, während einer Feuerpause. »War es also eine glückliche Niederkunft?«, fragte der Hauptmann und strahlte, als wäre er selbst mal wieder Vater geworden. »Na denn: Gratulation! Feine Sache, dass Ihre Frau und Sie dem Führer ein Kind geschenkt haben. Das eigene Blut ist der festeste Kitt, den man sich denken kann. Da hängt man dran, das verteidigt man bis aufs Messer.«
Bertie spielte den Entsetzten. »Dem Führer unser Kind geschenkt? Das muss ein Irrtum sein, wir wollen unseren Manni behalten.«
Ein Scherz, den nicht jeder gläubige Nazi lustig gefunden hätte. Hauptmann Dreyer als erklärter Freund jeder »heiligen Mutterschaft« drohte nur mit dem Zeigefinger. »Jedes Kind, das Mitglied unserer Volksgemeinschaft wird, ist ein Kind des Führers. Ihre Rechte als Eltern werden dabei in keiner Weise beschnitten. Doch gilt das nur, wenn Sie Ihr Kind im Geiste des Nationalsozialismus erziehen und keinen krummbeinigen Russen aus ihm machen.«
Scherz gegen Scherz; der Hauptmann lachte dröhnend.
Der Weg von der S-Bahnstation hin zum Ersten Ehestandsschoppen – ein einziges Aufatmen. Die Bombenangriffe hatten die Stadt, wie Bertie es während der S-Bahn-Fahrt studieren durfte, im letzten Jahr sehr verändert. Überall Ruinen und Trümmerlandschaften. Die Prenzlauer Allee und ihre Seitenstraßen waren noch verschont geblieben.
Kräftig stieß er die Tür auf, warf seinen Tornister in die Ecke und lief gleich hinter die Theke, um die überraschte Lisa, der er seinen »Sohnbetrachtungsurlaub« nicht mehr rechtzeitig hatte ankündigen können, in die Arme zu nehmen. »Na, Madameken? Wat sagste nu?«
Sie konnte erst mal gar nichts sagen, weinte nur und küsste und drückte ihn, bis sie ihn vor den Kinderwagen schob, der neben dem Kanonenofen stand. »Hier ist er, der kleine Manfred Herbert Lenz. Gefällt er dir? Wenn nicht, dann hast du dir leider nicht genug Mühe gegeben.«
Der große Kopf, die mürrisch blickenden Augen, die zu winzigen Fäusten zusammengeballten Händchen – Bertie sah den Säugling an, und der erst wenige Wochen alte Junge im Kinderwagen nahm keinen Blick von dem Mann, der da so groß und wuchtig vor ihm stand. Was will der hier?, glaubte der Vater ihm vom Gesicht ablesen zu können. Hau lieber wie- der ab, fremder Riese; Väter, die lieber eine Tochter hätten, interessieren mich nicht.
»Ganz schön unfreundlich, der Knabe!« Er hatte nicht erwartet, dass dieser kleine Krümel ihn sogleich erkennen und anstrahlen und beide Ärmchen nach ihm ausstrecken würde. Aber dieser abweisende Blick?
»Er kann auch lächeln.« Lisa nahm ihn aus dem Wagen und drehte ihn zu sich herum, und sogleich huschte ein so sonniges Lächeln über sein Gesicht, dass Vater und Mutter mitstrahlen mussten.
»Darf ich auch mal?«
Er wollte ihn endlich anfassen, diesen seinen Sohn.
Vorsichtig überreichte Lisa ihm Manni, vorsichtig nahm er ihn auf den Arm und sog tief den warmen, satten Milchduft ein, der von dem Baby ausging. Doch wie ernst der Säugling gleich wieder blickte.
»Keine Sorge!«, flüsterte er ihm zu. »Ich bin’s doch – dein Papa! Jetzt biste ja noch ’n bisschen klein, aber später, was meinste, was wir beiden Hübschen alles miteinander anstellen werden! Ganz Berlin steht kopf, wenn wir auf Tour gehen.«
Lisa musste lachen, und – o Wunder! – der kleine Strampelmaxe auf seinem Arm verzog den Mund und lächelte auch.
»Haste das gesehen?« Mehr ein Jubelruf als eine Frage. »Er hat mich verstanden, und er freut sich schon jetzt darauf, mit mir losziehen zu dürfen. Er … er ist ein Prachtkerl!«
Dem frischgebackenen Vater wurden die Augen feucht. Verdammt, weshalb hatte er sich denn ein Mädchen gewünscht? Ein Sohn, das war es, was er brauchte. Einen, dem er später mal erzählen konnte, was sein Vater in seiner Kindheit und Jugend alles erlebt hatte; einen, der nie so jämmerlich allein durch die Weltgeschichte irren würde wie sein Vater.
Die wenigen Gäste im Restaurant hatten alles mitverfolgt. Wer Bertie kannte, kam zu ihm, um ihn zu beglückwünschen. Aber auch alle anderen machten fröhliche Gesichter. Was für eine ans Herz gehende Szene! Der Vater kommt von der Front auf Urlaub, um zum ersten Mal seinen Sohn in den Arm zu nehmen! Und der Sohn lächelt ihn an, diesen fremden Mann im Soldatenmantel …
Den ganzen Nachmittag und Abend über lag Bertie im Hinterzimmer auf der Couch, Manni auf seiner Brust.
Sein Sohn! Er würde größer und größer werden, und eines Tages, wenn dieser verfluchte Krieg erst vorbei war, würden sie wirklich viel miteinander unternehmen. An seiner Hand würde Manni laufen lernen und später würden sie an einen der vielen Brandenburger Seen fahren und er würde ihm Schwimmen und Angeln beibringen. Oder sie würden mit- und gegeneinander Fußball spielen wie er als Schuljunge manchmal mit Theo Thielecke. Und alle Karl-May-Bände würde er ihm kaufen und die fünf Lederstrumpf-Bände noch dazu.
»Weißt du«, flüsterte er dem Säugling zu, »das Wichtigste im Leben ist, nicht allein zu sein. Ein Sohn braucht seine Mutter, er braucht aber auch seinen Vater … Wer immer allein ist, der wird böse. Oder ängstlich. Du sollst nicht böse und nicht ängstlich werden. Hast eine Mutter und einen Vater, dir kann gar nichts passieren.«
Auf die dunkle, flüsternde Männerstimme lauschend hob Manni den Kopf, obwohl ihm das noch viel Mühe machte, und starrte ihn an. Zärtlich fuhr Bertie ihm über das noch so seidige Haar. »Hast tatsächlich eine ziemlich große Birne … Vielleicht ist da später mal mehr drin als in meiner, dann kannste ’nen feinen Beruf erlernen und musst nicht auf den Bau. Auf dem Bau wird viel zu viel gesoffen, weißt du. Und auch geprügelt …«
Wieder lauschte Manni erst, dann streckte er plötzlich ein Händchen aus, um nach den blanken Knöpfen der Uniformjacke zu greifen.
»Gefallen dir die? Nee, lass sein! Freunde dich gar nicht erst damit an. Es gibt nichts Blöderes als das Militär. Immerzu musst du andere totschießen, nur damit sie dich nicht totschießen … Und nie darfst du machen, was du willst, ständig musst du irgendwelche Befehle befolgen. Ist kein schönes Leben, das kannste mir glauben.«
Als Lisa kam, um nachzuschauen, wie es Vater und Sohn ging, bat er sie, ihm das Karussell zu bringen. »Will’s ihm vorführen. Etwas Buntes, das sich dreht, das wird ihm gefallen.«
Und wie es Manni gefiel! Erst starrte er das bunte Ding, das sich da vor ihm im Kreis drehte, nur an, dann streckte er beide Ärmchen danach aus.
»Nee, Sohnematz!« Bertie lachte. »Anfassen darfste’s noch nicht, aber später, später gehört’s mal dir.«
Tags darauf kam Greta, um dem Bruder zu seinem Sohn zu gratulieren; Lisa hatte sie im Büro angerufen.
Manni auf dem Arm, spazierte sie durchs Hinterzimmer und strahlte mal den Sohn und mal den Vater an. »Na, jetzt hast du ja endlich, was du dir immer gewünscht hast: eine eigene kleine Familie! Bist ’n richtiger Glückspilz.«
Ja, erst Lisa und jetzt Manni und den Krieg hatte er nun auch schon zwei Jahre überlebt, es sah alles danach aus, als wollte der liebe Gott ein bisschen was an ihm gutmachen. Vielleicht gab es das ja doch, das Himmelsauge, von dem Pfarrer Engelbrecht gesprochen hatte.
»Und wie lange darf der Herr Papa bleiben?«
»Hab zwölf Tage bekommen, vier sind schon für die Herfahrt draufgegangen.«
»Ziemlich knauserig die Herren von der Wehrmacht.«
Er widersprach nicht. Woher sollte Greta denn wissen, wie dankbar er Hauptmann Dreyer für diese zwölf Tage »Sohnbetrachtungsurlaub« sein musste. Nicht jeder Kompaniechef nahm die Sprüche der Nazis von der heiligen Mutterschaft so ernst. Still sah er zu, wie sie mit Manni schäkerte, dann fragte er leise: »Weiß sie?«
Die Schwester wusste sofort, auf wen sich diese Frage bezog. »Ja. Und sie würde ihren Enkel gern mal sehen … Aber … aber das erlaubst du ja nicht.«
Das erlaubte er nicht. Er hatte es Lisa gleich nach der Hochzeit geschrieben: Wenn das Kind da ist und diese Frau Ditters es sehen will, zeig es ihr nicht. Sie hat mit diesem Kind nichts zu tun. Sie war mir keine Mutter, sie darf nicht die Großmutter meiner Kinder werden.
Greta konnte diese, wie sie meinte, übertrieben harte Haltung nicht verstehen. »Aber man muss doch verzeihen können«, sagte sie auch jetzt wieder. »Menschen ändern sich …«
Er sah sie nicht an, als er ihr antwortete. »Ach, Gretchen! So einfach ist das nicht. Es gibt Verletzungen, die irgendwann verheilen, andere schmerzen ewig. Die vernarben nicht mal. Aber das kann wohl nur der verstehen, dem sie zugefügt worden sind.«
Sie ließ seine Worte ein Weilchen in sich nachklingen, dann zuckte sie traurig die Achseln und reichte ihm Manni zurück. Ihr Verlobter war ebenfalls auf Urlaub gekommen, für den Abend hatten sie Konzertkarten.
Außer Greta wollte er während dieser vier Tage Manni-Urlaub – mehr blieben ihm ja nicht – keine Besucher sehen. Auch Agnes Herbst, ebenfalls von Lisa benachrichtigt, und Hete Rosenzweig, die noch immer auf ihren Mann schimpfte, weil sie nach wie vor kein Lebenszeichen von ihm erhalten hatte, begrüßte er nur kurz. Ebenso Onkel Ziesche, der auf einen »wahrheitsgemäßen Wehrmachtsbericht« hoffte.
»Na?«, hob der alte Steuerberater an, als er ihn mit Manni auf dem Arm hinter dem Kanonenofen sitzen sah. »Wie läuft’s denn so an der Front? Soll ja inzwischen alles noch ’n bisschen totaler geworden sein.«
Eine Anspielung auf Goebbels’ Sportpalast-Rede. Als der Reichspropagandaminister im Februar die dort Anwesenden fragte, ob sie den totalen Krieg wollten, schrien alle Ja, die verwundeten Frontsoldaten wie auch die vielen berühmten Künstler, die dorthin beordert worden waren. Eine Propaganda-Inszenierung; Bertie hatte keine Lust, darüber zu reden.
Onkel Ziesche sah ihm das an. »Es ist die Angst vor dem Untergang, die sie so laut brüllen lässt«, flüsterte er ihm zu. »Stalingrad war ihr großes Menetekel. Früher haben sie mit Zuckerbrot und Peitsche gearbeitet, jetzt schwingen sie nur noch die Peitsche.« Sagte es, nickte Vater und Sohn noch einmal zu und kehrte an den Stammtisch zurück.
»Da haste mal einen klugen Mann gehört«, flüsterte Bertie Manni zu. »Nur nützt ihm seine Klugheit nicht viel. Keiner von uns kann davonlaufen. Wo sollten wir denn auch hin?«
Immer wieder sprach Bertie mit Manni. Wusste er denn, ob er ihn jemals wiedersehen würde? Und er hatte ihm doch so viel zu sagen.
In Lisa war die Freude über das unverhoffte Wiedersehen längst verblasst, neue Sorgen und Ängste setzten ihr zu. Wie lange würde es wohl dauern, bis Bertie wieder Urlaub bekam? Würde ein Jahr vergehen, würden zwei Jahre vergehen? Oder würde vorher mit diesem Krieg Schluss sein?
Fragen, auf die es keine Antworten gab.
In der letzten Nacht blieb Bertie nichts anderes übrig, als zu den üblichen Floskeln zu greifen: »Ich pass auf mich auf« und »Wir dürfen nicht den Mut verlieren.«
Der Abschied von Robby und Wölfchen, die beide stolz auf den kleinen Bruder waren und seit der Hochzeit wussten, dass sie endgültig einen neuen Vater bekommen hatten, war kurz, aber nicht mehr ganz so fremdelnd wie zuvor. Robby lächelte sogar, als er ihm nach Männerart die Hand gab.
Lucie konnte mal wieder ihre Tränen nicht zurückhalten. Gleich mehrere Kreuze schlug sie über ihn, und als er sie an sich zog, durfte er ihr sogar die Schultern streicheln.
Von Lisa bekam er zum Abschied eine silberne Taschenuhr geschenkt, gebraucht gekauft, aber sehr schön ziseliert und unermüdlich tickend. »Weil du doch bald Geburtstag hast«, sagte sie.
Er dankte ihr mit einem Nicken, konnte mal wieder nicht sprechen.
Als er fortging, stand Lisa vor der Ladentür, nicht anders als an jenem Tag, an dem er eingezogen wurde, oder zum Ende seines ersten Fronturlaubes. Diesmal jedoch hielt sie Manni auf dem Arm. Und als sie ihm nachwinkte, nahm sie Mannis Ärmchen und ließ ihn ebenfalls winken.