ISA,
19. JANUAR 1988

Das Linoleum glänzte, eine Note des Bohnerwachses hing noch in der Luft. Ihre Schuhsohlen quietschten beim Laufen. Die Türen der einzelnen Büros waren geschlossen, niemand begegnete ihr. Sie erreichte den Bereich der Materialwirtschaft.

Dort saß sie nun.

Im hintersten Winkel eines Großraumbüros des Kombinats Elektroprojekt und Anlagenbau Berlin.

Wie hatte der Vater es ihr in Kindertagen immer wieder gesagt? »Du musst mit den Wölfen heulen!« Sie hatte es versucht, irgendwann damit aufgehört und sich für einen anderen Weg entschieden. Der führte anscheinend durch dieses Marzahner Kombinat. Wenn sie schon den Begriff Kombinat hörte – es kotzte sie an. Immer die gleiche Leier: Kampf, Kombinat, Klassenfeind.

Schwungvoll öffnete sie die Tür zur Materialwirtschaft, dem in ihren Augen langweiligsten Arbeitsbereich überhaupt, und zuckte zusammen – Kerstin Buschkamp. Dieser Name klang wundervoll nach Hamburger Deern, gehörte aber zu einer Rotzgöre aus Lichtenberg. Eines der Lehrlingsmädchen, das gestern gefehlt hatte und das sie schon fast wieder vergessen hatte.

Aber über so ein Wochenende, wie es hinter ihr lag, konnte man auch fast alles vergessen, das hallte nach. Auch zwei Tage später noch. Isa lachte innerlich auf. So war es ja eigentlich generell, in diesem Scheißverein konnte sie genau genommen alles vergessen.

Ob Kerstin ebenfalls in die Materialwirtschaft entsorgt worden war? Wie alt mochte sie sein? 16, vielleicht 17? In jedem Fall war sie alt genug, um wegen ideologischer Untauglichkeit aussortiert zu werden. Knapp zehn Tage saß sie nun bei ihr und hatte gesagt, sie würde danach in die Buchhaltung wechseln. Einen kleinen Moment verspürte Isa einen Stich. Die Buchhaltung. Wie hatte sie es geliebt …

Stopp! Keine Sentimentalitäten. Sie, Isabella Hauschke, hatte es so gewollt.

Das Fräulein lümmelte auf dem Stuhl herum und machte eine gelangweilte Miene. Ein genuscheltes »Morjen!«, dann ein langer Seufzer.

»Guten Morgen, Kerstin!« Isa hängte ihren Mantel an der Garderobe auf, stellte die Handtasche ab. Von den zwölf Schreibtischen waren erst drei besetzt. Dann drehte sie die Heizung noch ein bisschen auf. »Wir müssen die Ablage der letzten Lieferung hinter uns bringen.«

»Ich hole uns erst mal Kaffee.«

»Der ist alle, mach uns ’nen Muckefuck, ein wenig ImNu müsste noch da sein.«

Kerstin rollte die Augen und war wenig später wieder zurück. Als sie die Tasse abstellte, blieb sie neben Isa stehen. »Heute bin ich dran, auf Nahrungssuche zu gehen. Ich mache mir eine Liste, bevor ich zur Kaufhalle düse, willst du mitkommen?«

Kurz überlegte Isa. Im Wechsel einkaufen gehen und sich füreinander in den langen Warteschlagen anstellen – anders ging es nicht, wenn man sich erstens die Arbeitszeiten und zweitens die Angebotsknappheit anschaute. Wer abends in die Kaufhalle kam, musste sehen, was übrig war. Und so war jede der Kolleginnen mal dran, es gab dann einen Bestellzettel von den anderen, oder es wurde einfach mitgebracht, was es außer der Reihe gab, letzthin war es Hornhecht gewesen. Im letzten Juni war sogar ein Lkw in den Hof der Elektroanlagenbau gefahren und hatte direkt von der Ladefläche Erdbeeren verkauft. Im September war einer mit Äpfeln gekommen, die hatten lose im Lkw gelegen und waren mit dem Spaten in die aufgehaltenen Beutel geschippt worden. Beide Male hatte man die Produktion unterbrochen, damit sich alle anstellen konnten. Im Dezember war es schon schwieriger für sie geworden: Apfelsinen durften nur einen Tag vor Nikolaus verkauft werden, ebenso wie die Schokoladen-Weihnachtsmänner. Immerhin gab es in Ost-Berlin Südfrüchte und Weihnachtsnaschereien. Sie hatte Bekannte aus Leipzig, die an diesem Tag mit dem Auto anreisten und für das gesamte Krankenhaus, in dem sie tätig waren, stiegenweise Orangen und Bananen in verschiedenen Kaufhallen besorgten. Denn in Leipzig kamen meist keine Südfrüchte mehr an. Je weiter weg von Ost-Berlin, desto schlechter war die Versorgungslage.

Das waren die Schattenseiten des Zentralismus.

Und ihre Familie erlebte die Vorteile, weil sie im Zentrum des Zentralismus wohnte.

Trotzdem hatte Isa es im letzten Dezember nicht gewagt, das Büro zu verlassen, um Südfrüchte zu kaufen. Sie wurde beobachtet, jeder Fehltritt konnte ihr angekreidet werden. Alles, was sonst geduldet wurde, konnte sie nicht mehr selbstverständlich in Anspruch nehmen.

»Also, brauchst du was?« Kerstin klang ungeduldiger.

Isa schüttelte den Kopf. »Nein danke, es ist aber nett, dass du fragst.«

»Ich weiß, die anderen machen das nicht, also nicht mehr.«

»Das stimmt. Aber in der Buchhaltung, da haben wir das auch so gemacht.« Sie zuckte die Schultern.

»Stimmt es, dass du geklaut hast?«

Isa saß bereits am Tisch.

Kerstin stand neben ihr.

Sie schauten einander an.

Menschen waren ja durchaus grundverschieden, dachte Isa: Es gab jene, die sich in Zurückhaltung übten, und solche, die mit der Tür ins Haus fielen. Dieses Mädchen hatte man jedenfalls nicht bei ihr abgesetzt, um sie in irgendeiner Form auszuhorchen. Das war jetzt relativ sicher. »Nein, das habe ich nicht.« Sie ließ den Blick des Mädchens nicht los, als würde irgendetwas davon abhängen, dass sie ihr glaubte.

»Das habe ich mir gedacht.«

Kerstin glaubte ihr. Es fühlte sich gut an, so zur Abwechslung. Es war ein kleiner Augenblick, aber einer, der noch einmal unterstrich, wie sehr die Stasi alles vergiftet hatte. Wie sehr sowohl ihr guter Ruf als auch ihre Glaubwürdigkeit gelitten hatten.

»Aber sag mal, du willst rübermachen, das stimmt doch, oder? Die Stasi war hier und hat dich in der Belegschaft verpfiffen. Haben sie dich in die Abteilung 1 bestellt?«

Isa pustete in den Muckefuck, nahm einen Schluck. Sie hatte ihrem Abteilungsleiter am 12. November 1986 mitgeteilt, dass sie am Abend zuvor einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Die Stasi war kurz darauf im Kombinat erschienen, um sie der Unterschlagung zu bezichtigen. Man hatte sie in die Abteilung 1 bestellt, von der niemand so genau wusste, wer das war und wie sie funktionierte. Es war zumindest ein Raum, der offensichtlich nicht als Büro, sondern nur für Besprechungen genutzt wurde. Und dort war sie erstmalig hinbestellt worden, in diesen sonst immer verschlossenen Raum, in dem an diesem Tag zwei Herren warteten, die sie nicht kannte, die sich nicht vorstellten und die so taten, als wäre ihr ein Irrtum unterlaufen. Als sie ablehnte, den Antrag zurückzuziehen, war das Gespräch beendet und das Gerücht der Unterschlagung in Umlauf gebracht worden. So konnte sie versetzt werden, ohne dass eine weitere Begründung im Kollegium thematisiert werden musste – und schon gar nicht ihr Ausreisewunsch. Seitdem saß sie hier in der Materialwirtschaft, hatte nichts zu tun, außer hin und wieder ein bisschen Ablage. Lochen, einheften, fertig. »Wenn dem so wäre«, sagte sie, »dürfte ich nicht darüber reden.«

Kerstin ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen und musterte Isa nun aufmerksam. »Ich weiß nicht, was mein alter Herr sagen würde, wenn er wüsste, dass ich mit einer wie dir im Büro zusammensitze.«

Ja, dieses Mädchen zu ihr zu setzen, sah tatsächlich nach einer Fehlentscheidung der Bereichsleitung aus. Sollte vorkommen. Isa zuckte die Schultern. »Dann sag’s ihm einfach nicht.«

»Also bist du irgendwann weg?«

»Wahrscheinlich.«

»Dann hätte ich eine Chance, aufzurücken?«

»Du willst in die Materialwirtschaft?« Erstaunt zog Isa die Augenbrauen in die Höhe.

»Na ja, es ist schon gemütlich hier.« Kerstin schwieg einen Moment. »Was macht man denn so als Oppositionelle?«

Isa musste lachen und stellte ihre Tasse ab. »Ist das eine ernst gemeinte Frage?«

»Schon irgendwie.«

»Nicht viel, reden und so.«

»Mit wem?«

Mit einem Volkspolizisten beispielsweise. Der vorgestern vor der Wohnungstür gestanden und den Weg versperrt hatte. Ganz unerwartet, einfach so hatten sie ohne Vorwarnung unter Arrest gestanden. In ihrer eigenen Wohnung.

Wurde sie jetzt verrückt?, hatte sie sich gefragt, bevor sie begriffen hatte, was die Anwesenheit des Polizisten bedeutete. Sie hatte die Uniform gemustert: diesen blaugrüngrauen Ton des Stoffs, die silbernen Knöpfe, Kragenspiegel, Schulterklappen und Ordensspange, die korrekt sitzende Uniformmütze.

Am Morgen des 17. Januar. Ein Sonntag, und trotzdem hatte wieder der übliche Pflichtmarsch, wie sie ihn nannten, auf dem Programm gestanden. Zum Friedhof Friedrichsfelde, um der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu gedenken. Der jährlichen Kampfdemonstration, wie es offiziell lauttönend bezeichnet wurde, hatte Isa mit gemischten Gefühlen entgegengesehen – im Vorfeld hatte es deutliche Hinweise darauf gegeben, wie stark auch die Oppositionellen und Ausreisewilligen inzwischen mit IM unterwandert sein mussten.

Ihr Blick wanderte zu Kerstin, die ernsthaft auf eine Antwort wartete.

»Wir reden, treffen uns mal hier, mal dort. Was stellst du dir denn unter Oppositionellen überhaupt vor?«, fragte sie.

Kerstin legte den Kopf schräg und schien nachzudenken. Dann zuckte sie die Schultern.

So wie auch Isa innerlich mit den Schultern zuckte. Was erwartete Kerstin? Dass sie von sogenannten vorbeugenden Gesprächen berichtete, hier im Großraumbüro? Gespräche, die seitens der Stasi geführt worden waren, direkt nach den vorbereitenden Treffen der Oppositionellen und Ausreisewilligen, die dieses Mal unter anderem in der Zionskirch-Gemeinde stattgefunden hatten. Sehr zielgerichtete Gespräche mit jenen, von denen am meisten Potenzial für provokatorisch-demonstrativ-antisozialistische Aktivitäten ausging, wie es die Stasi gern bezeichnete. Insgesamt waren sie ein harter Kern von rund fünfzig Frauen und Männern, natürlich geheimdienstlich gesteuerte Elemente , aus unterschiedlichen Initiativen, Kirchenkreisen und sonstigen Zusammenschlüssen, und sie hatten eine Demonstration geplant, eine, bei der sie sich nicht einmal mehr bemühten, sie zu verbergen. Ihr Protest war parallel zur Kampfdemonstration geplant worden, und sie hatten ihn umgesetzt. Trotz aller Bemühungen der Stasi und Vopo, genau das zu verhindern, war es einigen gelungen, sichtbar zu werden. So sichtbar, dass sie in der BRD -Presse Erwähnung gefunden hatten. Und das, obwohl insgesamt hundert Frauen und Männer verhaftet worden waren.

Ein Lächeln glitt über Isas Gesicht. Vermutlich war der Wohnungsarrest von Hannes und ihr ein gutes Zeichen – sie waren damit inzwischen amtlich anerkannte feindlich-negative Kräfte .

Und die Fürbitten, die nun, nach den Verhaftungen, in den Gemeinden stattfanden und plötzlich von bis zu 2 500 Menschen besucht wurden, die ihre Solidarität bekunden wollten, die waren ebenfalls ein gutes Zeichen.

Auch Hannes war vorab klargemacht worden, er könnte sich Ärger einhandeln. Aber er hatte mit einem Satz von Rosa Luxemburg geantwortet, den sie im Vorfeld auf eines der Spruchbänder geschrieben hatten: Wer sich nicht rührt, spürt keine Ketten!

Selbst dem Stasi-Kerl war keine Antwort mehr eingefallen. Dieser Truppe versagten erstaunlich oft die Argumente, das hatte Isa in den letzten Monaten gelernt.

»Warst du am Sonntag dabei?«, flüsterte Kerstin aufgeregt und beugte sich vor.

Natürlich war ich dabei, antwortete sie umgehend.

In Gedanken.

Nicht eine Reaktion war auf ihrem Gesicht ablesbar. Das wusste Isa, das hatte sie gelernt.

Am Sonntagmorgen, vor etwas mehr als 48 Stunden, hatte sie im Wohnzimmer noch gescherzt, ihren Wintermantel anzuziehen, denn Regen war angekündigt und maximal 4 Grad. Das konnte kalt werden, erst recht, wenn man verhaftet wurde. Und ja, sie hatten damit gerechnet, abgeführt zu werden, das schon.

Elisabeth und Konrad würden davon erfahren und wahrscheinlich im Boden versinken vor Scham, das war Isa bewusst gewesen. Aber es ging nicht anders: Hannes und sie mussten ihre Überzeugung sichtbar machen, Aufmerksamkeit erregen. Die Oppositionellen und Ausreisewilligen wollten und mussten sich endlich zeigen. Und ein Teil der Hauschkes gehörte inzwischen dazu, zu diesem losen Verbund, der sich als Umweltbibliothek bezeichnete.

Wer unangenehm auffiel, wurde meistens schneller ausgewiesen.

So war das inzwischen.

Hannes hatte an diesem Morgen wieder seinen Parka angezogen, den neuen in knalligem Gelb, den er im Exquisit gekauft hatte, ein belgischer Import. Den er bei Kundgebungen und Treffen der Oppositionellen immer trug, damit ihn niemand übersah. Er wusste halt, wie man auffiel: Gelb leuchtend wurde Hannes Hauschke zum wandelnden Warnschild der Bewegung.

Christian und Anke hatten vor dem Fernseher gesessen, man hatte sie abgeschrieben in der Schule und bei der Ausbildung, von ihnen wurde nichts mehr erwartet. Seit der Abgabe des Ausreiseantrags hatte man sie ins Abseits gestellt. Wie die Eltern, die trotzdem zur Kampfdemonstration kommen wollten. Für die Kinder gab es zum Abschied Küsschen rechts, Küsschen links und die übliche Ansage, niemandem die Tür zu öffnen. Erstaunlich, selbst in diesem Alter mahnte sie die Kinder, konnte es nicht lassen. Aber sie warnte die beiden damit nicht vor Einbrechern, das war ihr bewusst, obwohl sie die Durchsuchung der Wohnung tatsächlich nie vor den Kindern erwähnt hatten.

Dann wollten Hannes und sie los. Sich zeigen, damit sie endlich aus diesem Scheißverein rauskämen, hatte Isa noch gedacht und die Tür aufgerissen.

Und da war er wieder, einer dieser unerwarteten Schachzüge des Systems.

Da hatte er gestanden, der Volkspolizist, blutjung und sehr groß.

Direkt vor ihrer Wohnungstür.

Er teilte ihnen mit, sie würden unter Arrest stehen, es wäre ihnen nicht erlaubt, das Haus zu verlassen.

Die Kinder wollten neugierig näher treten, aber Isa hatte sie wieder ins Wohnzimmer geschickt und den Fernseher ausgemacht. Westfernsehen – jetzt lieber nicht.

Derweil hatte Hannes versucht, den Vopo in ein Gespräch zu verwickeln, aber der junge Mann hatte laut und deutlich erklärt, es sei ihm untersagt, mit ihnen zu reden. Isas Versuch, ihm einen Kaffee anzubieten, zumindest ein Tässchen in die Kälte des Treppenhauses zu reichen, war ebenfalls fehlgeschlagen. Sie hatten ihm angeboten, im Zweifelsfall auch gerne die Toilette benutzen zu können, aber sie wussten schon vorher: Vermutlich hätte er eher ins Treppenhaus oder in seine Uniformhose gepisst, als ihre Wohnung zu betreten. Er hatte während des kurzen Wortwechsels ins untere Stockwerk gelauscht, ob irgendjemand ihnen zuhören könnte, und Isa war erstaunt gewesen: Dieser junge Mann hatte vermutlich mehr Angst als sie selbst. Vermutlich wurde auch er überwacht.

Sie hatten niemanden informieren können, denn das Telefon nutzen konnten sie nicht. Dass es abgehört wurde, war naheliegend. Im Nachhinein hatten sie erfahren, dass der Arrest mehrere Mitstreiter getroffen hatte. Immerhin waren jene, die ihre Wohnung nicht hatten verlassen dürfen, den Verhaftungen entgangen.

Isa schaute Kerstin nun direkt in die Augen.

Sie kannte dieses Mädchen nicht, sie würde einen Teufel tun, ihr irgendetwas zu erzählen. Beispielsweise von den Müllers, die bisher niemand mit ihnen in Verbindung brachte.

Isa sah sich selbst, wie sie nach einigen Stunden die Wohnungstür einen kleinen Spalt öffnete, um den Vopo mit heller Stimme und naivem Augenaufschlag zu fragen, ob sie kurz zur Nachbarin hinaufgehen und sich einen Liter Milch leihen könnte. »Für die Kinder«, hatte sie hinzugefügt, mit weinerlichem Ton, und unbestimmt in die Wohnung hinter sich gewiesen, in der ihr 18-jähriger Sohn und die 14-jährige Tochter neben ihr im nicht einsehbaren Teil des Flures gestanden und mit angehaltenem Atem gelauscht hatten.

Der Vopo hatte sie gehen lassen, und sie war hochgelaufen zu Familie Müller. Michaela und Mike, die im Gegensatz zu ihr tatsächlich kleine Kinder hatten.

Und ein Telefon.

Sie hatten auf das Klopfen hin geöffnet, und sie, da Isa den Finger auf die Lippen gelegt hatte, um Fragen in offener Tür zu vermeiden, eintreten lassen. Flüsternd hatte sie beide informiert, und Michaela hatte sie sofort ans Telefon geführt, während Mike ihr einen Milchschlauch zum Mitnehmen bereitgelegt hatte. Viel Zeit hatte Isa nicht gehabt und auch niemanden der Mitstreiter erreicht. Wahrscheinlich war das auch gut so. Wer weiß, ob den Müllers noch Ärger gedroht hätte. Nichts würde sie Kerstin davon sagen. »Ich möchte jetzt anfangen zu arbeiten«, erwiderte sie nur. »Wenn du irgendwann meinen Stuhl übernehmen willst, haben wir noch eine Menge zu tun.«

Enttäuschung machte sich auf Kerstins Gesicht breit. »Wenn du drüben bist, schreibst du mir dann eine Karte?«

»Kann ich machen, ich schicke dir sogar ein Paket.«

Kerstin erstrahlte. »Ein Westpaket, nur für mich. Ich mag Kinderschokolade.« Sie rieb sich die Hände.

Isa legte mehrere Papierstapel vor sich auf den Tisch. »Es gibt in diesem Haus Tausende verschiedener Artikel und …«

Das Klingeln des einzigen Telefons in der Materialwirtschaft unterbrach sie. Beide sahen sie zum Tisch einer weiteren Kollegin hinüber.

Isa wies auf den Hörer. »Genau genommen bist du ihr Lehrling. Geh ran, wenn sie noch nicht da ist. Melde dich. Und sieh zu, ob du helfen kannst.«

Tatsächlich meldete sich Kerstin vorbildlich, doch dann erblasste sie. Sie hielt ihr wortlos den Hörer entgegen.

Isa nahm ihn entgegen und lauschte. Der Anruf kam vom Beauftragten für Ausreisewillige im Kombinat, er sagte, sie solle die Arbeit beenden und sich beim Rat des Inneren melden.

Sie hatte gerade aufgelegt, da klingelte das Telefon erneut. Die Kolleginnen der anderen Tische schauten inzwischen neugierig herüber. Es stand Isa mitnichten zu, an dieses Telefon zu gehen. Aber sie nahm das Gespräch trotzdem an. »Ja, bitte? Hauschke von der Materialwirtschaft hier«, flüsterte sie in den Hörer.

»Beinlich hier«, hörte sie eine Frauenstimme und dachte einen Moment, sich verhört zu haben. Isa verstand nur die Hälfte, weil die Frau schnell und emotionslos sprach, ganz so, als würde sie ein Auto zur Reparatur anmelden oder nach einem Handwerker verlangen. Doch Isa verstand sehr wohl, dass Hannes und sie nun endgültig zu unerwünschten Personen geworden waren und dass sie in den nächsten 20 Minuten beim Rat des Inneren zu erscheinen hatten. »Um spätestens 0.00 Uhr müssen Sie das Land verlassen haben«, schloss Sachbearbeiterin Beinlich das Gespräch. Es klackte in der Leitung.

Isa presste sich die Hand auf den Mund, damit niemand ihr Keuchen hörte. Der gelbe Parka, er hatte ihnen tatsächlich das Tor in den Westen geöffnet. Ihr Hannes. Der stille, gute Mann, der früher so bequem gewesen war, war in den letzten Monaten über sich hinausgewachsen.

Behutsam legte sie den Hörer auf.

20 Minuten.

Schon diese Ansage war absurd. Aber um Stress aufzubauen, war der Zeitrahmen hervorragend geeignet. Isas Herz raste bereits. Sie stand unschlüssig herum und ließ den Blick schweifen, was sie mitnehmen musste, um ihren Arbeitsplatz geräumt zu hinterlassen.

»Du bist raus?« Kerstin flüsterte ebenfalls.

Isa nickte. »Behalte alles. Du musst jetzt übernehmen«, sagte sie, griff sich das Familienfoto und nickte Honeckers Bild an der Wand noch einmal zu. Warum war dieser schwarz bebrillte Nuschler nicht im Saarland, in seinem winzigen Wiebelskirchen, geblieben?

Nur weil er gekommen war, musste sie jetzt gehen.

Seinen Scheißverein verlassen.

Endlich!, dachte sie.

Sie verließ mit Kerstins Adresse in der Tasche das Gebäude, dann das Werksgelände. Als sie die Straße betrat, wandte sie sich nicht mehr um.

Mit einem Mal roch selbst die Luft anders, es war, als würde ein Hauch von Frühling darin liegen. Und das Ende Januar.

Ein Blick auf die Uhr ließ sie zusammenzucken. 20 Minuten, hatte die Beinlich gesagt, und zehn waren schon vergangen. Es war ein schier unmögliches Unterfangen, was würde geschehen, wenn sie zu spät erschien?

Und warum ausgerechnet heute? Genau an dem Tag, an dem Hannes sich das erste Mal, seit sie den Ausreiseantrag gestellt hatten, mit einer Lüge bei der Arbeit entschuldigt hatte. Er wollte in der Datsche nach dem Rechten sehen.

Er war nicht erreichbar.

Ihr Herz schlug noch schneller, und sie beschleunigte den Schritt, eilte zur Straßenbahn.

Als sie wenig später im Rat des Inneren das Zimmer von Sandra Beinlich betrat, sah diese strafend zur Uhr auf, verlor aber kein Wort. Doch ihr Blick ließ keinen Zweifel: Es ist deine Zeit, die abläuft, schien er zu sagen. »Sie müssen die Ausreisepapiere ausfüllen«, begann sie grußlos und schob ihr Unterlagen zu.

Tatsächlich gab es Unterlagen zur Ausreise – Isa war fassungslos. Es war so weit. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

»Sie hören jetzt genau zu, ich sage das nur einmal: Diese Unterlagen bekomme ich um 12 Uhr zurück.« Wieder ging der Blick der Beinlich zur Uhr hinauf. »Sie erscheinen dann um 17.30 Uhr wieder hier und erhalten die Ausreiseunterlagen. Die Fahrkarten werden Sie am Bahnhof Lichtenberg kaufen und am Abend vom Bahnhof Schöneweide losfahren. Um 18.46 Uhr. Nach Magdeburg, dort wartet der Zug, der über Oebisfelde die DDR verlässt.«

Isa schaute auf die Unterlagen in ihren Händen. Unterlagen für Anke, für Hannes und für sie selbst.

Ein Antrag weniger als gedacht.

Isa schien wie aus weiter Ferne auf sich selbst herunterzuschauen. Aber es waren wirklich ihre Hände, die diese Papiere hielten.

Die Beinlich, nur durch einen Schreibtisch von ihr getrennt, war eine Frau, die aussah, als würde man sie gern zur Nachbarin haben, wenn man vom kühlen Ton ihrer Stimme absah und den ausdruckslosen Augen. Sie war jung, modern und energisch.

Du und deine Dreckskollegen, ihr habt doch absichtlich alles möglichst lange verzögert, brüllte es mit einem Mal in Isa auf.

Ja, fluchen konnte sie!

Das hatte sie von Elisabeth gelernt.

Ihre Mutter war eine einflussreiche Frau im Magistrat. Die würde sich die Beinlich noch vorknöpfen.

Euretwegen müssen wir Christian nachholen, ja, der Weg der Familienzusammenführung steht uns frei. Aber heute: Heute müssen wir ihn zurücklassen. Mit ihrem Sohn hatten sie diesen Plan für diesen schlimmstmöglichen Fall geschmiedet, es war kein guter, aber ein machbarer.

Ihr Drecksschweine. Wehtun wollt ihr uns, bis zur letzten Sekunde! Sie saß wortlos da, rührte sich nicht und schrie die Beinlich aus Leibeskräften an – in ihrem Inneren –, ohne eine Miene zu verziehen. Dabei atmete sie ruhig weiter und achtete darauf, dass ihre Hände sich nicht am Papier festkrallten. Sie spürte jeden ihrer Wimpernschläge, die bleischwer geworden waren. Ja, sie verließen die DDR . Ohne Christian. So bitter. Bis zum Schluss.

Aber sie hatte keine Zeit, herumzusitzen und sich ihrer Wut hinzugeben, in den Schmerz zu fallen. Sie musste nach Hause fahren, alles zusammensuchen, durchfuhr es Isa. Mit einem hastigen Blick auf die Unterlagen erkannte sie, dass Hannes und sie Lebensläufe schreiben und zur Sparkasse mussten. Aber Hannes, er war unterwegs.

Es kam alles zusammen.

Mit einem Mal lächelte die Beinlich. Obwohl Isa sich bemühte, ihr inneres Chaos zu verbergen, konnte die Sachbearbeiterin in sie hineinsehen, sich weiden an alledem. »Im Übrigen: Wenn Sie nicht bis 0.00 Uhr das Land verlassen haben, können Sie jederzeit verhaftet werden. Sie sind dann aus der Staatsbürgerschaft entlassen, und Ihr Kind käme dann ins Heim.« Sie lächelte noch breiter.

»Das ist mir bekannt.« Isa erhob sich, schaute auf die Beinlich herab, was seine Wirkung nicht verfehlte. »Wir sehen uns später.«

»Wenn Sie meinen.« Die Beinlich wandte sich ab, noch immer lächelnd.

Die Uhr zeigte 10.21 Uhr.