Betroffenheit.
Ja, genau das ist es, was Elisabeth spürt.
Eigentlich war es ein klassischer Zufall: Sie hatte das Zimmer verlassen, um sich hinzulegen, aber sie hatte ihre Brille vergessen, die sie zum Lesen brauchte. Als sie in die Stube zurückkehren wollte – die Tür war nicht richtig geschlossen –, hörte sie Lou und Konrad miteinander sprechen, fast klang es wie ein Verhör.
Und so war es bei genauerem Hinhören auch: Lou fragte ihren Uropa aus.
Über Henning.
Zumindest versuchte sie es.
Und das, kaum nachdem sie das Zimmer verlassen hatte. Es brauchte keine besonderen Fähigkeiten, um zu verstehen, dass Lou extra abgewartet hatte, um den richtigen Zeitpunkt zu erwischen. Elisabeth hat es nicht geschafft, das Zimmer zu betreten, um ihre Brille zu holen.
Nun liegt sie auf dem Bett, in ihrer Tageskleidung auf der Tagesdecke. Schon lange schlüpft sie mittags nicht mehr in einen Schlafanzug, das Umziehen ist mühselig geworden. In der Regel liest sie eine halbe Stunde, um dann einzuschlummern. Doch heute fehlt ihr die Brille, und wach ist sie jetzt außerdem.
Was denkt sich dieses Kind? Lou ist 20 Jahre alt und nimmt sich heraus, hier hinterrücks Fragen zu stellen.
Und was um Gottes willen denkt Henning sich? Genau genommen ist es seine Schuld.
Sie lacht auf. Wenn die alle wüssten.
Gut, die Stasi hat es vermutlich gewusst. Aber was haben die nicht gewusst? Konrad und sie haben damals, als es möglich geworden war, ihre Stasi-Akten eingesehen. Sie haben in einem Lesesaal gesessen, über den Kopien mit den geschwärzten Namen, als hätten sie nicht ohnehin bei jedem gewusst, um wen es sich handelte. Und so war es doch vermutlich allen ergangen. Ohnehin zu wissen, was verborgen war. Konrad und Elisabeth Simon haben nebeneinandergesessen, an kleinen viereckigen Tischen mit weißgrauer Tischplatte, die es so nur in Behörden gab, jeder mit einem metallenen Rollwagen neben sich, auf dem die Unterlagen bereitgestellt worden waren. Sie haben gelesen, ihre Mittagspause gemeinsam verbracht, sich aus ihren Akten erzählt, sie irgendwann geschlossen und keine Kopien bestellt.
Es gibt Dinge, die muss man nicht mitnehmen.
Und schon gar nicht dieses lückenhafte Tagebuch über ihr Leben, das jemand anderes für sie geschrieben hatte. Jemand, der sie nicht leiden konnte, der ihr Böses wollte, ihr misstraute und der die widerlichsten Schlussfolgerungen zog. Jemand, der nicht verstand, wer sie war und was sie wollte. Der nicht ihre Taten, sondern die anderer zum Maßstab der Bewertung ihres Lebens machte.
Nur Konrad, er war der Lichtblick, der sich durch die Akten zog. Gemeinsam hatten sie die Stasi betrogen, sie und ihr König Konrad. Und selten hatte sie sich ihrem Mann so nah gefühlt wie an diesem Tag. Noch einmal hatte sie bewusst wahrgenommen, was für Stürme sie miteinander durchgestanden hatten.
Tatsächlich hatte die Lektüre der Vernehmung den Originalton ihres ersten Besuchs im Magistrat wieder hochgespült. Damals, als man sie in eines der Konferenzzimmer gebeten hatte.
»Frau Simon, beginnen wir mit den Personalien. Geboren am?«
»Am 1. Mai 1932.«
»So so, am Tag der Arbeit. Wohnhaft in?«
»Königsheideweg 298a, fast an der Ecke zum Segelfliegerdamm in Johannisthal.«
»Tätigkeit?«
Warum fragte er das? Elisabeth war verunsichert. Er musste wissen, wenn er gut vorbereitet war, wo sie arbeitete, er musste wissen, dass sie keine Auskunft über ihre Arbeit geben durfte. Seine Aufgabe war es, ihre politische Gesinnung zu überprüfen, nicht ihre berufliche Tätigkeit – obwohl die für sich sprach. Genau wie ihre Anschrift. Sollte er seine Aufgaben ernst nehmen, musste ihm geläufig sein, dass in ihrer Gegend vornehmlich jene Genossen wohnten, die in Behörden arbeiteten, und dass Honecker mit seiner Margot einen Steinwurf entfernt in der Herrenhausstraße lebte. Oder war es nur Margot? Wie auch immer, es war jetzt auch gleichgültig. Sie musste sich konzentrieren.
»Ich arbeite im Magistrat, direkt im Rathaus am Alexanderplatz«, sie betonte es, um Eindruck zu machen, »in der Allgemeinen Verwaltung. Ich betreue unter anderem die Materialausgabe, bei mir bekommen Sie alles: Papier, Stifte, Radiergummis. Bei uns gibt es alles, dafür sorge ich. Ich organisiere die Durchführung der Kinderferienlager mit und trage mein Scherflein zum Dienstblatt des Magistrats bei.«
»Ich möchte Sie bitten, keine Reden zu schwingen, ich erwarte knappe und präzise Antworten. So, nun aber zum Grund unseres Beisammenseins: Sie werden ja wissen, warum wir heute hier sind.«
Elisabeth will sich nicht erinnern, sie will die Stimme nicht hören. Gern würde sie sich unter der Tagesdecke verkriechen, aber sie rührt sich nicht und denkt an Flipper. Diese Sendung hat Isa als Kind besonders gern gesehen, zumindest, wenn sie, die Mutter, nicht zu Hause gewesen war. Wenn sie es mitbekam, hatte Isa umschalten müssen. Es war schließlich Westfernsehen gewesen. Nicht, dass sie die Sendungen verwerflich gefunden hätte, sie hatte vielmehr Sorge, irgendwer könnte im Treppenhaus stehen und belauschen, was hinter der Wohnungstür der Familie Simon so vor sich ging.
Trotz der Sorge sind die Bilder geblieben. Die Musik auch. Elisabeth ruft sich, in ihrem Bett liegend, die fröhliche Melodie ins Gedächtnis: »Flipper, Flipper, der Freund aller Kinder …« Dann weiß sie nicht mehr weiter, und sofort ist die Stimme zurück.
»Sie werden sicherlich verstehen, dass wir uns sehr dafür interessieren, wie, wo und seit wann Ihr Bruder seine Flucht geplant hat? Und mit wem? Und wann er Sie darüber informiert hat?«
Elisabeth reißt die Augen wieder auf. Sie ist dankbar, dass sie in ihrer Wohnung ist. Dass nebenan Konrad sitzt, mit Lou. Ihr Körper erinnert sich an diesen Moment, in dem ihr der Kreislauf wegzusacken drohte und sie fürchtete, vom Stuhl zu rutschen. Deshalb bleibt sie auch jetzt liegen und wagt es nicht, aufzustehen.
»Ich bin Genossin, ich bin …«, flüsterte sie in den Raum hinein.
»Das lassen Sie mal unsere Sorge sein. Also, seit wann wissen Sie davon, dass Ihr Bruder eine Flucht plante?«
Elisabeth sah zur Wanduhr hinauf, dann begannen ihre Augen zu brennen. »Seit dreieinhalb Minuten.«
Der Mann ihr gegenüber sprang auf, sie meinte, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Er hieß Koslowski, konnte das sein? Es war unnütz, ihn danach zu fragen, er würde es ihr nicht verraten.
»Wenn Ihnen hier eines nicht zusteht, dann sind es Witze. Es handelt sich hier um eine Republikflucht. Eine besonders dreiste sogar.«
Für einige Zeit wurde Elisabeths Bild schwarz-weiß. Das war ihr vorher und auch danach nie wieder passiert, tatsächlich hatte für einen Moment die Welt ihre Farben verloren. Es musste ihr Kreislauf gewesen sein. »Er ist wirklich weg?« Schon wieder flüsterte sie.
»Hören Sie auf, unsere Zeit zu verschwenden. Es wird Ihnen leidtun.«
»Seit wann?«
»Seit gestern. Was haben Sie uns zu den Vorbereitungen zu erzählen? So ganz einfach dürfte das ja nicht gewesen sein. Besitzen Sie eine Nähmaschine?«
»Nein, warum?«
»Das wissen Sie!«
»Hören Sie: Mein Bruder wohnte eine halbe Stunde von uns entfernt, bei meiner Mutter. Er kam selten vorbei, seit …« Kurz war sie versucht, das Zuckerwatte-Mädchen zu erwähnen. Aber sollte sie jetzt wirklich diesem ungehobelten Kerl davon erzählen, dass ihr Bruder verliebt war? Verließ man aus Liebe sein Land? Er hatte es jedenfalls getan. Vermutlich. Würde es diese Herren milder stimmen, wenn ihr Bruder kein politischer Flüchtling war? Vielleicht. Aber eigentlich war es auch egal. Henning brauchte keine Milde mehr, und ihr würden genauere Auskünfte nur schaden, weil sie damit den Eindruck erwecken würde, doch mehr zu wissen. Jeder in ihrer Abteilung hatte mitbekommen, dass die Stasi sie zum Gespräch mitgenommen hatte. Sie würde jetzt das Gesprächsthema Nummer eins sein.
Flipper, Flipper … Sie summt es laut, summt gegen Koslowski – oder wie auch immer er hieß – an. Der Stasi-Mann löst sich tatsächlich in Luft auf.
Soll sie wieder aufstehen? Es hat keinen Zweck, länger liegen zu bleiben und sich den Erinnerungen auszusetzen.
Plötzlich hört sie das Quietschen der Stubentür. Lous Schritte, leicht und federnd, dahinter schlurfend die von Konrad. Beide schweigen. Lou nimmt die Jacke von der Garderobe, die Wohnungstür wird geöffnet.
»Tschüs, sag Uroma liebe Grüße.«
Konrad versucht, leise zu sprechen, aber sie kann jedes Wort verstehen: »Wage es ja nicht, deine Urgroßmutter mit solchem Stuss zu behelligen. Du hast ja im Hotel gesehen, wie schlimm das für sie war. Haben wir uns verstanden? Und grüß ebenfalls schön.«
Elisabeth hört, wie er die Tür behutsam schließt.
Für einen Moment sieht sie Lou im Treppenhaus stehen.
So wie sie damals, als die Herren das Verhör beendeten und sie aus dem Konferenzraum im Magistrat wieder ins Treppenhaus zurückkehrte. Sie musste sich am Treppengeländer festhalten und ahnte bereits, was auf sie zukommen würde. Das Spiel hatte erst begonnen.