ANKE,
IM JULI 2015

Als Elfjährige schlug dieses Kind mit der einen Hand die Kühlschranktür zu, in der anderen hielt es eine Wurstpackung. »Für diese Salami musste ein Schwein sterben, richtig?«, fragte ihre Tochter sie damals mit anklagendem Ton.

Anke kann sich genau erinnern, wie ihr Böses schwante, und es kam, wie es kommen musste: Lou, die Fünftklässlerin, erklärte, von nun an Vegetarierin zu sein. Eine Weile hatte Anke noch darauf gehofft, dass Schnitzel und Chicken Nuggets Gründe für Lou wären, Ausnahmen zuzulassen – aber da hatte sie sich getäuscht.

Ein Hupen lässt sie aufschrecken und beiseitetreten. Sie greift sich einen Korbstuhl von der Ladefläche des Vitos, um ihn in das WG -Zimmer zu schleppen, in das ihre Tochter zieht.

Ein Gründerzeitbau vorne, hinten Kreuzberger Innenhof. Mülltonnen, Fahrräder, ein Bäumchen, das zu wenig Licht bekommt. Das Treppenhaus heruntergekommen, Schuhe auf den Fußmatten. Basslastige Musik, die hinter einer Tür hervordröhnt.

Klischeehaft geradezu. Aber es ist der Bergmannkiez. Vor dem Haus pulsiert das Leben, Szene-Restaurants, Cafés und unzählige Läden, die von Postkarten über Comics bis hin zu Secondhand alles verkaufen, was man in diesem Großstadt-Biotop zum Leben braucht.

Anke mustert verstohlen ihre Tochter, die vor ihr die Treppe hinaufläuft, eine Topfpflanze im Arm. Natürlich ein Bogenhanf im besten Zustand. Aktuell im Trend, zu ihrer Zeit als Schwiegermutterzunge verschrien. Auch heute ist das Kind wieder ganz in Schwarz gehüllt. Lou kennt das guilty pleasure ihrer Mutter – ein kräftiges Pink, natürlich als Neon-Ton. Niemals mehr würde Anke diese Leuchtfarbe anziehen, nicht einmal Schlüsselbund oder Portemonnaie kämen dafür infrage, aber zu Hause gibt es noch immer einige Relikte in sattem Pink aus einer anderen Zeit. Vielleicht ist das viele Schwarz der Tochter die Antwort darauf.

Lou trägt ein weites Oberteil mit Fledermausärmeln und eine enge Jeans, vermutlich gebrauchtes Zeug aus einem dieser Kreuzberger Schmuddelläden. Derbe Schuhe, Doc Martens, natürlich.

Keine Farbe. Nirgends.

Nicht einmal die Haarfarbe ist benennbar. Weder Schminke noch Schmuck, wenn man vom Blech in ihrem Gesicht – an rechter Augenbraue und linkem Nasenflügel – mal absieht. Diese beiden kleinen Ringe scheinen eine logische Weiterentwicklung dieses Vegetarier-Verkündungstages zu sein. Anke vermutet, dass Lou längst vegan lebt, denn inzwischen ist sie nicht mehr dünn, sie ist zart. Obwohl fein das passendere Wort wäre. Alles an ihr ist fein – ihre Haut, das Haar, die Finger, all ihre Gliedmaßen. Vor allem aber: ihr Charakter. Fein bis sensibel, im Sozialverhalten vermutlich sogar hochbegabt.

Manchmal fragt Anke sich, woher sie so eine Tochter hat.

Dieses Kind hat wenig mit ihr gemein.

Und es ist auch ganz anders als sein Erzeuger. Wie Martin ein derart klares, kluges und konsequentes Wesen zustande gebracht hat, kann sie sich bis heute nicht erklären. Gott sei Dank hält er sich fern. Von ihnen beiden. Zum Geburtstag ruft er an, das muss reichen.

Ob Lou ihn vermisst?

Sie spricht nie über ihn.

Was hat Martin damals studiert? Ethnologie? Theaterwissenschaft? Soziologie? Er hat mehrmals die Fächer gewechselt und nichts, aber auch gar nichts, geregelt bekommen. Nur feiern, das konnte er. Zumindest damals. Die Zeit mit ihm, das waren Love-Parade und Festivalhopping, und nichts haben sie ausgelassen, das Leben eine einzige Party. Tresor, Rock It, Waschhaus, Lindenpark, Cookies – es gab kaum einen Club in Berlin und Potsdam, in dem sie nicht die Nächte durchgemacht haben. Wahllos waren sie, wenn es ums Feiern ging. Hauptsache laut und immer bis in die Morgendämmerung hinein.

Die Schwangerschaft bemerkte Anke spät, sehr spät. Wie sie auch erst mit dem sich wölbenden Bauch begriff, dass Martin in allem Arbeit machte. Wenn er nicht feierte, kiffte er. Tatsächlich musste sie ihn, wo sie erstmals vor einer Herausforderung standen, an die Hand nehmen, um ihn durch das Labyrinth des neuen, sich abzeichnenden Alltags zu führen. Von da an ging es bergab mit ihnen. In rasantem Tempo.

Nach Lous Geburt brach sie das Germanistik-Studium ab, eine Ausbildung in der Verwaltung folgte und mündete in der Beamtenlaufbahn. Weder die Trennung von Martin noch die berufliche Neuorientierung oder das Ende der Partyzeiten – nichts davon hat ihr jemals leidgetan. Denn sie hat immer die Unterstützung ihrer Familie erhalten, und eher beiläufig ist Christian zum Ziehvater ihrer Tochter geworden. Der heiß geliebte Bruder. Der zeitweilig verloren geglaubte Sohn der Familie.

Zusammenhalt, das kann Familie Hauschke.

Im dritten Stock betritt Lou eine typische Altbauwohnung: langer Flur, Holzdielen, hohe weiße Türen. Ihr Zimmer mit zwei Flügelfenstern ist geräumig, der Blick in den Innenhof erwartbar öde. Immerhin ist der Himmel zu sehen, ein schmaler Streifen Blau über verwaschenem Ziegelrot.

»Stell den Stuhl ruhig vor dem Fenster ab«, sagt Lou, während der Bogenhanf-Topf auf dem Schreibtisch seinen Platz findet.

»Ich muss bald los, ich habe dir ja gesagt, dass ich nicht die ganze Zeit dabei sein kann«, läutet Anke ihren Rückzug ein. Was soll sie hier? Zwischen jungen Leuten, müffelnden Converse-Schuhen der Mitbewohnerinnen, die sich neben Leergut, vornehmlich Matcha-Tee und Rotweinflaschen, im Flur stapeln? Der Geruch des Linseneintopfs für die Umzugshelferinnen verursacht ihr schon aus der Ferne Übelkeit.

»Danke, dass du überhaupt da bist, ich wollte dir wenigstens das Zimmer zeigen. Was hast du noch vor?«

»Ich fahre zu Elisabeth und Konrad. Sie will Gardinen waschen. Was man halt an schönen Samstagen im Sommer so macht.«

Lou lacht auf und haucht ihr einen Abschiedskuss auf die Wange. »Grüß die beiden schön. Und wenn wir beide wieder ein bisschen mehr Zeit haben, würde ich gern noch mal über den Geburtstag mit dir reden.«

In Anke schrillen die Alarmglocken. Lou hat einen ausgeprägten Familiensinn und ist sehr neugierig. Natürlich musste sie damit rechnen, dass ihre Tochter auf den filmreifen Auftritt des verschollenen Verwandten zu sprechen kommen würde. Das verspricht anstrengend zu werden. »Und warum?«, fragt sie lauernd.

»Na ja, das war schon schräg. Kennst du diesen Onkel Hinnerk, oder wie er heißt?« Lou nimmt einen leeren Karton und macht sich auf den Weg zurück zum Vito.

Anke folgt ihr und weicht zwei Freundinnen der Tochter aus, die einen Reisekoffer aus den 20er-Jahren schleppen. »Henning? Nein. Vom dem wusste ich nur, dass er im Westen lebt und dass sie allesamt keinen Kontakt mit ihm haben.«

»Hat dich das denn nicht interessiert, wer das ist?«

Nein, um ehrlich zu sein, hat es sie nicht interessiert. Aber kann man das seinem Kind gegenüber zugeben?

»Überleg doch mal, da gibt es einen Menschen in der Familie, der so totgeschwiegen wird, dass ich nichts von ihm weiß.«

Na ja, das ist ja das Wesen des Totschweigens – dass niemand von irgendwas weiß, geht es Anke durch den Kopf.

»Und dann noch dieser krasse Vorwurf. Glaubst du wirklich, dass Elisabeth damals irgendwas vom Mauerbau wusste? Und wovor genau hätte sie ihn denn warnen sollen? Also: Warum dieser Auftritt auf Konrads Geburtstag?« Lou dreht sich auf der Treppe um und mustert sie. Die Augenbraue hochgezogen, der Blick bohrend.

Anke bleibt stehen. »So etwas gibt es in allen Familien: Die einen reden miteinander, die anderen nicht. Und nein, natürlich hat Oma Elisabeth von nichts gewusst. Du kennst sie doch. Dass du das überhaupt in Erwägung ziehst!«

»Nein, ich ziehe gar nichts in Erwägung, aber …« Lou wiegt den Kopf. »Komisch ist es schon. Hast du bemerkt, wie Henning sie angeschaut hat? Da kommt dieser alte Herr, im Schlepptau seine Frau, den weiten Weg angefahren, beschimpft die eigene Schwester, und das war’s? Dafür muss man schon sehr überzeugt sein von seinem Vorwurf.«

Anke steht zwei Treppenstufen über Lou, sodass ihr Blick auf deren Scheitel liegen bleibt. Wann ist aus dem goldgelben Flaum dieser Haarton ohne Namen geworden? Der milchige Geruch der weichen Haare liegt ihr mit einem Mal in der Nase. Wann sind die fein geflochtenen Seitenzöpfe in borstige Dreadlocks übergegangen? Heiß von Lou geliebt und gepflegt, aber nur so, dass es nicht auffällt. Diese verfilzten Dinger sind wie eine Verlängerung der Metamorphose ihrer Tochter, an der Anke schwer trägt. Neben dem Veganertum und der Vorliebe für Schwarz sind es Lous Argumentationen, die in sich immer schlüssig sind. So schlüssig, dass Anke oft danebensteht, um Worte ringt, keine passenden für eine Erwiderung findet und sich dabei richtig dämlich vorkommt. Ihrer Laune ist das in der Regel nicht zuträglich. Und dann eskalieren die Gespräche auch immer schnell. Argumentieren ist nicht ihre Sache. Anke zuckt mit den Schultern. Vielleicht hätte sie doch weiter studieren sollen? Aber ob der Aufwand sich gelohnt hätte? All das nur, um später einer aufmüpfigen Tochter das Wasser reichen zu können? »Ich sehe da einen rachsüchtigen alten Mann«, erwidert sie lahm, »der seit Jahren nicht auf der Bildfläche erschienen und wahrscheinlich verärgert ist, bei den großen Familienfeiern nie eingeladen worden zu sein. Wird schon einen Grund geben, dass ihn keiner dabeihaben wollte.«

Lous Blick richtet sich nach innen. Auf ihrer Stirn bilden sich Falten. »Aber dass niemand, wirklich niemand, etwas erwidert hat! Überleg doch mal …«

Sie treten vor die Haustür auf den breiten Bürgersteig, und Anke empfindet den Lärm mit einem Mal als wohltuend, denn er unterbricht Lous Redefluss und überdeckt die eigene Sprachlosigkeit.

»So, ich muss los!« Anke umarmt Lou, winkt den Umzugshelferinnen und macht sich zügig auf den Weg, erleichtert, ihrer Tochter zu entkommen.

Ja, so deutlich muss sie es formulieren.

Wenn Lou ein Thema anpackt, gibt es kein Halten mehr. Dann muss sie jeden Stein umdrehen, jede Mauer einreißen …

Sobald Anke sich außer Sichtweite glaubt, verlangsamt sie ihre Schritte. Vielleicht wird sie sich noch einen Kaffee gönnen, der Nachmittag verspricht, lang zu werden.

Ein Trödelladen erregt ihre Aufmerksamkeit. Ein schwarzes Ladenschild mit schlecht lesbarer Schrift, ein überquellendes Bücherregal, mehrere Grabbeltische und ausgetretene Steinstufen, die ins Souterrain führen. Die Treppe erweckt den Anschein, als würden die Sachen aus dem Laden regelrecht herausquellen. Krempel, Vintage, Antikes. Anke liebt das. Langsam schreitet sie die Treppe hinab und muss aufpassen, wo sie ihre Füße hinsetzt, so eng steht der Trödel. Das gibt es vermutlich nur in Berlin, denkt sie noch, als irgendetwas in ihr zusammenzuckt.

Etwas, das tief verborgen liegt und plötzlich an die Oberfläche drängt.

Ihr Blick tastet noch einmal zurück und wieder vor. Was hat ihre Aufmerksamkeit erregt?

Dann sieht sie ihn: den Vogelkäfig.

Er hängt im Laden von der Decke, und es ist der gleiche, den sie früher gehabt hat.

Für Susi.

Selbst von sich überrascht, spürt Anke, wie ihr die Tränen in die Augen schießen. Wie jung sie damals war. In einem Alter, in dem man einen Vogel so lieb haben konnte, dass es wehtat.