ANKE,
19. JANUAR 1988

Anke hockte auf dem Rand ihres Bettes und sah sich in ihrem Zimmer um, das sie gleich verlassen sollte.

Sie verstand die Welt nicht mehr.

Sicherlich hatte es dieses Gespräch zu Silvester gegeben, der Jahreswechsel von 1986 zu 1987. Draußen auf der Wiese hatten sie gestanden, bei Freunden der Eltern, deren Haus sich in Mauernähe befunden hatte, irgendwo bei Johannisthal, vielleicht war es auch Plänterwald gewesen. Das Feuerwerk aus dem Westen hatte ihre Blicke gebannt, und das Zischen und Knallen hatte das Knirschen ihrer Schritte auf dem gefrorenen Boden überdeckt. Sie hatten angestoßen, und trotz des Festes, trotz der vielen Menschen um sie herum, hatte es diesen Moment gegeben, in dem sie ganz für sich gewesen waren.

Anke, Mama und Papa. Christian war bei seinem Kumpel gewesen, um dort zu feiern.

Und plötzlich hatten die Eltern gefragt, ob sie bereit wäre, in den Westen zu gehen, das Land zu verlassen.

In diesem Moment war Anke sicher gewesen, das zu wollen. Es sogar sehr zu wollen. Der Lichterschein des Feuerwerks, so farbig und fröhlich, war ihr wie ein Versprechen vorgekommen.

Es hatte nach diesem Gespräch noch Monate gebraucht, bis die Eltern den Antrag gestellt hatten. Viel Zeit. Alles hatte immer viel Zeit gebraucht. Nie hatte jemand davon gesprochen, dass es dann so schnell gehen würde. Und ging es jetzt wirklich um die Ausreise? Oma wusste doch gar nichts davon. Und ihr Satz, sie würden verreisen, klang so allgemein wie eine Fahrt in die Tschechei oder nach Polen. Und warum waren die Eltern nicht zu Hause? Warum hatten sie es ihr nicht gesagt?

Anke trat zur Zimmertür und lugte hinaus. Durch den Flur konnte sie im Wohnzimmer ihre Oma sehen, die Wäsche faltete und in einen der Koffer legte. Opa konnte sie nur hören, er musste am Esstisch sitzen. Er fluchte, Papier raschelte.

Als ihre Oma aufsah, trat Anke rasch von der Tür zurück. Obwohl sie sich Mühe gab zu lauschen, konnte sie nicht verstehen, was Oma zum Opa sagte, aber sie hörte, wie die Wohnzimmertür geschlossen wurde.

Anke fühlte sich wie abgeschnitten.

Der Rucksack lag auf dem Bett, sie hatte alles gepackt. Es passte nicht viel hinein. Anke schaute zum Käfig, und Susi schien zu bemerken, dass sie beobachtet wurde. Mit schräg gelegtem Kopf saß sie schweigend auf ihrer Holzstange.

Anke trat an die Kommode, auf der der Käfig stand. Dann würde sie sich jetzt selbst um Susi kümmern und die Eltern entlasten, beschloss sie. Die beiden würden sicherlich eine Menge zu tun haben, wenn die Familie jetzt verreisen würde. Aber in den Sommerferien, da könnte sie doch zurückkehren und für eine Woche Ferien in der DDR machen.

Das war ein guter Gedanke!

Sie könnte die Großeltern besuchen, das ließe sich bestimmt einrichten, dagegen würde niemand etwas einwenden können. Dann könnte sie auch zu Julia gehen und Susi wiedersehen.

Erleichtert atmete Anke aus.

Sie war überzeugt davon, die Freundin würde sich hervorragend um ihren leuchtend gelben Vogel mit dem kleinen Schnabel und den schwarzen Knopfaugen kümmern. So schön wie heute war Susi ihr noch nie vorgekommen.

Sie schlich in den Flur, holte ein Einkaufsnetz und packte Vogelfutter und Vogelsand ein. Zeitungspapier, mit dem sie den Käfigboden auslegte, stopfte sie dazu. Sogar einige krümelnde Hirsestangen hatte sie noch. Sie warf das alte Betttuch über den Käfig und wusste, dass Susi keinen Laut mehr von sich geben würde. So niedlich waren Vögel. Ein Tuch und sie dachten, es wäre Nacht.

Anke lächelte und lugte erneut in den Flur hinaus.

Noch immer war die Wohnzimmertür geschlossen.

Schnell schlüpfte sie in die Jacke, nahm sowohl Käfig als auch Beutel und schloss leise die Wohnungstür hinter sich.

Es war nicht weit. Sie würde gleich wieder zurück sein. Sie würde Julia den Käfig mit Susi übergeben und dann nach Hause zurückkehren.

Um zu gehen.

Wohin auch immer.

Ein seltsamer Gedanke.

Es dunkelte bereits, und ihr Atem stieg in kleinen Wölkchen vor ihr auf. Der Käfig war erstaunlich schwer, und der Vogel gab keinen Laut von sich. Anke fröstelte und befürchtete, es könnte zu kalt sein für einen Vogel. Sie lief schneller, es waren nur zwei Querstraßen.

Sie erreichte das Hochhaus, in dem Julia wohnte. Das Schloss der Haustür war defekt, Anke konnte sich nicht erinnern, dass es jemals anders gewesen war. Sie stieß die angelehnte Tür auf und fuhr mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock.

Behutsam stellte sie den Käfig vor der Wohnungstür ab, sah unter der Decke nach ihrer Susi und war erleichtert: Sie legte gleich ihr Köpfchen schief.

Leise klopfte sie an die Tür und wartete.

Niemand öffnete.

Sie klopfte lauter. Lauschte. Aber es war still in der Wohnung. In diesem Moment erinnerte Anke sich, dass Julia nachmittags zum Sport ging.

Sollte sie den Vogel wieder mitnehmen? Sie schüttelte den Kopf und schob den Käfig ganz nahe an die Wohnungstür. Das Tuch ließ sie darüber liegen, damit Susi sich weniger erschreckte, falls irgendwer vorbeikam. Es ärgerte sie, dass sie nicht einmal einen Zettel geschrieben hatte. Sie war felsenfest davon ausgegangen, Julia den Vogel persönlich übergeben zu können. Aber die Freundin hatte Susi schon so oft gefüttert, wenn sie bei ihr zu Besuch gewesen war. Sie würde wissen, was zu tun war. Eine Karte würde sie ihr schreiben, so schnell wie möglich. Nein, eigentlich würde sie die Karte beiden schreiben: Julia und Susi.

Ankes Herz wurde warm.

Sie machte auf dem Absatz kehrt und blieb dennoch am Treppenabsatz stehen. »Tschüssi, Susi, bis bald!«, flüsterte sie und sprang die Treppe hinab, nahm immer zwei Stufen auf einmal und rannte auf die Straße hinaus.

Ihre Lunge schmerzte beim Rennen, und sie spürte heftiges Seitenstechen, als sie nach Hause jagte.

Die Straßenlaternen tauchten alles in gelb-oranges Licht.

Ihrer Mutter stand der Schreck im Gesicht, als Anke die Treppe hinaufgelaufen kam.

»Um Himmels willen, wo warst du?«, rief sie. Oma stand hinter ihr und sah erleichtert aus.

»Ich habe nur die Susi zu Julia gebracht.« Anke rang nach Luft. »Damit es nicht an euch hängenbleibt. Oder an Oma und Opa.«

Ihre Mutter schloss sie in die Arme. Sie roch nach Schweiß, eine beunruhigende Mischung aus Aufregung und Angst.

Im Hintergrund entdeckte Anke Christian. Sie löste sich aus den Armen der Mutter, stürzte an der Oma vorbei und umarmte den Bruder. Er war da! Nun würde alles gut werden. So viele Leute an einem ganz normalen Arbeitstag in dieser Wohnung zu sehen, das kannte sie nicht. Um diese Uhrzeit gab es sonst immer nur Christian und sie, die Eltern kamen meist später von der Arbeit, und die Großeltern waren ohnehin nie da. Sie sah zu ihm auf. »Hast du schon gepackt?«

Christian trat einen Schritt zurück und legte die Hände auf ihre Schultern. Er beugte sich weit vor, bis sein Gesicht direkt vor ihrem war.

Tränen. In seinen Augen.

Sofort war Ankes Körper im Alarmzustand. Sie krallte sich an ihrem Bruder fest und brachte kein Wort heraus.

Plötzlich war kein Geräusch mehr in der Wohnung zu vernehmen.

Die Zeit schien stillzustehen.

»Meene Kleene«, sagte Christian.

Anke schüttelte den Kopf und presste die Augen zusammen.

»Ich kann nicht mitkommen!« Vier leise ausgesprochene Worte, sie hingen in der Stille, die sich ausgebreitet hatte.

»Ich bleibe hier«, flüsterte Christian nun in ihr Ohr. Sie spürte die Wärme seines Atems.

Und dieses Vakuum in ihrem Kopf.

Dann explodierte etwas in ihr. Laut und gewaltig. Alles in ihr brach, zerbarst, löste sich auf in Trümmer, Splitter und Staub. Umhüllte, durchbohrte und erschlug sie. »Nein! Wir können doch nicht ohne dich fahren!« Der schrille Ton ihrer Stimme schmerzte in den Ohren. Sie spürte das Zittern ihrer Lippen, schmeckte Tränen und Rotz. Wo kam der her? Sie wischte ihn weg, schnappte nach Luft und hörte Christians Stimme, die irgendetwas von »herausgefallen aus dem Antrag«, »volljährig« und »Familienzusammenführung« sagte. Sie verstand kein Wort, musste sich aufs Atmen konzentrieren.

Es war, als würde er durch Watte sprechen.

»Du kommst nicht mit?« Sie presste die Worte hervor, hatte das Gefühl, jedes einzelne würde schmerzen.

Er schüttelte den Kopf und vergrub nun sein Gesicht in ihrem Haar.

Sie weinten. So sehr, dass ihre Körper sich verkrampften vor Schmerz. Die Augen geschlossen, standen sie im Flur, mitten im Weg, und irgendwann schlichen die Erwachsenen um sie herum. Niemand wagte, ein Wort zu sagen.

Anke spürte nach einiger Zeit, wie die Schmerzen nachließen, aber in ihr war alles taub und leer.

Christian! Ihr Chrissi, er war alles für sie: Mutter und Vater und großer Bruder. Er fing in seiner Maler- und Lackiererausbildung immer früh an zu arbeiten, und er war der Erste, der nach Hause kam, wenn sie aus der Schule zurück war und auf Gesellschaft wartete. Er wärmte das Essen auf, er erinnerte sie daran, Schularbeiten zu machen. Wie sollte sie denn ohne ihn zurechtkommen?

Letzte Woche erst hatte er Freunde getroffen und sie ermahnt, niemandem die Tür zu öffnen. Er hatte wenig später geklingelt, und sie hatte gedankenlos den Summer betätigt. Wie hatte er sie ausgeschimpft! Er passte auf sie auf. Sie konnte nicht ohne ihn fahren, ausgeschlossen. »Dann bleibe ich auch hier!«, brach es aus ihr heraus. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Was für eine großartige Idee. Sie hatte ja noch Oma und Opa und Christian. Und Julia.

Mit einem Mal stand die Mutter neben ihr. »Anke, hör zu: Wir müssen bis heute Abend das Land verlassen. Ab 0.00 Uhr haben wir keine Staatsbürgerschaft mehr, auch du nicht. Wir haben das doch schon besprochen. Wenn wir nicht ausreisen, bedeutet das: Papa und ich werden verhaftet, und du kommst in ein Heim.«

»Ich bleibe bei Christian, wir haben ja eine Wohnung. Oder ich gehe zu Oma und Opa. Ich kann bestimmt wieder eine Staatsbürgerschaft bekommen.« Vor ihrem inneren Auge sah sie den Schuldirektor. Das Papier und den Stift, den er ihr über den Tisch zuschob. Hätte sie besser doch unterschreiben sollen?

»Wir drei werden gehen. Du bist ab Mitternacht keine DDR -Bürgerin mehr«, wiederholte die Mutter.

»Aber davon habt ihr mir nichts gesagt.« Sie wies auf Christian.

»Wir haben den Antrag für uns vier gestellt. Sie haben ihn so lange bearbeitet, bis Christian 18 geworden ist. Das war ganz sicher nicht unser Plan. Anke, das ist der letzte Gruß an uns. Der Gruß von einem Unrechtsstaat. Genau das ist der Grund, warum wir gehen: weil wir nicht wollen, dass du weiterhin in so einem Land aufwachsen musst.«

»Ja, aber Christian durfte das doch auch!«

»Wir müssen gehen, mein Schatz. Wir müssen wirklich gehen, um 18.46 Uhr fährt unser Zug, und den werden wir nehmen. Wir haben keine Wahl.«

»Ich komme bald nach, versprochen«, flüsterte Christian ihr zu und küsste sie auf die Stirn.

»Und wenn sie dich nicht rauslassen? Wenn erst das der allerletzte Gruß von ihnen wird?«