Isa umklammerte Hannes’ Hand und beugte sich vor. »Ich schaffe das alles nicht«, flüsterte sie.
Sie saßen erneut im Rat des Inneren, und ihr Blick raste immer wieder zur Wanduhr hoch, die inzwischen 17.30 Uhr zeigte. »Man hat uns für 17.00 Uhr bestellt, wir müssen los, der Zug wartet nicht!« Ihr Flüstern war lauter geraten als beabsichtigt.
Hannes schüttelte unmerklich den Kopf. Ganz ruhig bleiben, wir versauen es jetzt nicht auf den letzten Metern, schien sein Blick zu sagen.
Die Beinlich kam aus einem der Nebenzimmer. Sie hielt mehrere Papiere in der Hand, ihr Gesichtsausdruck war weiterhin ausdruckslos. Sie schob die Unterlagen über den Tisch. »Die Fahrkarten können Sie am Bahnhof Lichtenberg abholen, und dann fahren Sie, wie besprochen, um 18.46 Uhr am Bahnhof Schöneweide ab.«
Isa nahm die Unterlagen, und Hannes nickte der Frau zu. Jetzt unterschreiben wir die letzten Papiere der Austrittserklärung aus dem Scheißverein, dachte Isa. Es war vermutlich ihre letzte Amtshandlung in diesem Land. Buchstäblich.
Dann rannten sie den Flur entlang, hinaus auf die Straße.
Sie mussten zum Bahnhof Lichtenberg. Ein Taxi, schnellherangewunken, eine Fahrt, von der vor Aufregung in der Erinnerung nichts gespeichert sein würde. Dann endlich der Blick auf den lang gezogenen Flachbau mit der verklinkerten Fassade im Eingangsbereich, daneben die Front mit den getönten Scheiben. Über dem Eingang eine riesige Kaffeetasse. Leuchtete dieses Ding am Abend? Isa wusste es nicht, im Hineinrennen nahm sie das Mitropa-Zeichen und den Verweis aufs Restaurant wahr. Und sie begriff: Alles, was sie jetzt machte, machte sie vermutlich zum letzten Mal in der DDR . Alles, was sie jetzt sah, sah sie vermutlich das letzte Mal.
Ihr Herz schlug so schnell, dass sie fürchtete, es würde ihren Brustkorb sprengen.
Am Schalter schien man sie erwartet zu haben. Als Isa den Nachweis zur Ausreise vorlegte, zuckte auch diese Dame nicht einmal mit den Wimpern.
»Wir reisen aus und verlassen das Land über Magdeburg-Oebisfelde.« Isa lauschte dem Klang des Satzes nach, und es hörte sich so gut an. So unfassbar gut.
»Macht 555 Mark.«
Kein Wort zu viel.
Isa sah zu, wie Hannes zahlte. Mit Scheinen, die wirkten wie Spielzeuggeld. Es war ein Witz, auch noch für die Fahrkarten der Ausreise selbst zu zahlen, wo das Land so viel Geld mit ihnen verdiente. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte, wurde inzwischen nicht nur für politische Häftlinge, sondern auch für regulär ausreisende DDR -Bürger eine Kopfpauschale gezahlt. 40 000 DM sollten das sein. Ein politischer Häftling war angeblich bis zu 96 000 DM wert, für Einzelne waren sogar bis zu 200 000 DM gefordert worden. Argumentiert wurde stets mit dem Bildungsgrad der zu verkaufenden Staatssklaven. Ja, genau das waren sie. Menschen, die man verschacherte. Es gab Zeiten, da waren Menschen aus der DDR angeblich gegen Kaffee, Butter und Südfrüchte getauscht worden. Ob sie jemals so einen Menschenhandel-Kaffee getrunken oder sich erpresste Butter aufs Brot geschmiert hatte? Den Saft und die Süße von MfS-Orangen genossen hatte? Auch eine Art, Devisen ins Land zu bringen, dachte Isa, während die Kälte unter ihren Mantel kroch. Jetzt war allerdings nicht die Zeit, um über die Staatsfinanzierung nachzudenken, denn die Zeiger auf ihrer Armbanduhr schritten unerbittlich voran.
Endlich lagen drei Fahrkarten in ihren zitternden Händen, geborgen in länglichen weißen Klappkarten mit blauem Aufdruck.
Das waren sie, die Berechtigungen, das Land zu verlassen, der DDR den Rücken zu kehren. Isa trat einen Schritt beiseite und starrte auf den Schriftzug der Klappkarte.
DEUTSCHE REICHSBAHN . Mittig, in großen Lettern.
In der rechten Ecke ein Zug, darunter der Preis mit Kugelschreiber eingefügt. 185 Mark, pro Person. Darunter wiederum der Stempel mit dem Datum der Ausstellung samt der Ausgabestelle: 62 Berlin-Lichtenberg .
Nochmals fixierte sie das Datum.
19.01.1988
Schief gestempelt.
Es war der Tag, der das Leben der Familie für immer verändern würde. Als sie am Morgen aufgestanden war, hatte nichts darauf hingewiesen, dass es genau dieser Tag sein würde, der das Alte beenden und etwas Neues beginnen lassen würde. Und solange sie diesen Tag herbeigesehnt hatte, so sehr raubte es ihr nun den Atem, wenn sie an Christian dachte.
Sie betrachtete die große »2«, die im Zentrum der Klappkarte zu sehen war. Erst jetzt verstand sie, dass die Fahrkarte zwei Monate Gültigkeit besaß. Sie musste sich zusammenreißen, nicht laut aufzulachen. Es war eine Farce, schließlich würde man sie ab morgen verhaften. Mit zitternden Fingern öffnete sie die Klappkarte, auf der linken Innenseite waren mit kleiner Schrift die »Benutzungsbedingungen« aufgedruckt, und direkt vor ihr lag die Karte, die tatsächlich bis zum 20.03.88 gültig war. Als Abfahrtsort der Hinfahrt war Berlin Stadtbahn verzeichnet, als Zielort Gießen. Im unteren Feld der Fahrkarte stand
Via Magdeburg * Oebisfelde ( GR )
Kreiensen/Paderborn
So etwas Schönes hatte sie lange nicht mehr gelesen.
Auf der letzten Seite der Klappkarte standen die »Benutzungsbedingungen« auf Französisch, auf der Rückseite sogar auf Englisch. Kein Wort Russisch.
Sie schob die Fahrkarten in ihre Handtasche und presste sie an sich.
Hannes stand dicht neben ihr und küsste sie gedankenverloren auf die Stirn. »Es könnte klappen«, sagte er, mehr zu sich als zu ihr.
Sie wünschte, er möge recht behalten. Noch wagte sie es nicht, seine Hoffnung aus vollem Herzen zu teilen. In der Freude und Aufregung, die strahlend hell in ihr zu leuchten schienen, gab es Schlieren. Gräuliche Eintrübungen der Angst und des Misstrauens, doch noch auf den letzten Metern von diesem Dreckssystem hereingelegt zu werden. Und mittendrin der tiefschwarze Fleck, den der Gedanke an den Abschied von Christian verursachte.
Aber auch Hannes’ Zuversicht schien noch auf dünnem Eis zu stehen. »Wenn jetzt irgendetwas nicht klappt, beispielsweise mit deinen Eltern. Lass sie zu spät zum Zug kommen«, ergänzte er, während sie die Bahnhofshalle verließen, »dann können wir alles vergessen. Ohne Anke gehe ich nicht.«
Und was ist, wenn sie Christian nicht gehen lassen werden … nein, daran denken wir jetzt nicht, mahnte Isa sich selbst. Sie nahm Hannes’ Hand und drückte sie. Antworten konnte sie nicht, zu groß war der Druck auf ihrer Brust.
Der Lärm des Feierabendverkehrs empfing sie, Menschenmassen, zwei Straßenbahnen, zahlreiche Trabis, ein Wartburg, ein Saporoshez und ein W50 mit dunkelgrauer Plane fuhren an ihnen vorbei. Sie entdeckte ein Taxi und hob das zweite Mal an diesem Tag den Arm, um es heranzuwinken. Noch nie in ihrem Leben war sie zweimal an einem Tag Taxi gefahren.
»Meine Eltern sind da, wir können uns auf sie verlassen«, sagte sie beim Einsteigen in den Wagen. »Ich habe Mike gebeten, er fährt sie alle zum Bahnhof. So sind wir nicht darauf angewiesen, dass irgendwas mit dem Taxi nicht klappt.«
»Mike? Unseren Nachbarn? Weiß er Bescheid?«
»Ja, ich habe seiner Frau schon so oft mit irgendetwas ausgeholfen, wenn die Kinder krank waren. Fieberzäpfchen, Tee, Brot. Und ich habe ihm versprochen, dass Christian ihn durch die Wohnung führen wird, wenn wir weg sind. Dass er sich nehmen kann, was er will.«
Hannes’ Augenbraue sprang in die Höhe, und das Taxi fädelte sich in den Verkehr ein.
Isas Blick glitt aus dem Seitenfenster, erfasste während der Fahrt nur Grau.
Grau in Grau.
DDR -Grau, Januar-Grau, Beton-Grau.
Als sie vor dem Bahnhof vorfuhren und sich an dem Eingangsgebäude der weiße Schriftzug Berlin-Schöneweide zeigte, atmete Isa vor Erleichterung auf.
Sie zahlten, stiegen aus und eilten auf den Bahnhofseingang zu. Ein hässlicher Bau, ein Koloss aus rotem Backstein, in dem täglich Tausende Fahrgäste verschwanden und wiederauftauchten.
Mit Elisabeth und Konrad hatten sie vereinbart, dass sie auf dem Bahnsteig warten sollten. So konnten sie sich nicht verfehlen, denn nur an einem der drei Bahnsteige fuhren die Fernzüge ab.
Kurz sah Isa noch einmal Ankes Entsetzen, als sie wieder in ihre Mäntel geschlüpft waren, um zu den letzten Amtshandlungen beim Rat des Inneren aufzubrechen. Sie versprachen, dass sie sich bald am Bahnhof wiedersehen würden. Anke war blass gewesen und schweigsam, das Misstrauen hatte ihr deutlich ins Gesicht geschrieben gestanden. Und vermutlich hatte nur Christians Anwesenheit ihr die Kraft gegeben, in der Wohnung zurückzubleiben.
Isa hatte ihren Nachbarn sofort entdeckt. Er hatte die Familie nicht nur hergefahren, sondern sie zum Bahnsteig begleitet. Mit offenen Armen lief Isa auf Christian zu und umarmte ihren Sohn. Worte hatten sie beide nicht.
Mit jeder Sekunde, die verstrich, rückte der Abschied näher.
Als sie sich von ihrem Sohn löste, bemerkte sie Konrads angespannten Gesichtsausdruck. Er redete auf Hannes ein und wies ins Innere des Bahnhofs. »Was ist los?« Innerlich ging sie umgehend in Habachtstellung.
»Der Zug scheint nicht zu fahren. Gib mir bitte die Fahrkarten, ich gehe das klären«, sagte Hannes.
Isa riss die Handtasche auf und reichte ihm die drei Fahrkarten.
Es blieben noch 16 Minuten bis zur Abfahrt.
»Ihr bleibt hier, ich bin gleich wieder da.« Er eilte los, in Richtung der Schalter, die ohnehin geschlossen sein würden. Vielleicht würde er zumindest irgendeine Aufsicht finden. Ihr Kopf lief auf Hochtouren, und auch ihr Nachbar sah besorgt aus. Die Eltern schwiegen betreten.
18.33 Uhr. Übelkeit stieg in Isa auf.
18.36 Uhr. Noch zehn Minuten, um einzusteigen, sollte der Zug doch kommen. Zehn Minuten, um sich letzte Liebkosungen zum Abschied zuzurufen.
Aber sie konnte Hannes nirgends entdecken! Isas Gedanken sprangen umher, sie überlegte, ob sie doch loslaufen sollte, um ihn zu suchen.
18.39 Uhr. Elisabeth standen Schweißperlen auf der Stirn. Anke starrte vor sich hin. Die anderen suchten mit Blicken die drei Bahnsteige ab. Ihr Nachbar Mike legte ihr seine Hand auf die Schulter und klopfte aufmunternd.
Gern hätte Isa ihn angeschrien.
18.41 Uhr. Fünf Minuten. Fünf mickrige, beschissen kleine Minuten, und die Tickets waren bei Hannes. Würde sie ohne ihn in den Zug steigen, nur mit Anke, wenn man ihr die Möglichkeit bieten würde?
Isa fühlte in sich hinein.
Sie wusste, dass die Stasi sie dabei beobachten würde. Und niemals, wirklich niemals würde sie ihnen dieses Siegesgefühl gönnen. Dann halt Hohenschönhausen. Hoheneck und Freikauf durch den Westen. Vielleicht bestünde ja die Chance, dass Anke bei den Großeltern wohnen könnte.
18.43 Uhr. »Er wird doch kommen?«, flüsterte Elisabeth. »Ihm wird doch nichts passiert sein?«
Ihm wird doch nichts passiert sein. Was für ein Euphemismus, dachte Isa. Das hatte die Mutter immer gut verstanden. Das Böse in ihren Worten zu verklausulieren. Was sie eigentlich fragte, war, ob die Möglichkeit bestand, dass Hannes doch noch auf den letzten Metern die Nerven verloren und sich mit irgendwem angelegt hatte, mit irgendeiner Aufsicht, mit zufällig vorbeilaufenden Vopos oder Menschen an Schaltern, die sich dann als Mitarbeiter der Staatssicherheit entpuppten – wer konnte das schon wissen? Und die Stasi brauchte nicht immer einen Vorwand, die griffen auch einfach so zu.
Isa musterte aufmerksam die Menschen, die am Bahnsteig warteten, vor allem die Männer.
War Stasi anwesend?
War der Kerl mit der Zeitung einer?
Oder der mit dem Trenchcoat?
Dann fixierte sie die Bahnhofsuhr und sah zu, wie der Zeiger den Sprung machte. Den letzten Sprung.
18.46 Uhr.
Jetzt war es vorbei.
Der Zug fuhr ab, wo auch immer, und sie waren erledigt. Stille breitete sich in ihr aus. Eine, die es nur nach dem Sturm gab. Es war vorbei. Sie konnte sich zumindest zugutehalten, alles versucht zu haben.
Niemand sagte ein Wort.
18.50 Uhr. Hannes – er kam ihnen entgegen.
Isa atmete erleichtert aus. Wenigstens war er wieder da.
»Wir haben den Zug nicht verpasst. Er fährt heute nicht«, erklärte Hannes, als er die Gruppe erreichte. Er ignorierte das Entsetzen auf den Gesichtern. »Es gäbe die Möglichkeit, mit mehreren Bummelzügen zu fahren, aber damit kommen wir in jedem Fall zu spät nach Magdeburg. Wir erreichen den Zug über Oebisfelde in keinem Fall mehr.«
Ankes stoischer Blick wurde mit einem Mal wieder aufmerksam.
Isa spürte Magensäure in ihrer Speiseröhre hochschießen. Sie sah sich nach einem Mülleimer um, sie wusste nicht, ob sie die Übelkeit in den Griff bekommen würde.
»Und jetzt? Wollt ihr warten, bis ihr verhaftet werdet?« Christian klang ratlos.
»Was haltet ihr von einem Taxi?« Konrad zog sein Portemonnaie hervor.
»Nein, das ist nicht nötig«, sagte Mike. »Das werden wir auch nicht finden – also ein Taxi, das so eine Tour fährt. Ich stehe auf dem Parkplatz, lasst uns rübergehen. Ich fahre euch.« Er hielt seinen Autoschlüssel in die Höhe.
Isa hatte das Gefühl, diesen Mann das erste Mal wirklich wahrzunehmen. Mike Müller. Ihr Nachbar. Wer war dieser schmale, ruhige Mann, diese Durchschnittlichkeit auf zwei Beinen? Der kaum etwas sagte, aber nun plötzlich so hilfsbereit, fast selbstlos war?
Konrad schob ihm Geld in die Manteltasche. »Fürs Tanken.«
Mike nickte ihm zu. »Danke, aber Sie beide haben trotzdem keinen Platz mehr. Auch dich, Christian, werde ich nicht mitnehmen können, wegen des Gepäcks. Aber alles andere schaffen wir, auch wenn wir uns ein bisschen beeilen sollten. Die Wetterbedingungen sind nicht die besten.«
Zehn Minuten später saßen sie im Auto, und Isa hatte noch den Geruch ihres Sohnes in der Nase, hatte das Gefühl, noch einmal seine Haare auf ihrer Wange spüren zu können, die sie gekitzelt hatten, als sie ihn ein letztes Mal umarmt hatte. Sie blinzelte heftig gegen die Tränen an.
Sie war nicht zusammengebrochen, sie hielt sich noch immer aufrecht.
Es war zu vieles, was auf sie einprasselte.
Sie musste funktionieren.
Irgendwann, in einem ruhigen Moment, würde das Entsetzen sie packen und in panikerfüllte Stunden jagen.
Aber noch war es nicht soweit.
Und vor Mike wollte sie nicht weinen. Sie wollte eigentlich überhaupt nicht mehr wegen dieses Scheißvereins weinen, und sie wollte Anke nicht noch mehr verunsichern. Seit dem Gespräch im Flur war die Tochter nur noch sprachlos hinter ihnen hergetrottet. Ihren Bruder hatte sie mit einer schlaffen Umarmung verabschiedet.
Sie fuhren los, und Mike schaltete das Radio ein.
Anke schaute aus dem Fenster, auf der Scheibe liefen vereinzelte Regentropfen herab, in denen sich die Lichter der Stadt im steten Wechsel brachen.
Rot, weiß, grün, gelb.
»Ist das jetzt ein letzter Trick von denen? Wollen sie nicht, dass wir den Zug bekommen, und uns doch noch verhaften?«, fragte Anke unvermittelt, ohne sie anzusehen. »Ist das jetzt ein Katz-und-Maus-Spiel?«
Isa fröstelte. Ihre Tochter klang plötzlich so erwachsen. Viel zu erwachsen.
»Ich weiß es nicht, aber ich glaube, dass wir es schaffen.« Sie bohrte den Blick in Mikes ausrasierten Nacken. Solange unser Nachbar nicht von der Stasi und Teil eines perfiden Planes ist, dachte sie, könnte es noch gelingen. Hoffentlich bringt er uns tatsächlich nach Magdeburg zum Zug. Sie wusste nur eines: Sicher war noch immer nichts.