19 Tage hatte sie auf diesen Augenblick gewartet. Fast drei Wochen. Drei Wochen, in denen kaum mehr geschehen konnte, als es bei ihnen der Fall gewesen war. Isa sah im Laufen durch die Glasfassade des Tegeler Terminals die PanAm-Maschine, in der ihr Sohn saß, über das Flugfeld rollen und wusste, dieses bevorstehende Wiedersehen mit ihm würde zu der Handvoll der wichtigsten Augenblicke ihres Lebens gehören.
Kurz ließ sie ihren Blick schweifen. Ob sie beobachtet wurden? Und wenn ja – spielte es eine Rolle?
Nein!
Und wenn sie hier fertig waren, dann würde sie in einen drospa gehen und die Drogerie leerkaufen, zumindest ein bisschen. Sie würde ein Päckchen für Kerstin packen. Voll mit Schminke, Badeschaum und Eau de Toilette. Sie würde es ihr schicken und in den kommenden Tagen zusätzliche Karten nachsenden, um ihr vom Päckchen zu erzählen. Nicht, dass es wie so häufig im Nirgendwo verschwand.
Sie folgte Hannes und Anke zu dem Ausgang, aus dem ihr Sohn demnächst herauskommen würde. Ihr Blick verweilte auf dem dunklen Haar ihres Mannes. Die Hochzeit hatte damals ihre Chance erhöht, die Berechtigung für eine Wohnung zu erlangen. Ein Verwaltungsvorgang, der erledigt werden musste, der aber nichts damit zu tun gehabt hatte, wie glücklich sie gewesen waren. Der Tag, an dem sie Hannes kennengelernt hatte, war ihr rückblickend weit wichtiger als dieser Ausflug aufs Standesamt. Sein erster Kuss, die erste Nacht in der gemeinsamen Wohnung, das waren unvergessliche Augenblicke gewesen. Auch Christians Geburt zählte dazu, hatte sie aber an ihre Grenzen gebracht. Fast 17 Stunden Wehen hatten ihren Körper förmlich auseinanderbersten lassen und sie in einen Zustand gebracht, den sie rückblickend als zwischen den Welten empfand. Nicht gestorben, aber verwüstet, und weit entfernt von diesem Glücksgefühl, das ihr versprochen worden war: die selig lächelnde Mutter, die ihr Kind hält und ihm die Stirn küsst. Sie hatte es getan: ihn gehalten und geküsst, dabei aber befürchtet, hinwegzugleiten – in eine Bewusstlosigkeit, die auf reiner Erschöpfung beruhte. Erst viel später, zu Hause in ihrem Doppelbett, hatte sie neben dem Kind gelegen und begriffen, dass dieser Junge das Beste war, was sie bisher geschaffen hatte. Als sie mit Anke schwanger gewesen war, hatte sie gefürchtet, dass sich dieses Gefühl vielleicht nicht wieder einstellen würde. Und dann war die Geburt so viel friedlicher und einfacher verlaufen, und sie hatte den versprochenen Glücksrausch erlebt. Wenn sie im Alter auf die wichtigsten Momente in ihrem Leben zurückschauen würde, waren sie mit Hannes und vor allem mit ihren Kindern verbunden. Tatsächlich hatte sie bei beiden kurz nach der Geburt den Eindruck gehabt, Weltwunder vollbracht zu haben, und sie hatte nicht eine Sekunde lang gezweifelt, ob diese Worte und Gedanken zu groß oder zu pathetisch sein könnten. Und es gab diesen einen Augenblick in ihrem Leben, in dem sie nur bei sich gewesen war, der nur mit ihr selbst zu tun gehabt hatte, auch wenn er ihre gesamte Familie betraf. Es war die Sekunde, in der sie begriffen hatte, dass der Zug Oebisfelde verlassen, die Grenze passiert und tatsächlich den Westen erreicht hatte.
Dass sie in Sicherheit waren.
Sie hatte gejubelt und geschrien wie nie zuvor und auch danach nie wieder. Nicht einmal im Kreißsaal hatte sie es gewagt, sich derart gehen zu lassen. Sie hatte fremde Menschen umarmt, abgeküsst und war durch den engen Gang des Zuges getanzt, die Arme in die Luft gerissen, mit schwingenden Hüften. Sie hatte den Kopf in den Nacken geworfen, gelacht und gleichzeitig geweint. Und dann hatte sie zu singen begonnen, es waren die Zeilen des Liedes »Langeweile« der Band Pankow gewesen, die mit einem Mal zu ihrer Wahrheit wurden: Ja, auch sie hatte jahrelang die alten Männer der DDR -Riege viel zu wenig hinterfragt. Aber damit war es nun vorbei.
Eine Fremde war vor ihr stehengeblieben, um mitzusingen, mehrmals hatten sie die Zeilen mit fieberglänzenden Augen wiederholt.
Und wenn sie um ihr Leben schreiend – von Singen wollte sie nicht sprechen – eines gewusst hatte: Ein »zu lange« würde sie nie wieder hinnehmen. Sie hatte die DDR verlassen, und ab jetzt würde alles anders werden. Sie würde eine andere werden. Mutiger. Tatkräftiger. Noch im Zug hatte sie sich geschworen, sie würden Christian nachholen, mit allen Mitteln und so schnell wie möglich. Die Kraft, die sie in diesem Moment verspürte, hatte sie selbst erstaunt, weil sie erst da begriffen hatte, wie stark sie war. Ja, sie hatte sich verstellt und angepasst, aber sie hatte sich nicht gebeugt. Niemandem gegenüber. Sie hatte ihren Weg gemacht. In ein neues Leben. Der 19. Januar 1988 war ein Tag gewesen, der ihr Leben in ein Vorher und ein Nachher getrennt, einer, der alles verändert hatte.
Ein Flugzeug startete, und der Lärm riss Isa aus ihren Gedanken. Zwei Kinder rannten auf den Ausgang zu, stießen spitze Schreie aus, umarmten eine Frau.
Isa sah sich um. Wie lange warteten sie schon? Wo war Anke? Sie stand eine Armlänge entfernt neben ihr, und Isa legte den Arm um die Schultern der Tochter. Die rutschte sofort in ihre Armbeuge, und so standen sie beide da und starrten auf den Gang vor ihnen.
Und da war er. Endlich. Ganz langsam kam Christian auf sie zu. Hannes trat neben sie und legte seinen Arm um ihre Schultern. Sie war dankbar, er gab ihr Halt, mal wieder. Denn dieses Mal implodierte das Glücksgefühl in ihr. Machte sie schwach, die Beine wackelig, den Atem dünn. Obwohl sie seit Tagen gewusst hatte, dass ihr Sohn in Gießen und in Sicherheit war, wäre sie gern sofort aufgebrochen, um ihn in die Arme zu nehmen. Sie hatte die Kraft gefunden, tagelang abzuwarten und lediglich mit ihm zu telefonieren. Sie hatte für ihn sogar die abgestandene Luft der nach Pisse stinkenden Telefonzelle ausgehalten. Aber jetzt fehlte ihr jegliche Geduld, und Kraft hatte sie erst recht keine mehr, ganz gleich, wie stark sie war. Das Warten war eine Last, die auf ihren Schultern lag und schmerzte – mal leise sirrend, mal zentnerschwer, aber sie war immer da. Der Anblick des verwuschelten Haarschopfes, der sie so sehr an den seines Vater erinnerte, und sein verschmitztes Grinsen – sie hätte vor Glück zerspringen mögen.
Christian kam weiter den Gang entlang, mit ruhigem, sicherem Schritt. Er trug eine Jacke, die sie nicht kannte, eine aus Jeansstoff mit dunklen Ledereinsätzen, passend dazu eine Stonewashed-Jeans und dunkle Schuhe. Er hatte eine Reisetasche über die Schulter geworfen, die Hand erhoben und Zeige- und Mittelfinger zum Victoryzeichen ausgestreckt.
Und noch einmal zerbarst in Isa alles, und sie verstand: Jetzt erst war alles gut.
Anke riss sich von ihr los, rannte ihm entgegen und versank in seiner Umarmung.
Isa spürte, wie Hannes sie fester an sich zog: Auch ihn traf dieser Anblick bis ins Mark.