ISA,
IM JANUAR 1988

Isa trat von einem Fuß auf den anderen und zog den Schal enger um den Hals. Sie sah durch die leicht beschlagene Scheibe der Telefonzelle und beneidete Hannes. Nur widerwillig hatte sie den schwarzen, nach dem Speichel fremder Menschen riechenden Hörer an ihn übergeben. Noch Stunden hätte sie in der Telefonzelle ausharren können, der Kälte zum Trotz, um ihrem Sohn zuzuhören. Das Gespräch wurde belauscht, da machte sich keiner von ihnen Illusionen, aber es gab Momente, in denen war ein Lebenszeichen, ein kurzer Wortwechsel, mehr wert als jede Privatsphäre. Doch die Zeit hatte sie gedrängt, die Summe auf der Anzeige des Münzeinwurfs war kontinuierlich weniger geworden, und so hatte sie den Hörer irgendwann an Hannes übergeben, der in der geöffneten Tür gewartet hatte.

Irgendetwas an seiner Körperhaltung alarmierte sie plötzlich. Er hatte sich von ihr abgewandt und hielt den Kopf tiefer gesenkt, die Schultern waren hochgezogen. Sie zog nun ebenfalls die Tür zur Telefonzelle auf, so, wie er das vorhin auch getan hatte, um ihrem Gespräch mit Christian zuzuhören. Aber Hannes versuchte, die Tür wieder zu schließen. Wütend schlug Isa mit der behandschuhten Hand an die Scheibe.

Er gab ihr Handzeichen, leise zu sein, und schob die Tür einen Spalt auf, sofort schob Isa ihren Fuß dazwischen.

»Du musst dich täuschen«, hörte sie Hannes sagen. »Das kann nicht sein.« Er schwieg und hörte Christian zu.

Isa drängte sich weiter in die Zelle und konnte dennoch nichts verstehen.

Hannes reagierte gereizt und schob sie eine Handbreit von sich. »Noch mal bitte«, sagte er streng. »Wer behauptet, die Leitung sei durchgeschnitten worden?«

Isa hielt die Luft an. Sie hatte sich nicht getäuscht. Irgendetwas stimmte ganz gewaltig nicht.

»Welche Bremsen meinst du? Die Vorder- oder die Rückbremsen?«

Auf Hannes’ Gesicht lag eine Anspannung, die Isa noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Sie musste sich am Griff der Tür abstützen.

Es hörte nicht auf, nicht einmal jetzt hörte diese Verfolgung auf! Sie verfluchte sich, ihre Tochter im Aufnahmelager zurückgelassen zu haben. Anke lag mit Unterleibsschmerzen im Bett, und sie hatten ihr den Spaziergang in der Kälte ersparen wollen. Den spontanen Anruf bei ihrem Bruder würde sie ihnen übel nehmen, aber würden sie ihr davon überhaupt erzählen? Sie beugte sich wieder näher an den Hörer.

»Die Vorderbremsen!« Hannes schlug mit der Faust auf die rechts neben dem Telefon hängenden Telefonbücher. »Hast du es gesehen? Nein? Ja, leider ist die Werkstatt glaubwürdig, ich kenne den Karl Kalienke schon lange. Der interessiert sich nur für Autos, sonst nichts. Und jetzt, wo du es sagst: Ich erinnere mich, dass die Bremsen tatsächlich schlechter funktioniert haben.«

Isa wurde schwindelig. Sie trat aus der Telefonzelle, lehnte sich gegen die Seitenwand und sog die kühle Luft ein. Aber es half nichts: Ihr Magen rebellierte, Säure schoss ihr die Speiseröhre hoch. Sie sah sich hektisch um. Wenn sie sich jetzt übergeben musste – wo erregte sie so wenig wie möglich Aufmerksamkeit? Sollte sie gegen Gartenzäune kotzen? Gegen den Laternenpfahl? An den Straßenrand? Sie hielt den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen, atmete flach und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren.

Die Bremsen des Autos waren durchtrennt worden.

Wenn Christian noch länger mit dem Wagen herumgefahren wäre oder sie damit nach Magdeburg aufgebrochen wären, hätte der Wagen ihr Todesurteil werden können.

»Brauchst du einen Tee?«, fragte Hannes leise. Er stand neben ihr und hielt ihr den Arm entgegen, damit sie sich unterhaken konnte.

»Wir dürfen Anke nichts sagen!« Isa hörte das Flattern in ihrer Stimme. Irgendwann würde es das vielleicht nicht mehr geben, dachte sie kurz. Irgendwann würde sie mit fester Stimme sprechen, geradeheraus, ohne vor irgendwelchen Konsequenzen Angst haben zu müssen.

Oder?

Sie sah ihre Eltern vor sich und fürchtete mit einem Mal, die Stasi würde immer wieder Ansatzpunkte für Schikanen finden. »Also, was ist da jetzt genau passiert?«, fragte sie, während sie die Straße entlangliefen, vorbei an Einfamilienhäusern und Vorgärten im Winterschlaf. »Ich bringe die um, ich bringe die alle um, wenn die meinem Sohn ein Haar krümmen!«, schrie sie unvermittelt auf, so laut und schrill, dass sie fürchtete, die Anwohner könnten die Polizei rufen. Am liebsten hätte sie gegen den Gartenzaun neben sich getreten. Sie wusste nicht, wohin mit ihrer Angst, und so klammerte Isa sich an Hannes’ Arm.

Wieder wandte er das Gesicht ab.

Als Isa das Zucken seiner Schultern bemerkte, blieb sie stehen und schlang ihre Arme um ihn. »Es tut mir leid, ich habe Angst, ich will so nicht sein.«

Hannes wischte sich mit dem Handschuh die Tränen aus dem Gesicht und lehnte dann seinen Kopf an ihren. »Mir geht es doch nicht anders, und weil ich wusste, dass du vergehst vor Angst, habe ich die Tür wieder zugezogen. Das war Unsinn. Eher ein Reflex. Ich wollte wenigstens dich beschützen.«

Isa sah ihn an, ihr Gesicht dicht neben seinem. »Ich weiß, aber wir müssen irgendetwas tun. Wir können doch nicht hier sitzen und zusehen. Was ist, wenn sie ihn verhaften – mit irgendeinem fadenscheinigen Vorwand? Dann ist er weg, und wir wissen nicht, wo er ist. Wir müssen ihn da rausholen, ganz schnell …«

»Warte, ich …«, unterbrach Hannes sie, doch Isa schüttelte den Kopf.

»Nein, was sind das für Menschen? Wer macht so etwas? Ich verstehe das nicht! Wenn man davon überzeugt ist, die Hauschkes sind Verräter, dann ist doch alles gut: Wir wollen das Land verlassen. Dann sind sie uns los. Aber wie können sie es wagen, uns und unserem Sohn Schaden zuzufügen? Wir haben niemandem etwas zuleide getan. Was sind das für Menschen? Sage es mir!« Sie schrie inzwischen. »Haben diese Männer Familie? Haben sie Eltern, Frauen, Kinder? Wie können die nach Hause gehen und in den Spiegel schauen? Wie können die, wenn sie gerade Bremsleitungen durchschnitten haben, nach Hause gehen und ihre Lieben in die Arme nehmen? Das bekomme ich nicht in meinen Kopf. Irgendwie kann ich verstehen, dass man sein Land verteidigen möchte. Aber ich kann doch nicht ernsthaft eine vierköpfige Familie in Gefahr bringen, weil sie woanders leben möchte. Das geht doch nicht! Und gottverdammter Dreck, ich verstehe auch nicht, wie meine Eltern so ein Scheißsystem unterstützen können.«

Hannes legte seine Arme um sie, gab ihr Schutz gegen den kühlen Wind und die innere Kälte. »Ich weiß nicht, wer diese Leute sind, ich habe mich das auch oft gefragt. Ich kenne auch niemanden persönlich, der dort gearbeitet hat oder das noch macht. Aber was deine Eltern betrifft: Ich glaube, sie sehen nur, was sie sehen wollen. Sie würden es nicht ertragen, wenn sie hinschauen.«

»Das ist Selbstbetrug.« Isa zog ein Taschentuch hervor und fuhr sich über die Nase.

Hannes bot ihr erneut den Arm an, damit sie sich wieder einhaken konnte. »So kann man es sicherlich nennen. Ich glaube aber eher, es ist Angst. Sie haben etwas gewollt. Sie hatten eine Vision von einer anderen Zukunft. Und wenn sie sich davon verabschieden, müssen sie sehen, wie hässlich die Dinge sich entwickelt haben. Manchmal habe ich Angst, dass es auch uns so ergehen könnte. Im Westen. Wir fangen auch neu an und können nur hoffen, dass sich alles so fügt, wie wir uns das vorstellen. Und unsere Entscheidung war freiwillig. Die Bedingungen deiner Eltern für einen Neustart – was waren das für Zeiten? Sie hatten eine Kindheit im Krieg. Und solange deine Eltern daran festhalten, an diesem Traum, besteht für sie noch Hoffnung. Vielleicht kann doch noch einmal alles anders und besser werden. So jedenfalls stelle ich mir die dahinterstehende Logik vor. Aber das sind auch nur Mutmaßungen.«

»Ich habe sie nie danach gefragt.«

»Ich glaube, das hätte auch keinen Sinn ergeben.«

»Was geschieht jetzt mit dem Wagen?«

»Kalienke repariert ihn.«

»Und dann?«

»Wird er verkauft.«

»Und das war es dann? Die Täter kommen davon?«

»Natürlich. Zur Polizei können wir nicht. Das schafft weder Christian noch Konrad. Sie würden nur Schwierigkeiten bekommen. Und Kalienke sieht schon, dass da was faul ist. Der wird aber auch nichts sagen.«

»Hätten wir doch sofort einen Antrag für Christian stellen sollen, nachdem er aus unserem herausgefallen ist? Was ist, wenn sie ihn jetzt nicht rauslassen? Wir haben lange darüber gesprochen, auch mit ihm, und ich weiß: Wir waren uns einig, dass der Junge die Zurückdrängungsgespräche nicht überstehen würde. Und sie hätten sich ihn allein vorgenommen, ich weiß. Aber was haben wir uns gedacht, wird passieren, wenn wir ausreisen?«

»Du weißt, er hätte die Zurückdrängungsgespräche nicht ausgehalten, er wäre nicht ruhig geblieben. Wir haben darüber gesprochen, auch mit ihm. Es war richtig so. Wir haben vorausgesetzt, dass deine Eltern da sind und sich um ihn kümmern, und das machen sie.«

»Meine Eltern, denen wir kein Wort von unserer Ausreise gesagt haben.« Isa fühlte sich elend. Hannes’ Anorak raschelte, als Isa ihren Kopf dagegen lehnte. Inzwischen war sie komplett durchgefroren und müde, und übel war ihr, noch immer. »Meine Eltern sind da, und sie kümmern sich, ich weiß das.« Sie richtete sich auf und brachte Hannes auf eine Armlänge Abstand, um ihn besser ansehen zu können. »Dann rufe ich meine Mutter an, sie soll sich an irgendwelche Leute wenden, die sie kennt. Sie zieht dann irgendeinen Ministeriumsmenschen als Joker aus dem Ärmel, und der soll sich für Christian einsetzen. Ihre Kontakte reichen bis in die Führungsriege der DDR

Mit einem Mal verschattete sich Hannes’ Blick. »Ich befürchte, deine Mutter hat nicht mehr viel zu sagen. Die werden sie kaltgestellt haben, da kannst du sicher sein. Für eine ganze Weile.«

»So schnell?«

»Vermutlich.«

Nie, wirklich nie, hatte Isa für sich infrage gestellt, dass sie ein anderes Leben wollte. Nie hatte sie einen Zweifel gehegt, dass ihr das Recht auf Selbstbestimmung zustand. Und wenn sie darüber nachgedacht hatte, dass ihre Eltern im Anschluss an ihre Ausreise von der Stasi Besuch bekommen würden, hatte sie nicht einmal Mitleid empfunden. Denn in irgendeiner Form waren sie Teil dieses Systems, hatten sich damit arrangiert und in Kauf genommen, auf so vieles zu verzichten. Dazu war sie nicht bereit. Aber erstmals fragte Isa sich, ob ihre Eltern vielleicht Abstriche gemacht hatten, um ihre Tochter zu schützen?

Was war das für ein seltsamer Gedanke?

Sie hakte sich wieder bei Hannes ein und lief mit ihm weiter, dicht an dicht auf dem schmalen Gehsteig. Denn jetzt, in diesem Moment, in dem sie um die Sicherheit ihres Sohnes fürchtete, hatte sie das allererste Mal Zweifel an ihrer Vision vom Leben, dieser Vision, die das Leben ihrer Kinder massiv beeinflusste. Genauso, wie die Entscheidungen der Eltern auch ihr Leben beeinflusst hatten. Hatte sie verantwortungsvoll gehandelt? Oder egoistisch?

»Aber es gibt eine gute Nachricht.« Hannes lächelte leicht.

Isa blieb abrupt stehen. »Und warum sagst du das erst jetzt? Was ist es denn?«

»Du hast mich unterbrochen. Also, morgen ist Christian vorgeladen. Ich bin mir sicher, sie wollen ihn loswerden. Er soll zum Rat des Inneren kommen.«

»Das stimmt dich optimistisch?«

»Ja, wir fliegen morgen nach Berlin, und er ist vorgeladen. Manchmal passiert nichts und dann alles auf einmal. Morgen wird ein guter Tag, ich spüre das.«

Sie erreichten das Aufnahmelager. Gleich würde sie wenigstens Anke in den Arm nehmen können. Und dann blieb ihr nicht mehr, als auf das Beste zu hoffen.