ANKE,
IM AUGUST 2015

Anke sitzt an ihrem Esstisch. Neben sich hat sie das pinke Büchlein liegen, vor ihr steht die Kiste mit den Fotos. Die Bilder sind vom Anschauen über die Jahre schon etwas abgegriffen. Aber ihr Leben in ein Fotoalbum zu sortieren, empfindet Anke als unpassend. Sie mag es, die Vergangenheit per Zufallsprinzip zu durchforsten, und vielleicht kommen ihr hierüber noch weitere Ideen, was sie Lou erzählen kann. Sie greift nach einem Foto, auf dem ein Schlitten zu sehen ist, darauf zwei lachende Kindergesichter mit selbst gestrickten Schalmützen. Ankes erste Erinnerung an Julia stammt aus Kindergartenzeiten. Sie kann das wohlige Gefühl, das sie immer spürte, wenn Julia bei ihr war, noch immer abrufen. Von Anfang an waren sie beide unzertrennlich. Sie versanken gemeinsam im Spiel, beim Essen saßen sie nebeneinander auf den kleinen Kindergartenstühlen, an der Schaukel standen sie miteinander an. Sie gaben sich Anschwung, solange die Erzieherinnen nicht hinschauten. Anke sieht noch heute in aller Schärfe Julias Beine in Strumpfhosen zum Himmel fliegen, spürt in ihren eigenen Händen das kalte Metall der Stangen, an denen sie sich festhält. Sie hört ihr gemeinsames Lachen und Julia, die irgendetwas ruft, das der Wind verschluckt.

Sie schiebt die Kiste und das Büchlein beiseite und zieht den Laptop zu sich heran. Julia Dobritzky tippt sie und hofft, dass die frühere Freundin nicht geheiratet, und wenn doch, zumindest ihren Nachnamen behalten hat.

Gleich das dritte Bild zeigt eine erwachsene Version von Julia. Es ist interessant, denkt Anke, wenn man Menschen jahrzehntelang nicht gesehen hat und dann erkennt, wie sie sich entwickelt haben. Auf der Straße hätte sie Julia nicht wiedererkannt, in ihren Erinnerungen hat die Freundin noch immer zwei Seitenzöpfe. Das Gesicht ist voller, ihre Haare sind dunkler, die Sommersprossen unter Make-up verschwunden. Als sie das letzte Mal miteinander von der Schule aus nach Hause gelaufen sind, waren sie 14 Jahre alt.

27 Jahre sind seither vergangen, in denen sie nichts voneinander gehört haben. In Anke regt sich das schlechte Gewissen, dass sie Julia auch nach dem Mauerfall nie kontaktiert hat. Warum eigentlich nicht?

Ein Klingelschild erscheint vor ihrem inneren Auge.

Wegert. Mit Kugelschreiber auf Papier geschrieben, sauber zugeschnitten und über den darunterliegenden Namen geklebt.

Eine Tür, die einmal die eigene Wohnungstür war, wird geöffnet und abrupt wieder zugeschlagen.

Es rumst, so laut, dass der Widerhall im Treppenhaus zu hören ist. Das war er, ihr einziger Anlauf, sich aktiv der Vergangenheit zu stellen. Als Teenie. Unüberlegt und getrieben vom Heimweh. Ihren Plan, der auch beinhaltete, im Anschluss Julia zu besuchen, hatte sie fallen lassen. Sie hatte an dem Tag keine Kraft mehr gefunden. Auch nicht in den Tagen und Wochen danach. Wochen, aus denen Monate und Jahre wurden.

Anke reißt den Kopf in die Höhe, zieht die Luft ein und schiebt das Bild beiseite.

Julia, jetzt geht es um Julia, nicht um die Wegerts, ermahnt sie sich und klickt das Mail-Symbol an. Sie schreibt der Freundin eine Nachricht an die Arbeit, eine Literaturagentur. Erstaunlich, was für Wege das Leben schreibt. Damals hat Julia sich nur für Comics interessiert, aus dem Westen. Und die wurden nur selten im Freundeskreis weitergereicht, weil man entweder Angst hatte, sie nie zurückzubekommen, oder weil man Sorge vor Ärger hatte, wenn man so etwas in Umlauf brachte. Soweit sie sich erinnert, hat Julia so gut wie nie gelesen, zumindest nicht freiwillig.

Lange ist es her.

Knappe zehn Minuten später hat Anke bereits eine Antwort. Julia schlägt vor, sich zu treffen, in einem Café im Prenzlauer Berg.

Drei Tage später sitzt Anke an einem wackeligen Tisch auf dem Bürgersteig, mit Blick auf die Winsstraße. Es ist warm, und vor ihr steht eine hausgemachte Zitronenlimo mit frischen Pfefferminzblättern und Eiswürfeln. Das Angebot auf der Speisekarte ist vegetarisch, das Mobiliar des Ladens macht auf Vintage, und kein Tisch ist, so vermutet Anke anhand der klebrigen Flecken, seit einer Woche mit dem Lappen abgewischt worden. Dafür sind die Preise fast doppelt so hoch wie in Charlottenburg. Sie selbst wohnt in einer Seitenstraße des Ku’damms, in einem Nachkriegsbau. Aber wer interessiert sich noch für den Ku’damm? Außer den Russen, die sich in den schicken Altbauwohnungen rund um den Stuttgarter Platz niedergelassen haben. Charlottengrad, sagen die Berliner mit ihrem unverwechselbaren Charme. Seltsam, dass die Russen immer noch so nah sind, dass sie mich, zumindest in einem übertragenen Sinn, begleitet haben, denkt Anke. In ihrer ersten West-Berliner Klasse waren es Weißrussen, die ebenfalls geflüchtet waren.

Als Julia angeradelt kommt, erkennt Anke sie schon aus der Ferne. Eine inzwischen kräftige Frau, eine Mischung aus sportlich und mütterlich, ihr halblanges Haar lugt unter einem schwarzen Fahrradhelm hervor. Alles an ihr lässt darauf schließen, dass es ihr finanziell gut geht. Sie trägt die gängigen Marken, die derzeit im Prenzlberg angesagt sind, ein iPhone baumelt an einer Schnur um ihren Hals. Sie springt vom Fahrrad, schließt es an einem der Bäume an, nimmt ihren Rucksack, der aussieht, als hätte sie ihn einem Fahrradkurier entwendet, und kommt auf Anke zu. Während sie sich auf den Stuhl neben ihr fallen lässt, zerrt sie sich den Helm vom Kopf. Legt ihn auf dem klebrigen Tisch ab und mustert Anke. »Du hast dir Zeit gelassen.« Ein nüchterner Ton.

Anke schluckt. Das kann schwierig werden, denkt sie, wenn das Gespräch gleich so, ganz ohne Begrüßung und gleich mit einem Vorwurf, beginnt. »Ja, da hast du recht. Danke, dass du trotzdem gekommen bist. Wie geht es dir?«

Julia ordert eine Johannisbeersaft-Schorle und einen veganen Rüblikuchen. Als sie sich Anke wieder zuwendet, ist ihr Blick kühl. Es gibt keinen Zweifel, dass sie nicht daran interessiert ist, von sich zu erzählen oder zu erfahren, wie es ihrer Freundin aus Kindheitstagen geht.

Sie ist hier, um eine Abrechnung vorzunehmen, durchfährt es Anke. Zu gern würde sie aufspringen und gehen.

Aber Julia legt schon los: »Und du meinst allen Ernstes, wir treffen uns jetzt hier und Schwamm drüber, und alles wird gut? Du hast mir damals diesen Scheißvogel vor die Tür gestellt, ohne einen Zettel, ohne einen Abschiedsbrief. Nichts, kein Wort. Du hast dich nach dem Mauerfall nicht gemeldet, nicht einen Brief geschrieben, in all den Jahren.

Kein Wort mehr.

Funkstille.

Du bist einfach abgehauen, in den goldenen Westen, und mit einem Mal war ich dir nicht mehr gut genug. Ich hätte mich so gefreut, wenn du mir eine zerfledderte Bravo geschickt hättest, oder ein paar Aufkleber, irgendetwas. Eine olle Karte, einfach ein kleines Zeichen, dass du noch an mich denkst, damit ich sehe, dass du nicht einfach nur deinen Vogel bei mir abstellst. Ich verstehe, dass du der DDR den Rücken kehren musstest, weil deine Eltern wegwollten, aber du hast auch deinem Vogel und mir den Rücken gekehrt.«

Es ist ein Schlag ins Gesicht.

Mitten in die Fresse.

Und das soll es auch sein.

Mit einem Mal fröstelt Anke. »So habe ich das noch nie gesehen«, sagt sie lahm.

»Meine Eltern hatten überhaupt keinen Bock auf diesen Vogel«, fährt Julia unerbittlich fort. »Das heißt, ich habe die ganze Arbeit allein gehabt. Weißt du, wie aufwendig das ist, wenn man so einen Käfig reinigen muss, ohne Erfahrung zu haben? Weißt du, wie nervig das ist, wenn man von seinen paar Groschen Taschengeld das Futter alleine bezahlen darf? Für ein Vieh, das mich jeden Tag daran erinnert hat, dass du mich hast fallen lassen wie eine heiße Kartoffel?«

»Wir mussten überstürzt aufbrechen, es waren nur wenige Stunden … Ich hatte keinen Zettel geschrieben, weil ich gehofft habe, dass wir uns noch sehen.«

»Du hättest mir danach schreiben können.«

Sie schweigen. Gut gelaunte Touristen laufen auf dem engen Bürgersteig an ihnen vorbei, die Handys in der Hand. Menschen aus einem Land, das sehr wahrscheinlich nie geteilt war.

»Oder du hättest dir – wenigstens jetzt – die Mühe machen können, mir vorzulügen, dass du mich angeschrieben hast, seitenlange Briefe mit ausführlichen Erzählungen von deinem neuen Leben im Luxus, Zeilen, in denen du mir aber auch versicherst, wie sehr du mich vermisst. Und dass du nicht verstehst, warum die Post nie angekommen ist. Dass sie abgefangen wurde oder so.«

Anke starrt auf ihr Glas, Feuchtigkeit hat sich außen abgesetzt, die Eiswürfel sind geschmolzen.

»Und ich habe mir am nächsten Tag fast in die Hose gemacht vor Angst, wieder in die Schule gehen zu müssen. Berechtigterweise. Denn mit einem Mal war ich die Freundin der Anke Hauschke, die rübergemacht hat. Niemand hat dich auch nur mit einem Wort erwähnt, zumindest von den Lehrern. Nichts hat von einem Tag auf den anderen noch daran erinnert, dass du mal Teil der Klasse warst. Aber natürlich wollten die anderen in der Pause von mir wissen, ob ich gewusst habe, dass du von heute auf morgen gehst. Was sollte ich denn sagen? Scheiße, Anke, das war einfach scheiße.«

Julia beugt sich vor und zwingt Anke damit, sie anzuschauen.

»Ich habe mir irgendwas zusammengelogen, denn gewusst habe ich es ja nicht, dass du so plötzlich weg sein wirst. Ja, du hattest gesagt, du würdest irgendwann gehen. Aber einfach so? Keiner wollte glauben, dass es mich selbst überrascht hat, keiner. Also habe ich dich als Verräterin hingestellt, denn ich wollte weiterhin zur Klasse dazugehören. Wenn ich zurückschaue, finde ich mich selbst abstoßend. Aber was sollte ich auch sonst tun, verdammt noch mal? Trotzdem haben viele Mitschüler wochenlang einen Bogen um mich gemacht, vermutlich, weil sie zu Hause Druck bekommen haben, dass man mit so einer wie mir nichts zu tun haben will. Mit einem Mal war ich in Sippenhaft – mit der Opposition, diesen Kirchenfreaks, mit weiß Gott wem. Was hatte ich denn mit euch und eurer Scheißausreise zu tun? Gar nichts, aber das hat niemanden interessiert.« Julias Stimme wird schrill. Sie zeigt mit dem Finger auf sich selbst, scheint ihn sich in den Brustkorb zu bohren. »Es war wichtig, das Exempel zu statuieren. An mir. Um allen zu sagen: Freundschaft mit Ausreisewilligen lohnt sich nicht.«

Anke spielt mit dem Ring am Zeigefinger. Sie blinzelt. »Julia. Es war … es ist auch für mich nichts, was ich mir gewünscht habe. Dieser Tag, als wir wegmussten, das war … das war auch für mich total unwirklich. Und ich konnte mir damals nicht vorstellen, was unsere Ausreise für euch bedeutet hat. Mir tut es so leid. Aber es war nicht so, dass man in den Westen geht, in Saus und Braus lebt und alles vergisst. Ja, ich hatte eine glückliche Kindheit in Ost-Berlin, aber …«

Julia isst ihren Kuchen nun zügig, trinkt Schorle nach, und Anke begreift, dass sie gleich nach der Rechnung fragen und gehen wird. »Ich übernehme das«, sagt sie müde, »wenn du aufbrechen willst, dann mach das.«

Julia schaut vom Teller auf, ihr Blick ist ruhig. »Ja, ich werde jetzt einfach gehen. Grußlos. Ich werde dir keinen Zettel hinlegen, ich werde dir keine Karte schreiben, und ich werde mich nicht mehr bei dir melden, falls du mich noch einmal anschreibst.« Sie steht auf, lässt Anke mit der halb getrunkenen Schorle und dem Teller zurück, auf dem noch vereinzelte Krümel liegen.

Als Julia außer Sichtweite ist, lässt Anke die Tränen laufen. Still, ohne ein Zucken oder Schluchzen.

Sie sitzt am Tisch, den Blick auf die Winsstraße gerichtet, und sieht nichts. Außer den leuchtend gelben Kanarienvogel in Julias Zimmer, in einem verdreckten Käfig.

Ihre kleine geliebte Susi.

Einsam und verlassen wie ihre Freundin Julia.

Anke zerreißt es das Herz.

Noch einmal.

27 Jahre später.