Manchmal macht ihre Mutter sie ganz irre. So wie heute. Ruft sie auf der Arbeit an und erzählt, dass Lou ihr »Fragen gestellt« hat. Zu früher. Und dass jetzt die ganzen alten Geschichten wieder hochkochen.
Als wenn sie daran etwas ändern könnte, nur weil sie Lous Mutter ist. Sie kann ihrer Tochter wohl kaum vorschreiben, welche Fragen sie stellen darf. Diese Zeiten sind nun mal vorbei.
Und das ist doch die unterschwellige Forderung: Sie soll sich kümmern, sie soll endlich über all das mit dem Kind reden.
Vielleicht sollte ja Isa erst einmal mit ihr, der eigenen Tochter, über all das reden? Anke ärgert sich, denn wie immer hat sie nicht adäquat reagieren können.
Dafür sitzt sie jetzt im Büro, es ist Feierabend und sie könnte längst aufbrechen, aber sie schafft es nicht, sich zu erheben. Das Amtsgericht Schöneberg wird bereits weitestgehend leer sein. Aber sie, die fleißige Justizobersekretärin, ist noch da. Die Bezeichnung ihres Jobs ist schrecklich, die Arbeit aber krisensicher. Verwaltung war nie ihr Traum, doch so jung schwanger zu werden, mit einem Vater an der Seite, der absehbar verschwinden würde, hatte ihr Bedürfnis nach Beständigkeit mit einem Schwangerschaftstest massiv verstärkt. Bereut hat sie es nie. Nur auf Partys ist ihr das Wort Justizobersekretärin manchmal unangenehm, dann sagt sie nur, sie würde im Sozialgericht arbeiten. Sie gehört zu den wenigen Kolleginnen, die ein eigenes Büro haben. Jetzt ist sie erleichtert, dass niemand mitbekommt, wie sie hier hockt. Auf ihrem Bürostuhl.
Einmal mehr zu Gast in ihrem Kopfkino.
Von der eigenen Mutter in eine Vorstellung gestoßen, die sie sich nicht aussuchen würde. Sie ist sofort wieder da, diese Beklemmung, die sie damals erfasst hat. Sie kann nicht anders, gibt den Widerstand auf, schließt die Augen und gibt sich den Bildern hin, die ohnehin zu laufen beginnen.
Natürlich hatten die Eltern mit Christian und ihr darüber gesprochen, dass sie einen Ausreiseantrag stellen würden. Natürlich waren sie beide einverstanden gewesen. Anke mochte ihr Leben, Herrgott – sie war 13, aber ein Leben in einem Land, in dem man sagen und denken durfte, was man wollte – das klang gut. Und es war ein Land, in dem man anziehen durfte, was man wollte. Ja, sie hatte den Micky-Maus-Pullover nicht vergessen, den irgendeine weitläufige Verwandte in einem Westpaket mitgeschickt und den sie in die Schule angezogen hatte. Umgehend war sie nach Hause geschickt worden mit der klaren Aufforderung, sich umzuziehen. Dabei hatte es einen Lehrer gegeben, der sowohl West-Jeans als auch West-T-Shirts trug. Zumindest gelegentlich. Sie hatte es nicht verstanden und sich viel Zeit für den Heimweg gelassen. Wenn schon, denn schon. Das Land, das im Haack-Gotha-Schulatlas lediglich als weiße Fläche stattfand, versprach Bewegungsfreiheit. Von dort konnte man hinziehen und reisen, wohin auch immer es einen trieb – das war auch schon in ihrem Alter durchaus attraktiv.
Nicht einen Moment hatte sie absehen können, welche Konsequenzen ihre Zustimmung zur elterlichen Entscheidung haben würde. Niemand hatte sie und ihren Bruder auf das vorbereitet, was sie nach der Antragstellung erleben würden: die Ausgrenzung und erst recht die Vehemenz, mit der diese durchgezogen wurde.
Von nahezu allen Lehrern.
Und natürlich färbte deren Verhalten auf die Mitschülerinnen und Mitschüler ab. Anke Hauschke war nun keine mehr von ihnen, von einem Tag auf den anderen war sie diejenige geworden, die allein auf dem Schulhof zwischen rund 500 anderen Kindern und Jugendlichen stand. Noch heute schmerzte sie diese Erfahrung. Viel später erst hatte sie auch verstanden, dass nicht alle Lehrer hinter den Sanktionen gestanden hatten, dass sie selbst aber auch nicht unter die Räder kommen wollten.
Und ja – es war falsch, ihren Mitschülern einen Vorwurf zu machen. Sie waren Kinder gewesen, naiv und gutgläubig. Lehrer und Eltern waren die Instanzen, an denen man sich orientierte. Von ihnen waren sie so lange beeinflusst worden, bis sie wussten: Anke war selbst schuld daran, dass alle sie mieden.
Es schmerzte wie eine Wunde, die nicht richtig heilen wollte und die immer wieder aufgerissen wurde.
Anke hatte sehr wohl an sich registriert, dass sie seitdem wirkliche, tiefer gehende Freundschaften vermied. Aber wem sonst sollte das schon auffallen?
Außer vielleicht den Eltern, aber die schwiegen darüber.
Sie hatte Christian. Ein Bruder konnte auch so etwas wie ein Freund sein. Und so blieb ein Teil von ihr unversöhnlich, weil sie einfach keine Notwendigkeit sah, sich auszusöhnen. Sie hatte sich ihr Leben gut eingerichtet. Alles passte.
Die Eltern hatten den Antrag am 11.11.1986 abgegeben, sie hatten dieses Datum gewählt, weil man es sich gut merken konnte. Aber wenn Anke zurückdachte, war es merkwürdig: Sie selbst hatte keine einzige Erinnerung an diesen Tag. Wo hatten ihre Eltern denn den Antrag gestellt? Waren sie dafür irgendwo hingefahren? Sie hatten am Sonntag erwähnt, den Antrag abgeben zu wollen, aber es hatte so beiläufig geklungen. Der Antrag war also an einem Dienstag rausgegangen, und schon am Mittwoch war es losgegangen mit den Schikanen. Sie hatte es sofort zu spüren bekommen. Dieser Fakt war der entscheidende: In einer Zeit ohne Handys, ohne Mails, in einer Zeit, in der nicht einmal alle Telefon hatten, hatte die Info über einen gestellten Antrag die Schule noch am gleichen Tag erreicht.
Anke war am Mittwoch wie immer zur Schule gegangen. Und wenn sie sich recht erinnerte, war sie an diesem Tag ein wenig nervös gewesen. Als sie im Gedränge am Eingang der Schule bereits im Flur ihren Klassenlehrer stehen sah, schwante ihr Böses.
Nie hatte sich dort morgens ein Lehrer blicken lassen.
Und jetzt stand er da, Klassenlehrer Meyrink. Er steuerte direkt auf sie zu, und ihr wurde schlecht vor Aufregung. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Ihr Herz schlug wild, wenn doch nur Christian bei ihr wäre in diesem Moment. Wären sie zu zweit gewesen, hätte sie sich sicherer gefühlt. Und wie verdammt noch mal konnte sie ihren Bruder warnen? Denn Meyrinks Blick ließ nichts Gutes erahnen.
Der Ton, in dem der Lehrer sie ansprach, war entsprechend harsch. Kein Guten Morgen! ging ihm über die Lippen, lediglich die Aufforderung, ihn zu begleiten.
Zum Direktor. Alles in ihr zog sich zusammen.
Bislang hatte sie Direktor Schlecht höchstens zu offiziellen Anlässen in der Aula erlebt – oder ihn mit verkniffenem Gesicht durch die Flure laufen sehen. So jemand konnte nur in der Schule arbeiten. Oder beim MfS, dem Ministerium für Staatssicherheit. Na ja, genau genommen war es auch sehr wahrscheinlich, dass er das machte, zumindest als IM , als Inoffizieller Mitarbeiter. Alles an ihm signalisierte: Ich mag keine Menschen, und sowohl Lehrer als auch Schüler machten gern einen großen Bogen um ihn.
Noch nie hatte Anke mit ihm gesprochen, noch nie sein Direktorenzimmer betreten. Manchmal hatte seine Tür offen gestanden, dann hatte sie vom Schulsekretariat aus einen Blick hineinwerfen können. Es war ein Raum, in dem sie nichts zu suchen hatte – ein Schreibtisch, Schränke, Regale. Trist und dunkel. Das Zentrum der Macht dieser Schule.
Es ist stickig in ihrem Büro. Anke würde gern lüften, aber das muss warten. Sie spürt, wie sie sich bei der Erinnerung an das, was nun kommen würde, immer stärker an den Armlehnen ihres Bürostuhls festkrallt. Im Flur hört sie eine Kollegin, die sich von einem der Rechtspfleger in den Feierabend verabschiedet.
Sie selbst kann nicht gehen.
Sie hat keine Wahl, sie läuft sich selbst hinterher, sieht, wie sie Meyrink in das Zentrum der Macht folgt.
Wie er sie ins Direktorenzimmer bringt, um sie auszuliefern. Wer passte denn jetzt auf ihre Klasse auf? Was hatte man ihnen gesagt, warum sie, Anke, nicht da war? War das jetzt so eine Art Verhaftung? Konnten Schüler überhaupt verhaftet werden? Und was war mit den Eltern? Würden sie heute Nachmittag alle wieder nach Hause kommen, oder würde die Familie nach dem Antrag auseinandergerissen? Würde ihren Eltern etwas passieren, würde man Christian und sie in ein Heim stecken? Andere Menschen hatten auch Anträge gestellt, war es ihnen auch so ergangen?
An diesem Mittwoch rasten die Gedanken nur so durch ihren Kopf und ließen sich nicht aufhalten. Es kostete sie alle Kraft, die Tränen zurückzuhalten. Sie wollte aufrecht in dieses Gespräch gehen, mit hoch erhobenem Kopf, und sich nichts anmerken lassen. Sie drückte den Rücken durch und betrat das Zimmer.
Mit einem Mal waren alle Gedanken verschwunden, und es war nur noch Leere in ihrem Kopf.
Der Direktor saß hinter seinem Schreibtisch, wie eine Spinne im Netz, die auf ihre Beute wartete.
Herr Meyrink schloss die Tür, und sie war allein mit den beiden Männern, allein in diesem dunklen Raum mit seiner hässlichen Kunststoff-Wandvertäfelung. Direkt darüber irgendwelche Urkunden und Abzeichen, Wimpel und das obligatorische Bild von Erich Honecker im hellen Sommeranzug vor blauem Hintergrund, der auf die Situation herabgrinste.
Direktor Schlecht legte die Fingerspitzen aneinander und musterte sie. »Setz dich! Ich komme gleich zum Punkt. Deine Familie und du, ihr möchtet der DDR den Rücken kehren. Das ist eine Entscheidung deiner Eltern, die höchst verwerflich ist und die auch dein Leben für immer verändern wird. Vermutlich wirst du die Entscheidung deiner Eltern bedauern.« Er schob ihr ein Papier über den Tisch zu. »Ich habe hier alles vorbereitet, damit du deinen Antrag zurückziehen kannst.« Er legte einen Stift daneben. »Du brauchst nur zu unterschreiben.«
Anke starrte auf das Blatt, doch die Buchstaben wollten sich nicht zusammenfügen, wollten keinen Sinn ergeben. Sie spürte erst jetzt, wie sehr ihre Beine zitterten. Unübersehbar. Langsam hob sie den Blick, schaute zum Direktor und zu ihrem Lehrer. Zwei Erwachsene, Männer dazu, mit vor der Brust verschränkten Armen. »Dürfen Sie das denn?« Ihre Stimme flatterte, war kaum zu vernehmen.
Ankes innere Anspannung hat sich verstärkt. Rückblickend kommt ihr diese Frage mutig vor. Hat sie das damals auch so empfunden?
»Was dürfen wir?« Der Direktor rutschte auf die Kante seines Bürostuhls vor. »Nun werde mal nicht frech. Was glaubst du, was deine Eltern getan haben! Deine Eltern haben ein Rechtswidriges Ersuchen abgegeben, darauf kann Gefängnisstrafe stehen. Ist dir das klar? Verstehst du das? Mach es uns nicht so schwer und unterschreib einfach. Jetzt!«
Anke schüttelte den Kopf. Das wäre ein erzwungener Verrat an der eigenen Familie. Wie konnten die beiden das von ihr verlangen? Glaubten sie wirklich, dass sie in einem Land leben wollte, in dem erwachsene Männer sich mit einem 14-jährigen Mädchen verbarrikadierten und es unter Druck setzten? Bisher hatte sie ihr Leben gemocht, aber jetzt wusste sie, dieser Moment würde es in ein Vorher und ein Nachher teilen.
Als sie ihm das Formular wieder hinschob, sprang die linke Augenbraue des Direktors in die Höhe. Damit schien er nicht gerechnet zu haben – sich seiner Aufforderung zu widersetzen, das wagten vermutlich nicht einmal die Lehrer. In seinen Augen sah sie eine Mischung aus Überraschung und Empörung.
Aber sie hatte keine Wahl. Was würde das bedeuten, wenn sie diesen Antrag unterschreiben würde, wenn ihre Familie das Land ohne sie verlassen würde? Wenn sie vermutlich in ein Heim kommen würde? Wie stellte er sich das vor?
Der Direktor richtete sich auf, beugte sich weit vor und stützte die Arme auf den Tisch.
Unwillkürlich drückte Anke sich in die Lehne des Stuhls. Sie wollte weg von diesem Mann, so weit wie möglich, und der Platz, der ihr dazu blieb, betrug nur wenige Millimeter.
»Hast du eine Vorstellung, was das für dich bedeutet? Was jetzt auf dich zukommt?«, brüllte er in einer Lautstärke, die Ankes Herz vor Schreck kurz aus dem Takt brachte.
Nein, wenn sie ehrlich war, hatte sie das nicht. Wenn das erst der Auftakt war, dann mochte sie sich besser nicht vorstellen, was ihnen noch blühte. Aber sie schüttelte den Kopf und presste die Lippen noch fester aufeinander.
Ihr Lehrer stand schweigend neben dem Schreibtisch.
»Gut. Dann bist du ab sofort von all deinen Aufgaben entbunden. Du kümmerst dich um die Klassenkasse?«, fragte der Direktor nun.
Sie nickte.
»Die gibst du ab. Den Milchdienst übernehmen, das Klassenbuchamt führen oder die Wandzeitung mitgestalten – das ist für dich jetzt vorbei. Auch Blumen gießen und Tafeldienst sind dir ab sofort verboten. Du wirst deine Thälmann-Pionier-Uniform nicht mehr tragen, ich will kein rotes Halstuch mehr an dir sehen, überhaupt nichts, was an die Pionier-Uniform erinnert. Wage es nicht, es trotzdem zu tun! Du wirst an keiner Veranstaltung mehr teilnehmen, und wenn wir Ausflüge machen, zum Beispiel zum Tag der Republik, wirst du hierbleiben, mein Fräulein, im Klassenzimmer. Keine Appelle mehr auf dem Schulhof. Kein Pioniergruß mehr, kein Lied wird dir mehr über die Lippen kommen. Du weißt, es kann Jahre dauern, bis über so einen Antrag entschieden wird.« Seine Augen funkelten, als er die Stimme senkte. »Und manchmal wird ihm auch nicht stattgegeben. Und dann wird dir auch die Möglichkeit verwehrt, auf die EOS zu gehen. Ein Studium kannst du dir abschminken. Wenn du jetzt den Raum verlässt, ohne diesen Zettel zu unterschreiben«, er tippte energisch mit dem Finger darauf, »hast du die letzte Chance verwirkt, ein friedliches Leben in der Deutschen Demokratischen Republik zu führen.«
»Ja.« Was hätte sie antworten sollen? Deutlicher konnte er ja wohl nicht werden. Die Hände hatte sie ineinander verschränkt, damit sie ihr den Stift nicht noch in die Hand drücken konnten.
»Ein allerletztes Mal: Willst du das hier unterschreiben, um den Ausreiseantrag zurückzuziehen?«
Anke schüttelte erneut den Kopf und schwieg. Sie hatte keine Wahl, und es war alles gesagt. Das wusste auch Direktor Schlecht.
Herr Meyrink nickte ihr zu.
Sie verließen das Direktorenzimmer, gingen an der Sekretärin vorbei, die Anke einen verächtlichen Blick zuwarf, weiter durch den Schulflur, der inzwischen verlassen dalag. Der Unterricht musste längst angefangen haben.
Der Lehrer öffnete die Klassenraumtür und sagte nur: »Setz dich!« Dann trat er an sein Pult.
Sie spürte die Blicke der anderen.