Solange Hoffnung ist …
Es wurde Weihnachten und von Bertie war noch immer keine Nachricht gekommen. Ausreden und Beschwichtigungen halfen nicht mehr, ihm musste etwas zugestoßen sein, sonst hätte er doch wenigstens Weihnachtsgrüße geschickt.
Heiligabend kamen Hete Rosenzweig und Onkel Ziesche, und ihre Anwesenheit erinnerte Lisa an das Jahr zuvor, als auch Bertie bei ihnen war. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht gänzlich in Trübsinn zu verfallen und den Kindern das Weihnachtsfest zu verderben.
Lucie lenkte sich durch Beten ab, Robby und Wölfchen freuten sich über ihre Weihnachtsgeschenke. Wenn auch nur leise.
Einen Tag vor Silvester kam er dann, der Brief, und natürlich wusste der alte Mahlke, dass er keine erfreuliche Nachricht brachte: Es war ein mit der Schreibmaschine an Elisabeth Lenz adressierter Brief, Absender: Hauptmann Dreyer, Kompaniechef.
Sie starrte die Schreibmaschinenschrift an, und dann musste sie sich am Tresen festhalten, ihr war schwindlig geworden. Um Zeit zu gewinnen, schenkte sie dem alten Mahlke erst mal sein ihm zustehendes Bier ein. Ihr Herz raste, in ihrem Kopf überschlug sich alles: Nun war er also doch noch gekommen, der Brief, vor dem sie sich all die Wochen gefürchtet hatte …
Der alte Briefträger sagte und fragte nichts.
Erst als sie das Glas vor ihn hingestellt und sich umständlich die Hände abgetrocknet hatte, öffnete sie den Umschlag. Sehr verehrte Frau Lenz!, las sie. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann, unser guter Kamerad Herbert Josef Lenz, seit den frühen Morgenstunden des 29. Novembers 1943 vermisst wird. Wir gerieten an diesem Tag in der Nähe des Ortes Kriwyje Osecki, dreißig Kilometer nordwestlich der Stadt Newel, unter heftigen Beschuss und wurden nur wenig später von russischen Panzerverbänden zum Rückzug gezwungen. Dabei wurden mehrere Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten vom Feind eingeschlossen und gelten seither als vermisst. Darunter auch Ihr Mann.«
Vermisst? Nicht tot? Unsicher, ob sie erleichtert sein durfte oder nicht, blickte sie den alten Mahlke an. »Vermisst«, sagte sie dann wie zu sich selbst, »nicht tot!«, und las rasch weiter.
Sehr verehrte Frau Lenz, ich darf Ihnen versichern, dass Ihr Mann, den ich als vorbildlichen und einsatzwilligen Kameraden kennengelernt habe, einer unserer tapfersten Kämpfer war. Getreu seines Soldateneides … Führer, Volk und Vaterland … Die üblichen Floskeln. Alle waren sie gute Kameraden, alle waren sie Helden, alle kämpften sie vorbildlich, willig und todesverachtend. Als ob all die Frauen, die solche und schlimmere Nachrichten erhielten, ihre Männer nicht viel besser kannten.
Ich bedauere sehr, dass ich Ihnen keine genaueren Auskünfte zu geben vermag, hieß es am Ende. Doch besteht die Möglichkeit, dass Ihr Mann und die anderen Vermissten sich in russischer Kriegsgefangenschaft befinden … Danach wieder Floskeln: Kampf- und Schicksalsgemeinschaft, Deutschlands Größe, Zukunft unseres Reiches.
»Wollen Sie den Brief lesen?«
Der alte Mahlke hätte sich beinahe beim Trinken verschluckt, so überrascht war er. Das war ihm noch nicht oft passiert, dass er die Post, die er austrug, auch noch lesen sollte.
»Lesen Sie nur!« Lisa musste an Olga Ziesler denken. Wie die junge Frau aus dem vierten Stock – wie lange war das nun schon her, zwei Jahre? – zu ihr heruntergeeilt war, um ihr die Todesnachricht ihres Mannes zu lesen zu geben. War das denn immer so, wollten alle ihre bösen Nachrichten mit ihren Mitmenschen teilen?
»Lesen Sie nur«, beharrte sie, als sie sah, dass der Briefträger zögerte. »Ist ja kein Privatbrief, sondern nur so ein billiges Trostschreiben.«
Noch ein kurzes Bedenken, dann griff der alte Mahlke zu und las den Brief. Als er damit fertig war, strich er sich über den Schnauzer und seufzte. »Na ja, vermisst ist ja noch nicht das Schlimmste. Soll inzwischen ja Zigtausende Kriegsgefangene geben … Solange Hoffnung ist, dürfen Sie hoffen.«
Sie nahm den Brief zurück und las noch einmal die Zeilen seit den frühen Morgenstunden des 29. Novembers. Und erschrak: Der 29. November? Das war doch Berties Geburtstag. Konnte es denn sein, dass das Schicksal so voller böser Ironie war, ihn ausgerechnet an seinem Geburtstag … Andererseits: Wenn er wirklich in Gefangenschaft geraten war, dann war diese Gefangennahme ja vielleicht so eine Art schicksalhaftes Geburtstagsgeschenk. In der Gefangenschaft wurde doch wenigstens nicht mehr auf ihn geschossen. Zwar wurde über die russischen Kriegsgefangenenlager viel Grässliches berichtet, doch wusste sie, ob das nicht nur das übliche Propagandagedröhn der Nazis war? Die wollten doch, dass ihre Soldaten sie bis zum letzten Atemzug verteidigten …
Solange Hoffnung ist, darf, nein, muss man hoffen. Der alte Mahlke hatte recht. Berties und ihr gemeinsames Leben hatte ja gerade erst begonnen, es durfte noch nicht zu Ende sein.
Am Abend dieses Tages legte sie die Kette mit dem Frauenkopf an: Eine Lisa für die Lisa. Sie trug sonst hinter der Theke keinen Schmuck, von heute an wollte sie Berties Kette täglich tragen. Bis er wieder bei ihr war.
Bevor sie in der Nacht zu Bett ging, nahm sie sein Karussell in die Hand. Das kleine Blechspielzeug sei so etwas wie sein Talisman, hatte er mal zu ihr gesagt. Hatte dieser Talisman am Ende versagt? Oder hatte er ihm Glück gebracht? Wenn ja, würde sie sicher bald einen Brief aus einem russischen Kriegsgefangenenlager erhalten.
Die Pferde, die Schwäne, das rote Feuerwehrauto, das grüne Segelboot und das rot-schwarz-grün gestreifte, nach oben spitz verlaufende Zeltdach – ein wirklich schönes Spielzeug! Aufziehen aber wollte sie es nicht, den Anblick des sich drehenden Kinderkarussells mitsamt der Walzermelodie hätte sie nicht ausgehalten.
Später lag sie mit weit aufgerissenen Augen neben der ebenfalls schlaflosen Lucie im Bett und starrte in die Dunkelheit hinein.
Dieses Wort »vermisst«! Es hatte einen solchen Doppelsinn, gab einer großen Hoffnung Raum und bezeichnete den allerschlimmsten Verlust. Sie vermisste Bertie ja wirklich und auch Manni würde seinen Vater vermissen und Greta den Bruder … Die Wehrmacht allerdings verstand das Wort anders. Im Krieg bedeutete »vermisst« nichts anderes als »über sein weiteres Schicksal ist uns nichts bekannt«. Für die Wehrmacht war Bertie fortan nur noch ein Name, hinter dem ein Fragezeichen stand.
Doch wie hieß es in diesen Tagen so entsagungsvoll und trotzig: Das Leben geht weiter. Und so flüchtete Lisa nach wie vor mit Lucie und den Kindern und nun auch Hete Rosenzweig im Gefolge zum Luftschutzkeller des Bezirksamtes hinüber, kümmerte sie sich weiter um ihrer aller Überleben. Wozu sich denn immer wieder Fragen stellen, die sie nicht beantworten konnte? Wozu denn trauern, da sie ja nicht einmal wusste, ob es einen Grund zur Trauer gab?
Sie hatte ja trotz allem noch Glück, es ging ihr besser als vielen anderen. Als Kneipenwirtin brauchte sie nicht auf den schwarzen Markt zu gehen, wenn die Kinder etwas benötigten, das es ansonsten nirgendwo zu kaufen gab. Der schwarze Markt kam zu ihr. Ihre Kundschaft ließ sie nicht im Stich. Und so bewies es sich täglich neu, dass Georg recht gehabt hatte mit seinem »Bier geht immer«. Bier ging sogar im Krieg. Und das vielleicht sogar ganz besonders gut, gab ja genug Kummer zu ertränken. Und zahlte einer ihrer Gäste nicht mit Geld, dann war es ihr mehr als nur recht, wenn er ihr dafür ein paar Eier, ein bisschen Mehl, Butter oder Fleisch in die Hand drückte – alles mitgebracht von der letzten Hamstertour aufs Land. In Notzeiten, das wusste sie seit der Inflation, waren Lebensmittel ja so viel mehr wert als all das Papiergeld, für das man kaum noch was bekam.
Im Nebenberuf aber wurde sie Trostspenderin. Hatte einer ihrer Gäste eine schlimme Nachricht erhalten – Ehemann gefallen, Bruder gefallen, Sohn gefallen, Ehefrau oder Kinder im Bombenangriff verloren –, setzte sie sich ein bisschen zu ihm. Miteinander reden half doppelt, so ihre Erfahrung. Sie tröstete ja, wenn sie andere tröstete, auch sich selbst; man braucht Mut, um anderen Mut machen zu können.
Bei der Frau Leberecht aus dem dritten Stock allerdings fruchteten ihre Bemühungen nicht. Gleich zu Anfang des Krieges war ihr Mann gefallen, nun – im Frühjahr 1944 – auch der Sohn. Damit konnte die magere, seit Jahren nur noch mit in sich gekehrtem Gesicht ihren Alltagserledigungen nachgehende Witwe nicht fertig werden. Und so sprang sie eines Nachts im Nachthemd aus ihrem Schlafzimmerfenster, begleitet von einem schrillen Schrei, der die Leute im Haus – die wegen der vielen Fliegeralarme ohnehin nur sehr hellhörig schliefen – aus ihren Betten trieb.
Auch Lisa war aufgefahren und zum Fenster gestürzt – sie schliefen wegen der vielen Bombenangriffe ja nun alle fünf schon seit längerer Zeit im Hinterzimmer der Gastwirtschaft –, und da lag die Frau Leberecht direkt vor ihr. Mit weit ausgebreiteten Armen lag sie auf dem Bürgersteig, das Gesicht nach unten; ein Anblick, der an einen abgestürzten, weißen Engel erinnerte.
Lange konnte sie sich nicht rühren. Sie begriff gar nicht, dass Lucie neben ihr stand und sich an ihr festhielt. Erst als bereits Leute aus dem Haus gestürzt kamen, um nachzusehen, ob der Frau Leberecht noch irgendwie zu helfen war, beugte sie sich zu Manni herab. Und da sah sie, dass nicht nur Robby und Wölfchen, sondern auch der Säugling erwacht war. Er lag in seinem Kinderbettchen und sah sie mit großen Augen an.
Sie nahm ihn auf, küsste und wiegte ihn und flüsterte ihm leise zu: »Ist ja gar nichts Schlimmes passiert. Das war nur ein hungriger Vogel, der so laut geschrien hat. Schlaf wieder ein.«
Eine Lüge, für die sie sich schämte. Wut stieg in ihr auf: Dieser verfluchte Krieg mit all seinen dummen Sprüchen und Parolen wie »Heimat verteidigen« und »fürs Vaterland fallen«! Was war das denn überhaupt, ihr »Vaterland«? Das Land ihres Vaters? Oder das Land, das wie ein Vater über seine Landeskinder wachte? Aber dieses Land hatte ihr den Vater doch genommen, hatte ihn für Ziele geopfert, die nicht im Entfern- testen die seinen oder die seiner Familie waren.
Es gab so viele »Vaterländer«; ob Deutschland, Russland, Frankreich, England, Polen: alles Vaterländer! Dabei war jedes dieser Länder doch nur ein Fleck Erde auf diesem riesengroßen Planeten. Thale und inzwischen auch Berlin waren ihre Heimat – Thale, weil sie die Bode liebte, die Rosstrappe und den Hexentanzplatz, Berlin, weil ihr der Menschenschlag lag und sie viele gute Erinnerungen mit der Stadt verbanden –, doch wäre sie in einem anderen Land aufgewachsen, würde sie dann für die Orte ihrer Kindheit und Jugend nicht ganz ähnliche Heimatgefühle aufbringen? Mit »Vaterland« und »dafür sterben müssen« hatte das alles gar nichts zu tun.
Inzwischen wuchs die Hoffnung, dass der Krieg nicht mehr lange dauern würde. Die Amerikaner und Engländer waren in der Normandie gelandet, vom Osten her rückten die Russen immer näher an die Reichshauptstadt heran.
»Da können sie toben und heulen, unsere großen Strategen, und am Ende den dreifachen Salto mortale wagen, in der Hölle werden schon die Kessel geheizt«, sagte Onkel Ziesche und freute sich. Doch schwangen in dieser Freude auch Sorge und Entsetzen mit. Warum nur folgte die Wehrmacht dem Führer so willig in den Abgrund? »Früher haben sie über den Gefreiten Adolf gespottet«, schimpfte er, »jetzt werfen sie ihm das Leben ihrer Männer vor die Füße, anstatt ihm endlich ihre Orden an den Kopf zu knallen.«
Wochen später musste er sich korrigieren. Nicht alle Militärs waren bereit, dem Führer bis zum bitteren Ende zu folgen. Ein Anschlag war verübt worden. Offiziere hatten versucht, ihn während einer Lagebesprechung in der Wolfsschanze in die Luft zu sprengen. Leider ohne Erfolg. Eine Tat, die Onkel Ziesche ebenfalls freute, wenn er sich auch nicht ganz und gar auf die Seite dieser Offiziere stellen wollte. Und das, obwohl viele von ihnen diese Tat nur wenige Stunden danach mit dem Leben bezahlt hatten.
»So sind sie, unsere deutschen Eliten!«, sagte er zu Lisa. »Erst haben sie sich – sei es aus Karrieregründen, Verblendung oder Selbsterhaltungstrieb – den Nazis unterworfen. Nachdem nun endlich auch sie erkannt haben, dass dieser Krieg nicht mehr zu gewinnen ist, wollten sie aussteigen. Tapfere Männer ohne Zweifel, doch hätte ich mir gewünscht, sie hätten früher was unternommen. Jetzt hat das Ganze leider ein Geschmäckle, wie die Schwaben sagen. Die Frage ist doch: Wie hätten sie sich verhalten, wenn die Verbrecher, denen sie so lange und willig gefolgt sind, weiter von Sieg zu Sieg geeilt wären?«
»Lieber spät als nie.« Lisa war alles recht, wenn nur endlich Schluss war mit den Nazis und dem Krieg.
So mancher Gast sah das anders. Offiziere wollen das sein?, empörte man sich über die Attentäter. Volksverräter sind das! Versuchen in dieser historischen Stunde, in der es um das Überleben des gesamten deutschen Volkes geht, eine Revolte.
Andere, die zuvor noch ähnlich geredet hatten, machten nachdenkliche Gesichter. Wenn so viele Offiziere den Führer beseitigen wollten, konnte doch irgendwas nicht mehr stimmen. Leichtfertig brach kein Offizier seinen Treueschwur. Vielleicht war es besser, sich langsam von den Braunen abzusetzen. Ansonsten: Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen.
Wiederum andere durften ihren Ärger über das Misslingen dieses Attentats nicht zeigen. Ihr Hass auf Hitler und seine Paladine war inzwischen schon so groß, dass sie die gesamte Brut am liebsten in die Luft gesprengt hätten. Zu traurig, dass dieser verrückte Verbrecher mal wieder davongekommen war und seine Anhänger von der Vorsehung schwafeln durften, die ihn beschützt hätte.
Lisa dachte auch in diesen Tagen vor allem an Bertie. Hätte diese mutige Tat den gewünschten Erfolg gehabt, wäre der Krieg sicher bald darauf zu Ende gegangen und die Gefangenen vielleicht schon in den nächsten Monaten heimgekehrt. Wenn er noch lebte, dann musste Bertie doch in Gefangenschaft sein. Nur: Warum schrieb er nicht? Durften die Gefangenen vielleicht gar keine Briefe schreiben?
Der alte Mahlke wusste: »Die in englische oder amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten sind, die dürfen ganz selbstverständlich schreiben. Die Russen sind nicht so großzügig, von dort kommt kaum Post.« Aber war das ein Trost?
Ein langer, Lisa sehr bedrückender Sommer ging vorüber, ein kalter Herbst folgte und dann wurde es erneut Weihnachten. Die sechste Kriegsweihnacht nun schon. Wieder kamen Hete Rosenzweig und Onkel Ziesche Heiligabend auf einen Sprung vorbei, wieder war Bertie nicht bei ihnen.
Hete Rosenzweig hatte sich in den letzten Monaten sehr verändert. Sie jammerte und klagte und beschimpfte ihren Maxe nicht mehr. »Wenn der Krieg vorüber ist und die Nazis weg sind«, sagte sie nun immer öfter, »kehrt er ganz bestimmt zu mir zurück. Dann muss er ja nichts mehr befürchten, und dann sitzen wir wieder gemeinsam bei dir am Stammtisch, Lisa, und alles wird wieder, wie es war.«
Auch die kleine Schneidermeistersfrau betete die Niederlage herbei. »Wieso machen nur immer noch so viele mit?«, fragte auch sie sich. »Sind wir Menschen denn so blind? Oder so dumm?«
Onkel Ziesches Antwort: »Verlieren die Nazis diesen Krieg, können sie sich aufhängen. Sie sind sich der Verbrechen, die sie befohlen oder selbst verübt haben, ja deutlich bewusst – Verbrechen, die unsereins in all ihrem Ausmaß wohl nicht mal erahnen kann und die nicht nur mit dem Krieg zu tun haben. Bei einer Niederlage kommen sie ans Licht und dann wird die Welt uns bestrafen wollen. Und die grausamste Strafe, wer muss die befürchten? Natürlich, wer die größte Verantwortung getragen hat. Also lassen sie sich bis zum letzten Mann von uns verteidigen. Und weil keiner noch ganz am Ende des Krieges zum Opfer werden will, parieren wir.«
»Aber warum haben wir all diese Verbrechen und auch den Krieg nicht verhindert, als noch Zeit dafür war?« Eine Frage, die Lisa schon lange im Kopf herumging. »Die große Mehrheit, da bin ich mir ganz sicher, wollte das doch alles gar nicht. Vor allem nicht den Krieg.«
»Na warum wohl?« Onkel Ziesche lachte müde. »Weil wir das Parieren mit der Muttermilch eingetrichtert bekommen haben. Oft ducken wir uns ja schon, bevor man uns die Pistole auf die Brust setzt. Und wer sich nicht duckt und sich für keinen Kaiser oder Führer totschießen lassen will, gilt als Verräter. Den stecken wir ins Gefängnis, bringen ihn ins Lager oder richten ihn gleich hin.«
Eine Anklage, die Lisa erschreckte. Weshalb sagte Onkel Ziesche denn immer »wir« und »uns«?
Er ahnte ihre Frage. »Denken Sie bitte nicht, dass ich irgendwem Vorwürfe mache«, wiegelte er ab. »Wie käme ich dazu? Bin ja auch keiner von denen, die den Finger gehoben haben, um gegen diese Bastarde zu protestieren. Nicht mal als noch Zeit dafür war, habe ich das getan. Und jetzt? Jetzt spucke ich große Töne. Bin aber nur im kleinen Kreis so mutig, unter Leuten, von denen keine Gefahr ausgeht. Leider muss ich ›wir‹ sagen, weil schon jetzt alle Welt ›die Deutschen‹ sagt. Oder glaubt etwa wer, dass nach dem Krieg im Ausland lange abgewogen wird, wer die Verbrecher waren und wer heimlich ganz anders gedacht hat? Noch unsere Urenkel wird man scheel ansehen, wenn sie sagen, dass sie Deutsche sind.«
Keine der drei Frauen widersprach. Der alte Steuerberater hatte ja recht, wozu sich selbst belügen?
1945. Ein neues Jahr, aber noch immer ein Kriegsjahr. Und noch immer keine Nachricht von Bertie.
Dann dieser 3. Februar, ein Tag strahlenden Sonnenscheins und ein Tag der Katastrophe. Gegen halb elf Uhr vormittags heulten überall in der Stadt die Sirenen – und dann hagelte es anderthalb Stunden lang erst Sprengbomben, dann Phosphorbomben und danach, als alles bereits lichterloh brannte, erneut Sprengbomben.
Im Luftschutzkeller wurde nicht einmal mehr geflüstert. Jeder Einschlag ließ die Frauen, alten Männer und Kinder erschauern. Ob sie auch dieses Mal einigermaßen heil davonkommen würden? War ihr Glück nicht längst aufgebraucht?
Als endlich die Entwarnung kam, wollten viele es kaum glauben. Ein schwefelgelber, giftig verquollener Himmel hing über der Stadt, die Sonne ein einziger riesiger gelber Eiterball.
In Onkel Ziesche brodelte es. »Was gafft ihr denn so verdutzt?«, blaffte er die entsetzt in Richtung Stadtmitte starrenden Leute an. »Wir wollten es doch so haben. Der totale Krieg, das ist er! Gefällt er euch etwa nicht?«
Entsetzt blickte Lisa sich um. Wenn das einer von den Fünfhundertprozentigen gehört hatte! Doch nein, niemand widersprach.
»Ja, ja, so sieht er aus, der Weltuntergang!«, wetterte Onkel Ziesche weiter. »Aber den hat uns kein Gott und kein Meteorit beschert, den müssen wir auf unsere Kappe nehmen. Es prellt eben jeder nur so lange die Rechnung, bis er erwischt wird.«
Erneut kein Widerspruch, der Anblick war zu furchtbar. Selbst den gläubigsten Nazis hatte es die Sprache verschlagen. Dennoch drückte Lisa Onkel Ziesche nun lieber die Lenkstange von Mannis Kinderwagen in die Hand und schob ihn im Gefolge von Robby, Wölfchen, Lucie und Hete Rosenzweig rasch von den anderen fort. Murrend gehorchte er und sprach danach lange kein einziges Wort.
Erst später, als er mit einem Bier in der Hand vor ihrer Theke stand – es waren keine Gäste anwesend, die Gaststätte hatte noch geschlossen –, fragte er sich, ob dieser Angriff der Amerikaner in einer solchen Heftigkeit, nachdem der Krieg für Deutschland doch so gut wie verloren war, denn überhaupt noch nötig gewesen sei. »Haben se mit ihren Bomben etwa einen Hitler, Göring oder Goebbels getroffen? Nee, haben se nicht! Sie haben mal wieder auf uns, auf die kleinen Leute, gezielt, weil die Verbrecher sich in bruchsichere Bunker verkrochen haben. Als ob es irgendwas nützen würde, wenn ein Heinrich Ziesche oder eine Lisa Lenz mit der weißen Fahne wedelt.«
Traurig schüttelte er den Kopf. »Und auf solche Feinde warten wir nun, dass sie uns von unseren Teufeln erlösen.«
Tausende Tote hatte es an jenem sonnigen Vormittag gegeben – fast alles Frauen, Kinder und alte Männer –, noch tagelang hing der süßliche Geruch nach verbranntem Menschenfleisch in der Luft. Die Leichen, die gefunden wurden, mussten mit Petroleum übergossen und verbrannt werden, um die Seuchengefahr zu bannen. Grund genug für die Nazis unter Lisas Gästen, sich bestätigt zu fühlen. »Bis zur letzten Patrone müssen wir kämpfen, sonst meucheln die uns alle nieder, diese Luftgangster.«
Aber auch Hete Rosenzweig brachte für diese ständig neuen Bombardements kein Verständnis auf. »Wie dumm von den Amerikanern und Engländern! Wollen sie denn keinen einzigen Stein auf dem anderen lassen? Mit diesen ewigwährenden Angriffen stärken sie doch nur den Widerstandswillen der Leute. Ansonsten ganz friedliche Bürger werden zu Angstbeißern. Und je größer die Angst, desto länger dauert der Krieg.«
Doch die Bombardements gingen weiter. Ab Mitte Februar mehrmals am Tage, ab Mitte März in dreißig aufeinanderfolgenden Nächten. Lisa erschien es oft, als würde auf die Stadt wie auf ein waidwundes Tier immer wieder geschossen, nur weil es noch ein wenig zuckte. Im Luftschutzkeller wurden die haarsträubendsten Geschichten erzählt, und immer ging es um Leute, die im Bombenhagel umgekommen waren oder wie durch ein Wunder überlebt hatten.
Ende März wurde Onkel Ziesche zum Volkssturm einberufen. Hitlers letzte Reserve: fünfzehnjährige Jungen und alte Männer; der Strohhalm, an den er sich klammerte. Ein Wahnsinniger stürzte und riss alles mit sich mit, und niemand war da, der ihm Einhalt gebot, kein General und kein Gott.
In »Räuberzivil«, angezogen wie zu einem Ausflug ins Grüne, dennoch die übliche bunte Fliege unterm Kinn, trat Onkel Ziesche noch einmal vor Lisas Theke. Am Arm schon die Binde mit dem Aufdruck Volkssturm.
»Tja!«, sagte er achselzuckend. »Es ist so weit, der Führer kann auf Heinrich Ziesche nicht länger verzichten. Also ziehe ich los, um das liebe Vaterland vor den Barbaren zu retten.«
»Passen Sie nur gut auf sich auf.«
Was sollte sie denn sonst sagen? Etwa: Bleiben Sie hier, verstecken Sie sich, es kann nicht mehr lange dauern? Dazu durfte man niemanden überreden. Wurde der »Drückeberger« gefasst, kam er vor ein fliegendes Feld- oder Standgericht. Und danach wurde er erschossen oder am nächsten Laternenpfahl aufgehängt. Junge SS-Männer sollten es sein, die in ihrem fanatischen Durchhaltewillen Straßen, Ruinen und Trümmerfelder nach Deserteuren durchkämmten. Dabei verfügte dieses letzte Aufgebot von Kindern und Greisen, die ihre »Haustüren« verteidigen sollten, nicht mal mehr über vernünftige Waffen und genügend Munition.
Sie schenkte ihm ein letztes Glas Bier ein und Onkel Ziesche trank es in einem Zug aus. »Danke für Ihre Sorge, Frau Lisa. Doch was soll’s? Es gibt einen schönen alten Spruch: Im Glück nicht jubeln, im Leid nicht klagen, das Unvermeidliche mit Würde tragen. An den halte ich mich.«
»Dass Sie so abgeklärt sein können!« Lisa wusste nicht, ob sie Onkel Ziesche bewundern oder mit ihm schimpfen sollte.
Seine Antwort: »Leider hat ›müssen‹ nichts, aber auch gar nichts mit ›können‹ zu tun.« Dann ging er.