Konrad hat sie angerufen. Anke kann sich nicht erinnern, dass er das schon einmal getan hat. Und weil er vermutlich nicht gern am Telefon hängt, hat er auch nicht lange gefackelt: Ob eigentlich mit Lou alles in Ordnung sei? Ob sie, die Mutter, verdammt noch mal, wüsste, was in das Kind gefahren sei, hatte er mit seltsam gedämpfter Stimme gefragt.
Irgendwie häuften sich die Beschwerden über Lou gerade. Was war denn bloß? Erst Isa, jetzt Konrad.
Das Kind. Wenn sie diese Formulierung schon hört, stellen sich Ankes Nackenhaare auf. Lou ist eine junge Frau, sehr wohl in der Lage, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln.
Offensichtlich hat es Streit gegeben, vielleicht war es aber auch nur eine Diskussion, darin ist Lou ganz groß. Und ja, vermutlich hat die eifrige Journalistik-Studentin König Konrads Grenzen überschritten. Wie zur Bestätigung war er fortgefahren: Ob sie jemals mit ihrer Tochter über diese Zeit gesprochen habe? Über die DDR ? Über Elisabeth?
Noch bevor sie ihn daran erinnern konnte, dass sie beim Verlassen der DDR 14 Jahre alt gewesen war, hatte Konrad das Gespräch auch schon wieder beendet.
Offenbar wollte er nur Druck ablassen. Diskussionen sind nicht seine Sache.
Anke sitzt nun da, an ihrem Küchentisch, mit dem abgeladenen Frust ihres Großvaters, und überlegt, was zu tun ist.
Soll sie sich mit Elisabeth in Verbindung setzen und in irgendeiner Form für ihre Tochter entschuldigen? Aber für was genau? Und warum sollte sie das tun? Lou ist alt genug, die Verantwortung für ihr eigenes Verhalten zu übernehmen.
Wäre es gut, vielleicht bei ihrer Mutter nachzuhaken, ob die Genaueres weiß? Isa und Lou können doch eigentlich gut miteinander.
Oder soll sie Lou einfach direkt darauf ansprechen?
Seit Hennings Berlin-Besuch herrscht eine seltsame Unruhe in der Familie. Irgendetwas ist aus dem Gleichgewicht geraten, etwas, das diese Familie zuvor austariert hatte.
Und wie stellt Konrad sich das vor? Was genau soll sie ihrer Tochter denn erzählen? Von der DDR . Das Thema interessiert die jungen Leute doch gar nicht. Dieser Kasper mit der schwarzen Brille und der hohen Stimme, die albernen Massen-Jubelveranstaltungen, Wahlergebnisse von 99 Prozent Zustimmung, und dann dieser propagandistische Sprachmatsch in allen Reden, Zeitungsartikeln und Fernsehbeiträgen.
Ganze Sommer hatte sie fernab dieser Dinge in Bestensee verbracht. Und was hatte Konrad ihr alles beigebracht – Fahrradfahren, Schwimmen, Pilze erkennen, Tierfährten lesen, Schnitzen, Feuer machen. Schön war es gewesen. Dort im Wald. Als Kind. Und sonst?
Doch, die Freundinnen in der Schule, das war auch schön. Neben Julia hatte es noch zwei, drei andere Mädchen gegeben. Herumhängen nach der Schule, Geheimnisse austauschen, die man nicht mit den Eltern oder Geschwistern teilte, die erste Zigarette. Schmeckte ekelhaft. Der erste Sekt. Grauenvoll, mit Saft viel besser. Der neue Schüler im Jahrgang über ihnen. Zuckersüß.
Schön war es gewesen, in der Platte. Zwischen ihren Mädels, von denen sie sogar die größte Klappe gehabt hatte. Mit einem Bruder wie Christian im Rücken hatte es auch niemand gewagt, sich ihr gegenüber respektlos zu verhalten. Christian war so groß und stark wie sanftmütig. Von seiner Sanftmut aber wusste kaum jemand.
Doch, schön war es in ihrer Kindheit gewesen. Zumindest bis zu einem gewissen Moment, der in mehrfacher Hinsicht schlecht war.
Anke schüttelt sich, hat fast das Gefühl, aus einem Traum aufzuwachen.
Lou hat bislang nie nachgefragt, warum soll sie ihr den ganzen alten Kram denn jetzt auf einmal aufzwängen?
Und warum soll sie, Anke, sich eigentlich dazu äußern? Ist sie nicht, wenn man es genau nimmt, ein seltsames Wesen zwischen diesen Welten? Weder das eine noch das andere? Ist es nicht viel sinnvoller, wenn Lou sich mit den Großeltern zusammensetzt? Mit den Urgroßeltern ist es ja offensichtlich schiefgegangen.
Vielleicht sollte sie sich ein Tagebuch zulegen und alles aufschreiben? Dann könnte Lou entscheiden, ob sie es lesen wollte. Und wann. Oder Lous Kinder. Der Herbst naht, die Zeit der langen Abende und dunklen Wochenenden, die überbrückt werden wollen. Aber was würde sie dort hineinschreiben? Wo würde sie beginnen, wo aufhören? Sie macht sich einen Kaffee und lauscht den knarzenden Geräuschen des Vollautomaten, der manchmal ein wenig klingt wie ein anfahrender Zug.
Die Assoziation passt. Sie nimmt den Kaffee und pustet in die Crema.
Der Zug, damit würde sie beginnen. Wie sie in Magdeburg auf dem Bahnsteig eintrafen, so spät, dass die Türen des Zuges sich schon schlossen.
Es war der Moment, in dem der Zug anfuhr.
Sie rannten den Bahnsteig entlang.
Anke erinnert sich genau: Sie hatte seit dem Nachmittag kaum einen Ton herausgebracht.
Aber in diesem Moment schrie sie.
Rannte um ihr Leben.
Auch wenn sie sich wenige Stunden zuvor gewünscht hatte, in der DDR zu bleiben, gab es nun nichts, was sie mehr ängstigte, als hier, in Magdeburg, den Zug zu verpassen. Was wären sie dann noch: Staatenlose. Der Stasi ausgeliefert.
Sie rannte schneller.
Sie schrie. Ihre Stimme überschlug sich.
Der Vater lief neben ihr. Die Tür wurde wieder aufgeschoben, fremde Menschen streckten ihnen die Hände entgegen.
Anke packte zu. So fest wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
Dann sprang sie.
Bäuchlings landete sie im Zug. Sie war in Sicherheit, aber sie musste Platz machen für das Gepäck und die Eltern, die ebenfalls in den Gang gezogen wurden.
Isa saß für einen Moment neben ihr auf dem Boden des Zuges, lachte, ihre Augen glänzten, die Wangen waren gerötet, das Haar zerrauft. Ein Bild, das sich bei Anke einbrannte.
Erst als sie Platz nahmen, registrierten sie das Schweigen. Die Angst, die mitfuhr. »Es kann sein, dass Stasi im Zug ist«, flüsterte die Mutter ihr zu.
Hundert Deutsche Mark waren in ihrem Schuh versteckt, hundert bei der Mutter, hundert beim Vater. Anke wusste nicht, woher die Eltern so viel Westgeld hatten, aber der Schein in ihrem Schuh schien inzwischen zu glühen.
Dann der Halt in Oebisfelde.
Es war später Abend, Lichter von Taschenlampen zuckten draußen durchs Dunkel. Anke sah, wie die Grenzer den Zug abschritten, alles ableuchteten und mit langen Stangen in eventuellen Hohlräumen unter dem Zug herumstocherten, um sicherzugehen, dass sich niemand dort verbarg.
Es folgte die Ausweiskontrolle.
Noch immer.
Noch immer konnten sie zugreifen.
Ankes Hand mit dem Ausweis zitterte.
Dann war es vorbei. Der Grenzer ging weiter, kontrollierte den nächsten Ausweis.
Zwei Koffer hatten sie dabei, mit dem Nötigsten.
Eine Reisetasche mit Fotoapparat und Schuhen, einen Rucksack mit Essen, eine Plastiktüte mit einigen von Ankes Spielen und Büchern. Den blauen Rucksack trug sie auf dem Rücken.
Zurückgelassen hatten sie Christian.
Die Großeltern.
Die Urgroßeltern.
Die süße Susi.
Eine Vierraumwohnung in der Platte.
Einen Trabi. Den die Eltern wenige Wochen vor dem Ausreiseantrag gekauft hatten.
Und 5 000 Mark, das hatte Anke erlauscht.
Als der Zug anfuhr, langsam und leicht ruckelnd, blieb es gespenstisch still. Anke begriff: Die Stasi war raus, nun war dies ein Zug voller Abtrünniger. Menschen, die wie Familie Hauschke das Land verlassen würden.
Als der Zug in den Westen einfuhr, sprangen die Ersten auf, standen an den Fenstern, und als sie ganz sicher waren, die DDR verlassen zu haben, brach die Hölle los.
Die Leute jubelten nicht, sie schrien. Vor Freude. Einige sanken in sich zusammen, überwältigt. Ungläubig.
Alle.
Sie hatten es geschafft. Tatsächlich geschafft.
Aber Anke konnte auch hören, was die Menschen um sie herum auf diesem engsten Raum mit herausschrien: den Schmerz der Abschiede, die Angst, zu scheitern, die Wut auf das, was ihnen angetan worden war.
Und dennoch war da Dankbarkeit und so viel Hoffnung. Sektkorken knallten, wildfremde Menschen umarmten Anke, hoben sie in die Höhe, wirbelten sie umher. Irgendwer drückte ihr einen Plastikbecher voll Sekt in die Hand, und Anke stürzte ihn hinunter, bevor die Eltern ihn ihr wieder abnehmen konnten.
Anke stellt den Kaffee beiseite, geht zum Kühlschrank und holt einen Piccolo heraus. Rotkäppchen-Sekt. Wie damals im Zug. Sie schraubt die Flasche auf und prostet sich zu.
Vielleicht hat sie ja doch etwas zu erzählen.
Drei Tage später sitzt sie am Esstisch und hat ein Heft vor sich liegen. Sie hat gründlich überlegt, bis sie sich für eines entschieden hat. Es ist pink. Hochglänzend. Und sie hat die Seiten ein wenig mit ihrem Lieblingsduft besprüht. Sie beginnt zu schreiben:
Kindheit und Jugend von Anke Hauschke
Ein Zeitzeuginnenbericht
Sie setzt den Stift ab. Ja, das kann sich sehen lassen. Aber wie geht es jetzt weiter? Kann sie alles so aufschreiben, wie sie es will? So, wie sie sich erinnert? Gibt es formale Regeln für einen Zeitzeuginnenbericht? Wahrscheinlich die Ich-Form. Sie lässt ein paar Seiten frei, auf denen kann sie irgendwann ihren Lebenslauf und ihre Motivation ergänzen, ein paar Worte an Lou richten.
Aber jetzt will sie dort fortfahren, wo sie kürzlich erst aufgehört hat:
20. Januar 1988
Es war Mittag, als wir den Meisenbornweg in Gießen erreichten, und ich war beim Anblick des Gebäudes erleichtert: Das Wort Notaufnahmelager hatte mir Angst gemacht, aber hier sah es eigentlich ganz schön aus. Ein Pförtnerhäuschen mit Schlagbaum begrüßte uns, daneben Blumenbeete, die sich zwar noch im Winterschlaf befanden, aber erahnen ließen, mit wie viel Hingabe hier ein freundliches Umfeld geschaffen wurde. Hinter den Beeten war eine Brunnenanlage zu sehen. Der Pförtner hieß lustigerweise wie wir, Hauschke. Was für ein schöner Zufall, ich fühlte mich auf irgendeine Weise vom Schicksal willkommen geheißen, wenn es denn so etwas gab.
Die Menschen, die uns in Empfang nahmen, lächelten freundlich und führten uns in eines der Gebäude, es hatte den Namen Berlin-Brandenburg. Wir bekamen ein Zimmer zugewiesen, das nicht groß, aber zweckmäßig eingerichtet war: Schränke, die an Spinde erinnerten, auf der linken Seite, im Vordergrund, ein einfacher Tisch mit Holzstühlen, dahinter Doppelstockbetten. Zwischen den Betten ein Fenster mit orangefarbenen Gardinen. Die Koffer und Taschen mussten wir auf den Schrank räumen, weil es sonst recht eng war.
Ein Wegeplan machte es einfach, sich auf dem großen Gelände zurechtzufinden, die Beschreibungen des Kantinenessens wirkten auf dem aushängenden Plan abwechslungsreich, und einen Spielplatz für die Kinder gab es auch. Wir erhielten Begrüßungsgeld, wenn ich mich recht entsinne, 15 Mark pro Person und Tag. Ich war nun seit über 30 Stunden wach, wenn man von dem Kurzschläfchen in der Bahnhofsmission in Hannover absah. Am Abend des 20. Januar 1988 schlief ich aber tief und fest ein. In einem Doppelstockbett in Gießen.
Doch an den Abenden darauf fand ich nicht mehr in den Schlaf. Ich gewöhnte mir an, die Eltern zu belauschen. Ich hörte zu, wie sie sich mit gedämpfter Stimme darüber austauschten, wie sie beim amerikanischen, französischen und englischen Geheimdienst antreten mussten. In dieser Reihenfolge. Auch der BND stand auf dem Laufzettel, den die beiden abzuarbeiten hatten. Nach jedem erfolgten Gespräch gab es einen Stempel zur Bestätigung des absolvierten Termins.
Man hatte sie gewarnt: Diese mit Namen versehenen Zettel wurden offenbar häufig gestohlen, dann musste man wieder von vorne anfangen. Das war lästig, weil für die Termine Anstehen gefragt war. Aber meine Mutter baute vor: Sie ließ beide Laufzettel jeden Tag kopieren. Als tatsächlich der Laufzettel meines Vaters verschwunden war, konnten sie auf die Kopie zurückgreifen, die tatsächlich anerkannt wurde.
Die große Frage aber war: Wer konnte ein Interesse daran haben, sich im Notaufnahmelager Laufzettel anzueignen? Laufzettel, die auf einen Namen ausgestellt waren und von niemand anderem genutzt werden konnten? Zahlreiche Spekulationen machten die Runde, für meinen Vater jedoch stand fest: Der Bundesnachrichtendienst in Gießen war mit Stasi-Mitarbeitern durchsetzt. Tatsächlich hatte der amerikanische Geheimdienst ihn beim offiziellen Gespräch davor gewarnt, dem Bundesnachrichtendienst zu viel über die Opposition und die Ausreisewilligen in der DDR zu erzählen. Man müsse davon ausgehen, dass diese Informationen über die Stasi-Spitzel dann vermutlich nach Ost-Berlin durchgestochen wurden. Natürlich hielt das die Amis nicht davon ab, sich selbst für die Details der Staatssicherheit zu interessieren – nach Organisationsstrukturen, Namen, Orten, verwendeter Technik und Kleidung zu fragen.
Die Befragung der Mutter war ähnlich umfassend. Sie äußerte danach eine weitere Befürchtung: Für sie war es komplett einleuchtend, dass der BND mit Stasi-Spitzeln durchsetzt sein musste, denn die Laufzettel verschwanden ihrer Meinung nach immer bei jenen, bei denen ein zweites Gespräch lohnenswert für den DDR -Geheimdienst war. Und ja, auch Hannes Hauschke hatte zu einem besonderen Kreis von Menschen in der DDR gehört, eben jenen, die sich im Schatten der Kirche zusammenfanden. Er war aufgefallen, nicht nur mit seinem gelben Parka – und nach den Ereignissen um den 17. Januar mit seiner Familie regelrecht hinausgeschmissen worden. Natürlich klaute man so einem wie ihm den Zettel, um ihn erneut mit Fragen zu löchern und an Informationen zu kommen, die verwertet werden konnten. Die Vorstellung, wie die Spitzel das anstellten, ohne von ihren BRD -Kollegen dabei ertappt zu werden, ohne dass Verdacht geschöpft wurde, beschäftigte mich stundenlang.
So beobachtete ich die Eltern mehrere Abende von meinem Bett aus: Sie saßen am Tisch, und das kleine Radio, das der Vater sich vom Begrüßungsgeld gekauft hatte, lief leise. Beide hatten die Köpfe zusammengesteckt, aber das Zimmer war zu klein, ich verstand jedes Wort und fürchtete mich.
Ich begriff erst jetzt so langsam, wie viel ich verloren hatte. Meine Eltern waren zu zweit, sie trafen Freunde aus ihrem Kirchenkreis wieder, hier in Gießen. Aber ich, ich war allein. Meine Freunde, meine Großeltern, mein Bruder: Sie alle waren fortan unerreichbar für mich. Plötzlich verstand ich, welche Macht diktatorische Systeme haben, was sie zerstören und entzweien können. Und in diesem Vakuum, das zwischen neuem und altem Leben entstand, breitete sich die Angst aus. Denn die Frage, die ich mich nicht zu stellen traute: Wenn es die Leute von der Stasi gewesen waren, die den Laufzettel entwendet hatten, wie waren sie an ihn herangekommen? Hatten sie nachts unser Zimmer betreten? Es durchwühlt, während wir schliefen? Oder waren sie bei uns eingedrungen, während wir tagsüber unterwegs waren? Wenn sie sich zum Beispiel als Reinigungspersonal ausgegeben hätten: Niemandem wäre ein Verdacht gekommen. Ich bekam eine Gänsehaut und rutschte dichter an die Wand.
Dieses Gefühl habe ich nie vergessen. Und noch heute hat jede Wohnungstür bei mir einen zusätzlichen Riegel.
Ich quälte mich mit der Frage, warum wir die DDR verlassen hatten, wenn sie uns auf der anderen Seite gleich wieder im Nacken saß? In der DDR hatte ich mir wenig Sorgen um das MfS gemacht. Warum hätte sich die Staatssicherheit auch für uns, Familie Hauschke, interessieren sollen? Zumindest vor der Zeit, in der mein Vater sich in Kirchenkreisen engagierte, waren wir die denkbar durchschnittlichste Familie.
Aber hier in Gießen?
Für die Stasi waren wir Abtrünnige. Verräter. Und vermutlich nun auch Kapitalisten.
Von diesem Moment an, dem Tag, an dem der Laufzettel verschwand, war ich wachsam: Alle lächelten, das Essen schmeckte, und jeder Winkel in diesem Gebäude wurde blitzblank geputzt, was mich anfänglich tatsächlich irritierte. Denn ich kannte es nur so, dass alle mitputzten – die Eltern im Kombinat, oder gleich die gesamte Familie im FDGB -Wohnheim im Urlaub. Schon im Kindergarten hatte ich ein Lied übers Putzen gelernt, das damit endeten, dass Mutti sich freute.
Aber ich ließ mich nicht täuschen, erstmals in meinem Leben erschien mir alles verdächtig: Ich wollte nicht mehr alleine bleiben, weder im Zimmer noch im Hof. Und in die Kleiderkammer wollte ich auch nicht allein, obwohl es dort wirklich schicke Kleidung gab, und die Dame von der Ausgabe, sie hatte ein großes Herz und drückte bei mir gern ein Auge zu. Dass die Kleidung gebraucht war, fiel nicht auf. Schließlich duftete sie süßlich, einfach wunderbar.
Alles in diesem Land schien zu duften. Das Obst, der Saft, die Tintenpatronen, das Shampoo, der Supermarkt, sogar die Produkte für die sogenannte Damenhygiene – einfach alles.
Und manchmal wurde mir genau das zu viel: Jeder meiner Sinne wurde im Übermaß angesprochen, regelrecht überreizt. Die Farben erschlugen mich – beim Einkaufen, an den Häuserfassaden oder die der Autos. Und die Geräusche: Überall leise Musik, im Supermarkt, im Fahrstuhl, laufende Radios. Generell redeten die Leute in Gießen viel. Und laut. So unbefangen. Im Plattenbau hatte das Schweigen angefangen, sobald man die Wohnung verließ und das Treppenhaus hinunterging. Selbst im Fahrstuhl hatten die Eltern mir beigebracht zu schweigen. In Gießen entwickelte ich zudem eine Vorliebe für hochglänzende, glatte Oberflächen und weiche Stoffe – oft ließ ich die Finger über alles hinweglaufen.
Wenn ich ehrlich war, wollte ich alles – auf den Spielplatz, in die Bibliothek und in die Kleiderkammer. Ich wollte einkaufen, alles anfassen, unterschiedliche Stoffe auf der Haut erfühlen. Ich wollte naschen und überall hineinbeißen, ich wollte alles erschnuppern und jeden Moment genießen, aber – ich wollte all das nicht allein. Und da die Eltern von Termin zu Termin eilten, blieb ich allein. Sobald die beiden das Zimmer verließen, verriegelte ich die Tür. Nur eines machte mir Freude: meine neuen neonpinken Socken. Die hatte ich beim ersten Einkauf erbettelt. Socken aus dem Supermarkt in einem Farbton, der durchaus als grell bezeichnet werden durfte. Und während die Eltern bei den Geheimdiensten anstanden oder sonstigen Behördenkram erledigten, lag ich in meinem Stockbett, Papas Radio lief, ich schaute auf meine Füße mit den leuchtenden Socken und empfand dabei so etwas wie Trost.
Pink.
Noch heute bringt es Wärme in mein Leben.
Mein Gießener guilty pleasure .
Und dann, vier Tage nach unserer Ankunft, kam unser Flug nach Tegel. Von Frankfurt am Main. Ein gigantisches Erlebnis. Es war uns ja nicht möglich, auf dem Transitweg durch die DDR zu reisen, weder per Bahn noch mit dem Auto. Und so landeten wir in West-Berlin. Im wahrsten Sinne des Wortes. Das Klicken des Sitzgurtes werde ich nie vergessen, das Vibrieren der Maschine, als die Triebwerke zündeten. Ich hoffe, jeder Reisende hat eine Erinnerung an seinen ersten Flug, denn ich glaube, es ist ein magischer Moment im Leben. Eine Vision, wie es ist, aufzusteigen und nicht abzustürzen.
Wir kamen ins Notaufnahmelager in Berlin-Marienfelde, und die Situation ähnelte der in Gießen. Lange Gänge, viele Türen, kleine Zimmer. Eine Gemeinschaftsküche mit Terrazzoboden, ohne Herd und mit winzigem Waschbecken. Verköstigt wurden wir im Speisesaal. Von der Straße aus war die Größe des Geländes nicht erkennbar, aber nach hinten raus öffnete sich ein Hof mit mehreren Gebäuderiegeln.
Und so wurde ich einer von rund vier Millionen Menschen, die in der Zeit von 1949 bis 1990 die DDR verließen. Von 1961 bis zum Mauerfall gelangten nur rund 787 000 Ostdeutsche in die Bundesrepublik. Zahlenmäßig am bedeutsamsten waren wir, die rund 570 000 DDR -Bürger, die sich in dieser Zeit eine Ausreiseerlaubnis erstritten hatten. Ende Januar 1988 war ich einer von 1,35 Millionen Menschen aus der DDR , die in den etwas mehr als 40 Jahren, die die DDR bestand, im Notaufnahmelager im Westteil Berlins unterkamen.
Zwischenzeitlich zogen wir in ein anderes Heim in Grunewald in der Lassenstraße, das in einer Villa untergebracht war. Wir teilten dieses Gebäude mit vielen Vietnamesen. Es duftete nach Reis, den lieben langen Tag, noch heute liebe ich Reis. In allen Varianten. Meine Eltern fanden zügig eine geräumige Wohnung in Schöneberg, und so war ich bereits im April 1988 ein Teenie mit eigenem Zimmer. Kurz vor meinem 15. Geburtstag. Bei Siemens fanden sowohl meine Mutter als auch mein Vater gleich einen Job, und ich besuchte eine neue Schule. Ein Gymnasium. Das klang anders als die läppische Drohung von Direktor Schlecht, ich könne nach der Antragstellung niemals von der POS auf eine EOS wechseln. Am ersten Schultag zog ich meine Glücksbringer an. Die pinken Socken. Zu denen ich meine neuen Lackballerinas kombiniert hatte. Ich war so stolz. Bis ich bemerkte, dass ich die Blicke der anderen auf mich zog. Niemand außer mir trug mehr pinke Socken oder Lackschuhe. Erst recht nicht im Winter. Doch dann geschah etwas Wunderschönes: Eines der Mädchen dort sprach mich einfach an, sie war mir vom ersten Moment an sympathisch, und meine Freude war nahezu grenzenlos. Denn erst dieser Moment, die Aussicht auf eine Freundschaft, war der tatsächliche Anfang meines neuen Lebens in West-Berlin.
Anke holt tief Luft und lässt den Stift fallen. Wieder steht ein Sekt neben ihr. Sie nimmt einen großen Schluck. Einen sehr großen.
Damit hat sie nicht gerechnet.
Es ist kaum auszuhalten. Selbst in der Erinnerung.
Diese Einsamkeit. Wie erdrückend sie damals war. Monatelang hatte sie nicht schlafen können. Und immer wieder diese Angstattacken. All das drängt nun wieder an die Oberfläche. Wie hat sie das vergessen können? Sie schlägt das Buch zu, ein Versuch, die Erfahrungen wieder dorthin zu verbannen, wo sie zuvor gewesen sind: weit weg. Tief in ihrem Innern.