LOU,
IM JULI 2015

Inzwischen ist es nur noch jeder dritte Donnerstag im Monat. Ein Überbleibsel aus der Schulzeit, als sie nahezu jeden Donnerstag nach Schulschluss bei Oma Isa und Opa Hannes Zeit verbracht hat, wenn Anke ihren langen Arbeitstag im Amtsgericht hatte. Aber dieses Ritual hat sich herausgebildet – der eine feste Nachmittag im Monat, an dem Großeltern und Enkelin Zeit miteinander verbringen, zusammensitzen, Karten spielen, Filme schauen, kochen oder backen.

Verstohlen blickt Lou sich um und nimmt auf dem Sofa Platz. Die Bücher, die Topfpflanzen, unter denen es sogar noch Usambaraveilchen gibt, die Sammelfigürchen, irgendwelche Lithografien von Berlin an den Wänden, die abgestoßene Ecke am Tisch. Vertraut, seit vielen Jahren.

Und trotzdem ist heute alles anders.

Mit einem Mal ist da – dieses Gefühl. Es steht wie der sprichwörtliche Elefant im Wohnzimmer. In dieser Schöneberger Dreizimmerwohnung einer Baugenossenschaft. Ein Nachkriegsbau, in dem Isa und Hannes wohnen, seit sie mit den Kindern in West-Berlin neu angefangen haben. Lou beobachtet Isa, die das Teekännchen und Tassen auf einem Tablett hereinbringt, es auf dem Tisch abstellt und über Belanglosigkeiten plaudert.

Es gelingt Lou nicht, sich zu konzentrieren. Immer mehr Gedanken scheinen aus unbekannter Tiefe aufzutauchen, an die Oberfläche zu drängen und sich in einer Frage zu vereinen: Wie kann ein Familienmitglied einfach verschwinden? Nicht mehr stattfinden? Nicht mal in Gesprächen. Ganz gleich, mit wem man redet?

»Wie war das eigentlich damals, als plötzlich die Mauer da war?«

Sie ist selbst erschrocken, denn sie hat sich nicht vorgenommen, diese Frage zu stellen. Aber nun steht sie da, ebenfalls mitten im Raum, direkt neben dem Elefanten.

Isa tut so, als hätte sie beides nicht bemerkt. Sie gießt den Tee ein und hebt den Blick nicht.

Lou vergisst zu atmen, ihr Blick klammert sich dafür regelrecht am Gesicht der Oma fest. Ihrer Oma, die aussieht wie immer. Sie kennt jede Falte, den Schwung der Halsbeuge, in die sie sich als Kind gern geschmiegt hat, um den Duft der Haut einzusaugen. Süß, mit einer Note von Butterkeksen. Wahrscheinlich Nivea. Mit dem nächsten Atemzug kommen die Worte wieder: »Kannst du dich erinnern, wann dieser Henning gegangen ist? Wie ist er fortgegangen? Hat er einen Ausreiseantrag gestellt? Hieß das so?«

»Nein, natürlich nicht.« Die Stimme der Oma klingt unerwartet harsch.

Lou schluckt. Die gesenkten Lider und der abweisende Ton treffen sie. So redet Oma nicht, zumindest nicht mit ihr. »Wieso ›natürlich‹?«, fragt sie. Ihre Augen verengen sich.

»Das weiß man doch.«

»Was weiß man doch? Was meinst du damit?« Lous Ton ist schärfer als gewollt. So redet sie eigentlich auch nicht, zumindest nicht mit ihrer Oma.

»Die Möglichkeit, sich auf das Recht der Freizügigkeit zu berufen, gab es ja erst seit dem Sommer 1975.«

Woher soll sie das denn wissen? Sie weiß nichts über irgendeinen Sommer in den Siebzigern, sie weiß nicht einmal, wann dieser Henning verschwunden ist. Zu den bisherigen Fragen kommen neue hinzu. Warum macht Oma Isa das? Warum reagiert sie so abweisend? Natürlich gibt es in jeder Familie Themen, um die alle herumschleichen, um den Frieden zu wahren. Beispielsweise weiß Lou, dass sie kein Wunschkind ist, sie war ein Unfall, wie viele andere Unfälle auch, die heute die Welt bevölkern. Immerhin bezeichnet Anke ihre Tochter stets als die schönste Überraschung in ihrem Leben. Lou hatte nie einen Zweifel, willkommen gewesen zu sein. Sie war immer schon der Liebling in der Familie Simon-Hauschke.

Das Nesthäkchen.

Die Verwöhnte und von allen Vergötterte.

Und so gab es damals nur ein Gespräch dazu, mit 17, am Küchentisch, so eines, wie sie sich zufällig ergeben und in denen dann die großen Fragen gestellt werden: »Wie hast du es eigentlich gemerkt? Und dann? Wie war ich so als Baby? Warum hat das mit Papa, also Martin, nicht geklappt?«

Erst Espresso, später Rotwein. Eine tropfende Kerze auf dem Tisch. Ein Film auf DVD , der darauf wartete, abgespielt zu werden. Umarmungen so fest wie Umklammerungen, vereinzelte verstohlene Tränen und Küsse auf Wange und Haaransatz; die Hand der Mutter auf ihrem Hinterkopf, die über ihn strich, als wäre er noch immer Teil des Neugeborenen und brauche ihren Halt. Ein einziger Abend nur, und doch war alles gesagt. Sie hatten sich gegenseitig vergewissert. Darüber mussten sie fortan nicht mehr sprechen. Es war ein dysfunktionales Familienkonstrukt, wie es heute heißt, aber es wurde transparent gelebt. Der Zusammenhalt in der Familie hatte Lou getragen, bisher. Doch nun ist das Gefühl erschüttert.

Einer ist aus diesem Zusammenhalt der Familie Simon-Hauschke schon vor Jahrzehnten verschwunden. Wurde er verstoßen? Aussortiert, nicht mehr gebraucht?

Ihr Familienbild ist mit einem Mal unvollständig.

Ein anderes unvollständig , als sie es bisher kannte, mit einem Vater, den sie, wenn er abwesend war, »Papa« nannte, ihn aber, wenn er zu Besuch kam, mit »Martin« ansprach. Einer, der selten anrief und der sich, seit sie ungefähr fünf Jahre alt war, verhielt, als wären sie Freunde.

Ein Papa, der kein Vater sein kann. Oder will.

Immerhin taucht er gelegentlich auf.

So weit, so gut. Das ist die Lücke, die sie kennt. Mit der sie zurechtkommt. Aber diese Henning-Lücke unterscheidet sich davon. Da steckt etwas anderes dahinter. Sie spürt es.

Ihr Leben, vielmehr das Leben ihrer Familie, ist auf eine Weise unvollständig, die ihr schlichtweg vorenthalten worden ist.

Aber was genau wird ihr denn vorenthalten?

Und warum?

Und wer hat das entschieden?

Sie nimmt den Duft des Earl Grey wahr, lauscht dem Löffel, der an die Tasseninnenwand stößt, während Oma Isa den Tee rührt. Seit Jahren nimmt sie keinen Zucker mehr, aber den Tee rührt sie immer noch um. All das weiß Lou. Kleine, liebenswerte Dinge.

Henning aus Rheinland-Pfalz ist größer, eine gewaltige Leerstelle im Leben von Familie Simon-Hauschke. Ein Verwandter, von dem sie nicht einmal den Nachnamen kennt, von dem sie aber annimmt, dass er Henning Fuchs heißen müsste, weil das Elisabeths Mädchenname war. Das hat ein anderes Gewicht als Zucker, der mit dem Prädiabetes aus Isas Leben verschwunden ist.

Es sind nur kleine Veränderungen in der Mimik ihrer Oma, die jedoch dazu führen, dass ihr Gesichtsausdruck undurchdringlich wirkt. Verschlossen. Die Lider immer noch leicht gesenkt, der Blick wird stumpf, nahezu blind.

Lou hockt inzwischen im Schneidersitz auf der Couch, lässt ihre Oma nicht einen Wimpernschlag lang aus den Augen.

Ein Elefant, mehrere Fragen und das gemeinsame Schweigen füllen den Raum.

Zu gern würde Lou ihrem nach innen gerichteten Blick jetzt folgen, sehen, was Isa sieht, um zu verstehen, warum sie schweigt. Und ganz langsam macht sich Einsamkeit in diesem Raum breit, gesellt sich zu Isa und Lou.

Plötzlich schüttelt Isa den Kopf, ihr Blick wird wieder klar, und ein leichtes Lächeln erscheint. »Wir wollen doch jetzt nicht mit den ollen Kamellen anfangen, das habe ich dir doch schon erzählt.«

»Nein, hast du nicht.« Mit einem Mal ärgert Lou sich, so viele Fragen gestellt zu haben, weil Isas Antwort sich auf alles und nichts beziehen kann.

»Doch, das weiß ich genau. Als ihr es in der Oberschule durchgenommen habt, hast du mich schon mal darauf angesprochen.«

»Ja, das war sehr allgemein, und du hast mit mir über eure Ausreise gesprochen, aber nicht über einen Onkel und dessen Ausreise.«

Isa öffnet das Fenster und zupft an der Gardine herum. »Henning war verliebt, und seine Freundin stammte aus Zehlendorf oder so. Es war noch ganz frisch, und die Mauer – na ja, er war sauer. Kann man ja auch verstehen. Da steht er eines Morgens auf und kann sein Herzblatt nicht mehr treffen. Und dann ist er wenig später abgehauen.« Kurz verharrt sie, dann schüttelt sie den Kopf. »Es ist erstaunlich frisch heute«, sagt sie und schließt das Fenster wieder. Zieht die Gardine zu und nestelt weiter an ihr herum.

Jeder ihrer Handgriffe reizt Lou. Sie möchte brüllen und merkt, wie angespannt sie ist. »Wie bitte?« Die Beherrschung zu bewahren, fällt ihr schwer, weshalb sie langsam spricht. »Was meinst du damit? Er ist geflohen?«

»Ja.« Isa setzt sich an den Tisch, aufrecht, die Hände im Schoß gefaltet.

»Es gab eine Flucht, so eine richtige Flucht?«, fragt Lou, als die Information ihren Zielort erreicht.

Ein Nicken.

»In unserer Familie? In den Westen?«

»Ja.«

»Und was haben Elisabeth und Konrad dazu gesagt?«

»Nichts.«

»Wie – nichts?«

»Überleg doch bitte mal, wie alt ich war. Elf, vielleicht zwölf Jahre. Natürlich haben sie mir gegenüber nichts gesagt. Henning war irgendwann weg, und mir ist das erst einmal gar nicht aufgefallen.« Wieder schlägt Isa die Lider nieder, fährt mit dem Finger über den Stoff ihrer Hose, als würde sie den Fadenlauf nachzeichnen wollen. »Wenn du was wissen willst, dann geh bitte zu den beiden.«

Lou lehnt sich zurück. Wann immer sie mit ihrer Mutter in Konflikt geraten war, hatte sie damit rechnen können, in Oma eine Verbündete zu finden. Einen Schoß, auf den sie klettern konnte, um sich in offene Arme zu flüchten. Gerne würde sie jetzt wieder auf diesen Schoß kriechen, Isa nahe sein, nur um noch einmal das zu fühlen, was sie gerade aufs Spiel setzte. Ihre Familie war doch verlässlich, ein Hafen, von dem aus sie in die weite Welt losschippern konnte und in dem, wenn sie zurückkam, nichts verändert war. Oder etwa nicht?

Die Lider senken sich noch weiter. »Was sagt denn deine Mutter dazu? Warum fragst du denn sie nicht?«

Deine Mutter. Schon diese Formulierung. »Überleg doch bitte mal, wie alt sie war.«

Isas Kopf fährt hoch, ihr Blick ist empört, vielleicht auch irritiert. Provokationen ihrer Enkelin kennt sie nicht.

Das Gefühl von Fremdheit verstärkt sich. »Das habe ich natürlich versucht.« Lou bemüht sich um einen beschwichtigenden Ton. »Mama ist ungefähr so gesprächig wie du.« Sie geht davon aus, Isa nicht erklären zu müssen, wie ihre Tochter funktioniert: Wenn ein Notfall entsteht, der sofortiges Handeln erfordert, ist Anke zur Stelle. Aber sobald es um emotionale Themen geht, weicht sie aus. Alle 17 Jahre, bei Espresso und Rotwein – das ist vermutlich der Rhythmus, in dem sie Nähe erträgt und Gespräche zulässt, die tiefer gehen, in denen sie sich zeigen kann. Sonst lässt sich Anke nicht hinter die Fassade schauen. Genau genommen ist fast alles, was Lou über Anke weiß und annimmt, eher auf Erfahrung aufgebaut als durch Gespräche entstanden. Es ist vielmehr ein Mosaik als ein Bild, das sie von ihrer Mutter hat, wenn sie ehrlich ist.

Lou nimmt einen Schluck Tee.

Hat Anke eine Fassade um sich herum errichtet?

Wenn ja, steht diese dann zwischen ihnen?

Ist das der Versuch einer Mutter, die Tochter auf Abstand zu halten? Oder hält Anke die Welt generell auf Abstand?

Hat Lou selbst diese Nähe zu ihrer Oma vielleicht nur aufbauen können, weil es mit Anke so schwer möglich war? Hat sie ihre Mutter sozusagen übersprungen, um woanders zu finden, was es zu Hause nicht gab?

Verdammte Scheiße, denkt sie, während sie den nächsten Schluck Tee trinkt, was läuft hier?