ELISABETH,
IM JULI 2015

Aus Dunkelheit wird Licht. Dieses Mal ist es der Heidelberger Platz. Ein Kreuzgewölbe mit eleganten Hängelampen, eher Museum oder Kathedrale als U-Bahnhof.

Noch immer findet Elisabeth es befremdlich, nach Westberlin zu fahren. Sie wird dieses Zögern nicht los, so sehr sie sich auch bemüht. Nicht einmal das Wort Westberlin will verschwinden. Sie könnte sagen: Ich fahre nach Zehlendorf, genau genommen nach Dahlem, das klingt sogar schöner. Nach Wäldern und Seen.

Aber nichts da. Es ist Westberlin, immer noch.

Rüdesheimer Platz. Granitpfeiler und Kassettendecke. Um die Lampen kreisförmige Mosaike – Trauben und Weinblätter, vorbeiziehende Nischen. Die Bahnhöfe rauschen an ihr vorbei, einer schöner als der andere.

Immer wieder Gold. Überall.

Kapitalistisches Feindesland.

Breitenbachplatz. Kassettendecke, Wandgemälde, Nischen, erneut Mosaikarbeiten, Gesimse.

Nichtsozialistisches Ausland.

Sie genießt den Anblick und schämt sich fast dafür.

Aus Licht wird wieder Dunkelheit.

Bis die U-Bahn endlich – kurz vor dem Thielplatz – den Tunnel verlässt und für den Rest der Strecke ans Tageslicht gelangt, erst dann weitet sich der Blick. Weg vom Gold. Vom Glanz. Von ihren Überlegungen.

Ob andere auch solche Gedanken wälzen, wenn sie mit der U3 fahren?

Warum hört das nicht auf?

Ob sich Erfahrungen tatsächlich in der DNA verankern, wie es manche Wissenschaftler behaupten? Gut, dass sie ihre Gene nicht mehr weitergeben kann. Jahrzehntealtes Zeug hat sich dort vermutlich eingenistet, regelrecht verkeilt, und ist nicht mehr herauslösbar. Erfahrungen aus dem letzten Jahrtausend, die niemand mehr braucht. Von denen keiner mehr hören und wissen will. Weg. Untergegangen. Nur bei ihr noch im Verborgenen verwahrt und bleischwer zu spüren – vor allem in Westberlin. Nicht einmal Konrad gegenüber würde sie es zugeben. Auch nach über 60 Ehejahren muss man sich nicht alles erzählen.

Es gibt Tausende von Fragen, über die sie in ihrem Leben nachgedacht hat. Fragen, die schlaglichtartig erscheinen und ebenso schnell wieder verschwinden. Meist sind es Belanglosigkeiten, denen sie keinerlei Bedeutung beimisst. Und so macht sie sich oft nicht die Mühe, in der Vielzahl der Fragen die Spreu vom Weizen zu trennen, um jene zu erkennen, die es wert sind, genauer betrachtet zu werden. Meist zeigt sich das erst im Nachgang. Wie oft ärgert sie sich, Gedanken aufgegriffen und aus Bequemlichkeit nicht weiter verfolgt zu haben. Ihnen ausgewichen zu sein.

Ihr Blick fällt auf eine Fliege, die nicht aus dem Zug herausfindet. Das ist doch das beste Beispiel: Nach langen Autofahrten hat sie sich irgendwann zu freuen begonnen, dass die Frontscheibe und die Scheinwerfer kaum noch mit toten Insekten verklebt sind. Das Ploppen, wenn das Viehzeugs während der Fahrt auf dem Glas aufschlägt, hat sie nie leiden können und noch weniger das Geschmiere, das es hinterlässt, wenn es auf diese Weise sein Leben aushaucht.

In Elisabeths Hinterkopf hat es dennoch dieses leise Summen gegeben. Sie kennt es, seit sie denken kann. Es ist Ausdruck einer Unruhe, die einer eigenen, einer inneren Akustik folgt, es ist aber gleichermaßen ein Gefühl im Übergang zur Ahnung. Häufig ähnelt es einem unangenehmen und hochfrequenten Sirren, das sie nur bemerkt, wenn sie einen Gedanken nicht zu Ende führt, wie beispielsweise jenen: Wenn also auf jeder Scheibe fahrender Autos früher so viele Insekten zerplatzten und es heute nun eigentlich nicht mehr tun, wo sind sie dann, die Insekten?

Egal.

Auch in diesem Fall hat sie sich nicht darauf eingelassen, ihre Überlegungen fortzuführen, und irgendwann verschämt damit begonnen, Vögel das ganze Jahr hindurch zu füttern.

Wind zieht durch das geklappte Oberfenster herein und nimmt den Gedanken mit. Die Fliege krabbelt weiter orientierungslos über die Scheibe.

Oskar-Helene-Heim. Onkel Toms Hütte.

Der Zug ist nur halb voll. So wie die Stadt derzeit. Den Sommer in Berlin mag Elisabeth. Wenn alles einen Schritt langsamer läuft als gewöhnlich. Das nächste Mal wird sie trotzdem ein Taxi nehmen. So langsam ist sie zu alt, um sich für einen Arztbesuch noch länger allein in S- und U-Bahn zu setzen – ob es ihr passt oder nicht. Allerdings ist eine Taxifahrt von Pankow nach Dahlem teuer. Sie will nicht jammern, aber Facharzt bleibt Facharzt, da ist ein Wechsel ausgeschlossen. Einer der wenigen Gründe, für die sie es auf sich nimmt, nach Westberlin zu fahren.

Gleich wird sie Krumme Lanke erreichen.

Sie seufzt.

Es gibt so viele Gedanken, die zeigen, dass sie zwei und zwei zusammenzählen, Informationen aufnehmen, deren Bedeutung abwägen und ins Verhältnis setzen, also verarbeiten und auswerten kann. Um dann Entscheidungen zu treffen. Den lieben langen Tag.

Und so war es auch damals.

Mit Henning. Sie hat den Bruder am Mittwoch vor jenem Samstag nur kurz im Laden besucht, und er hat ihr nebenbei vom Volksfest erzählt. Irgendeines, sie hat kaum zugehört, den Kopf voll mit Aufgaben, die sie erledigen, und Fragen, die sie klären sollte, voll mit Dingen, die sie nicht vergessen durfte. So war das halt: Konzentration, unentwegt. Weil sie unfehlbar sein musste.

Ja, es ist ein großes Wort, aber genauso war es: Sie durfte und wollte zeigen, was eine Frau zu leisten vermag.

Nur bei Henning, da leistete sie sich einen Moment der Un aufmerksamkeit.

Zwei Buchstaben mit derart gravierenden Auswirkungen.

Er war ihr Bruder, der Kleine, so jung und unbedarft.

Ja, er hat Zehlendorf erwähnt, das weiß sie noch.

Verbotenes Land.

Schon damals.

Also nicht wirklich verboten, aber ihr wäre es lieber gewesen, er hätte Westberlin gemieden. Sicherlich wäre es nicht so schlau, wenn er dort hinfahren würde, schoss es ihr damals kurz durch den Kopf. Sie wollte im Magistrat schließlich nicht den Eindruck erwecken, ihre Familie nicht im Griff zu haben. Ein bisschen Rücksicht von Henning, das hätte sie doch erwarten können.

Das ist einer der Gedanken, von denen sie bis heute bitter bereut, sie nicht weitergedacht zu haben. Diesen einen kleinen Moment der Nachlässigkeit kann sie sich nicht verzeihen. Hätte sie Henning am 29. Juli 1961 doch untersagt, nach Zehlendorf zu fahren. Nun gut, er hätte vermutlich nichts auf ein Verbot seiner Schwester gegeben. Warum auch? Immer hat er seinen Kopf durchgesetzt. Rückblickend kann sie es ihm nicht verdenken. Er war damals wild, und er war abenteuerlustig. Ein hübscher Bursche, ein Blickfang.

Wenn sie all das damals weitergedacht hätte, wie wären ihre Leben dann wohl verlaufen?

Wenn sie – es war schließlich ein Samstag – ihn zum Essen in die Datsche am Bestensee eingeladen hätte, mit ihm ins Kino gegangen wäre? Was auch immer sie hätten unternehmen können. Aber sie hat nichts dergleichen getan, hat nicht geahnt, was kommen wird. Und er fuhr nach Zehlendorf.

Ja, nach Westberlin!

Es war wichtig, die beiden Worte schnell zu sprechen, sie nicht zu sehr zu betonen. Und noch wichtiger war es, nicht West-Berlin zu schreiben. Da war die Teilung schon im Wort erkennbar, so ein Bindestrich konnte aufrührerisch sein, den Eindruck von Selbstständigkeit vermitteln. Westberlin klang eher unbedeutend, nach einem beliebigen Ortsteil oder irgendeinem Bezirk, halt wie Neukölln oder Westend. So hat man damals gedacht. Sie auch, und noch heute schreibt sie es so. Denkt und spricht sie es so.

Es ist fest verankert.

Schließlich wurde ihr eine Chance geboten, eine, die in der Generation ihrer Mutter undenkbar gewesen war. Sie wollte und konnte gestalten, und zwar den Aufbau ihres Landes, ihre Zukunft und die ihrer Kinder. Die des Bruders.

Sie als Frau konnte das tun.

Sie war mittenmang und nicht nur dabei. Sie wollte Teil davon sein, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu schaffen. Das war ein Bild, das sie mochte. Keine Nazidiktatur mehr, nur Frieden. Und Gerechtigkeit.

Dann kamen die Kollegen des Ministeriums für Staatssicherheit

Zu ihr.

Um sie zu befragen. Was hätte sie erwidern sollen? Natürlich war ihr klar, dass das 1. Deutsch-Amerikanische Volksfest kein Ort für einen 19-jährigen Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik war, weil er dort mit seinen Freunden der 298. Army Band zuhörte. Sich im Takt der Musik wiegte. Des Jazz, des Swing, was auch immer. Es war der Takt des Volksfeindes, schlicht und ergreifend.

Innerlich schüttelt Elisabeth den Kopf: Was war das überhaupt für ein Name: 298. Army Band ? Gab es dann noch eine 51. und eine 243. Army Band, also mindestens 297 andere Musikkapellen, in denen Soldaten aufspielten?

Das war wieder so ein Gedanke, der zu nichts führte.

Sie versicherte der Stasi mehrfach, nicht gewusst zu haben, dass ihr kleiner Bruder tatsächlich zum Volksfest der AME -RI -KA -NER gefahren war, wie es der Wortführer betonte.

Sie wusste nicht um den Wochenlohn in Hennings Hosentasche, den er auf den Kopf hauen wollte.

Aber die Stasi, die wusste darum.

Sie wusste auch ums Wetter: wolkig, windig, kühl. Es hatte Sommermantel oder Blouson erfordert.

Alles hätte gut gehen können. Henning hätte sich beim Dosenwerfen und am Schießstand amüsieren, im Karussell Starparade seine Runden drehen können, um dann im Riesenrad mit Gondeln die Aussicht zu genießen. Er hätte die Volkstanzgruppe The Berlin Dancing Bells erleben und die sogenannten Thuringian Sausages from the Roast verschlingen können, bis das letzte Geld verprasst gewesen wäre. All das hätte er tun können – für neun Tage, denn so lange dauerte das Volksfest seinerzeit.

Aber nein – gleich am ersten Tag geschah es.

Die Zuckerwatte war schuld.

Dort, am Stand, begegnete er ihr.

Blütenweißes Naschwerk, direkt vor ihrem Gesicht.

Er konnte nicht sehr viel mehr erkennen als eine kunstvoll gesteckte Frisur und lange Finger, die Flocken aus dieser vermaledeiten Zuckerwatte zupften. Sobald er Mariettas Gesicht dann sah – in Gänze – und ihre Blicke einander fanden, war es um ihn geschehen. So hatte er es am Abend des Sonntags formuliert und dabei ins Leere gestarrt. Mit stumpfem Blick.

All das erfuhr sie selbstverständlich erst im Nachhinein. Denn welcher Bruder eilt zu seiner elf Jahre älteren Schwester, die zudem eine halbe Stunde mit dem Fahrrad entfernt wohnt, und erzählt ihr, dass er sich über Zuckerwatte hinweg auf dem Sportplatz am Hüttenweg, inmitten des Feindeslandes, verliebt hat? Vor allem, wenn er weiß, dass die Schwester ihm die Leviten lesen wird, weil er sich in seiner Freizeit beim Klassenfeind im amerikanischen Sektor amüsiert? Warum sollte Henning kundtun, dass er seine Angebetete weiterhin jeden Tag trifft – auch das im amerikanischen Sektor –, obwohl die letzten Töne der 298. Army Band inzwischen vom Wind über die Bäume des Grunewalds verweht sind? Woher soll da die Schwester wissen, dass ihr Bruder aus Treptow und ein Mädchen aus Zehlendorf nicht voneinander lassen können – und wollen? Woher soll Elisabeth Simon wissen, dass Henning Fuchs sogar schon die Mutter von Marietta kennt? Woher soll sie wissen, was sich in diesen wenigen Tagen, die den beiden überhaupt geblieben sind, zugetragen hat?

Wenn sie es genau nimmt, hat dieses Volksfest mit seinem gesponnenen Zucker ihrer aller Leben aus der Bahn geworfen.

Gut, es war nicht nur das Fest, das alles aus der Bahn geworfen hat.

Aber auch.

Dieses Fest hat in jedem Fall ihr Leben langfristig verändert, ohne dass sie es jemals besucht hat.

Was nicht in ihren Kopf will: Damals hat Henning ihr gegenüber nicht ein Wort gesagt. Er hat keinen Vorwurf erhoben, nichts dergleichen. Und jetzt, über 50 Jahre später, taucht er auf und gibt öffentlich diese Unverschämtheiten von sich.

Sie konnte den Hüttenweg noch nie leiden. Und jetzt noch viel weniger. Zuckerwatte selbstverständlich auch nicht. Weil diese beiden Worte sofort die altvertraute Gedankenspirale in Gang setzen und alle Sätze für eine Weile mit einem Warum beginnen und mit einem Fragezeichen enden. Beispielsweise: Warum hat sie nicht auf das Sirren in ihrem Hinterkopf reagiert, als Konrad ihr eröffnet hat, er würde Henning ebenfalls zu seinem 85. Geburtstag einladen? Es wird ihr ein Rätsel bleiben, schließlich war es eine unpassende Idee.

Und der Vorwurf, den Henning ihr vor allen Anwesenden – der engsten Familie, der Verwandtschaft und dem wildfremden Servicepersonal des Hotels – gemacht hat, der schmerzt noch immer. Für einen Moment hat sie im Festsaal befürchtet, ihr Herz könnte aufhören zu schlagen. Der Blick ihres Bruders war vernichtend gewesen und – welch seltsamer Widerspruch – seine Augenpartie noch immer so vertraut wie vor Jahrzehnten. Auch dieser Blick, im Hotel, vor allen, war nun in ihrer DNA verankert, da war sie sicher.

Elisabeth muss schlucken, um den Druck in ihrem Hals loszuwerden.

Warum hatte sie die Einladung nicht unterbunden? Und wie hatte ihr Gatte mit dieser Einladung ihr gegenüber so unsensibel sein können? Oder war er letzten Endes doch naiv, gutmütig? Wurde er altersmilde und sehnte sich nach rührseligen Familienzusammenführungen?

Henning war gegangen.

Er hatte sich entschieden.

Es gab ihn nicht mehr.

All die Jahre.

Sie hatte ihn verloren, und der Preis, den sie für seine Entscheidung gezahlt hatte, war hoch.

Mit Konrad hat sie an jenem denkwürdigen Geburtstag nicht weiter darüber gesprochen. Nur im Taxi, auf dem Heimweg, hat er ihren Oberschenkel getätschelt und gesagt, sie solle sich nichts daraus machen.

Nichts hat sie erwidert. Gar nichts. Was hätte sie darauf auch sagen sollen?

Sie will nicht daran denken, an nichts davon. Sie will den Druck in ihrer Brust nicht noch einmal fühlen und erhebt sich hastig, um auszusteigen.

Krumme Lanke. Eine hübsche Gegend. Kopfsteinpflasterstraßen, große Villen und gediegene Altbauten. Wuchtige Kiefern, die sich im Wind biegen und deren Duft vom Mittelmeer erzählt. Aber trotzdem bleibt es dabei: Sie ist nicht gern hier. Erstens: Westberlin. Zweitens: Der Hüttenweg ist in der Nähe. Und mit ihm die Gedankenspirale. Sie beschleunigt voller Wut den Schritt.