So entspannt die Telefonate mit Henning auch gewesen waren und so spontan die Idee entstanden war, ihn zu besuchen, so schwierig erscheint ihr nun der Anfang. Lou sitzt wieder einmal auf einer Couch, nicht mittig wie bei ihrer Oma, sondern in eine Ecke gerutscht, an die Lehne gedrückt. Auf einer Couch in Rheinland-Pfalz.
Im Sessel, seitlich neben ihr, thront Marietta, und für sich selbst hat Henning einen Stuhl herangezogen, auf dem er seltsam aufrecht sitzt. Die Hände hat er auf dem Schoß gefaltet, vor ihm auf dem Couchtisch liegen zwei Leitz-Ordner. An der Wand hängt tatsächlich eine Uhr mit Pendel. Sie tickt sehr laut.
Den gestrigen Nachmittag haben sie damit zugebracht, sich zu beschnuppern, ein Gefühl dafür zu bekommen, auf was für ein Abenteuer sie sich da eingelassen haben. Zuerst haben die beiden ihr ein Zimmer zur Verfügung gestellt, und dann, als sie im Garten saßen, langsam begonnen, Fragen zu stellen. Sehr viele. Zu ihrem Studium, der WG , zu ihren Piercings. Irgendwann waren sie schließlich auf die anderen Frauen der Familie zu sprechen gekommen, zu jeder einzelnen hatten sie Fragen. Es war erschreckend, wie wenig Henning eigentlich wusste. Später hatte Marietta mehrere Fotoalben geholt, und Lou hatte alles über die beiden Söhne, die Schwiegertöchter und jeden der fünf Enkel erfahren. Es hatte sie erschüttert, wie groß die Familie eigentlich war, wenn man das so sehen wollte.
Sie hatte einen Eindruck vom Haus und dem Garten bekommen, und am Abend hatten sie einen Spaziergang durch das beschauliche Dorf mit seinen Fachwerkhäusern gemacht, an dessen Rand die beiden lebten. Eine hübsche Gegend, grünhügelig, von Weinbergen umgeben.
Der Anblick des kleinen Hauses bei der Rückkehr nach dem Spaziergang hatte Lou berührt, denn dieses Mal hatte sie es bewusst wahrgenommen: ein Haus ganz ohne Fachwerk, eher praktisch geplant, altmodisch auf eine beschauliche Art. Sie lässt noch einmal unauffällig den Blick durchs Wohnzimmer schweifen. Es wirkt, als wäre die Zeit vor gut 30 Jahren stehengeblieben, liebevoll konserviert, und Neues war nur hinzugefügt worden, wenn es unbedingt nötig gewesen war. Das Haus ist mit Teppichen ausgelegt, sogar auf der Treppe, und vor jedem Fenster hängen Gardinen, alle mit blütenförmigen Spitzen, darüber meist gemusterte Vorhänge, die nicht dazu gedacht sind, jemals geschlossen zu werden. Die Schrankwand ist ein Prachtstück des Gelsenkirchener Barocks. In der Küche hat sie Porzellangänse mit blauen Bändern um den Hals entdeckt, die vermutlich seit den späten Achtzigern, vielleicht auch frühen Neunzigern auf den Oberschränken sitzen und ihre Köpfchen in die Höhe recken. Für einen Moment hat sie überlegt, ob Marietta regelmäßig den Tritt holt, hinaufklettert und diese Viecher abstaubt. So muss es sein, denn sie sind spiegelblank poliert. Der Kühlschrank ist zugeklebt mit Magneten aus verschiedenen Ländern, die dazu dienen, krakelige Kindermalereien festzuhalten. Vieles in diesem Haus, das an einem Waldrand im Nirgendwo steht, inmitten einer gefälligen Landschaft hügeligen Grüns, erinnert Lou an die Wohnungseinrichtung von Elisabeth und Konrad.
Heute ist das Wetter schlechter, und nach dem Frühstück haben sie auf der Couch Platz genommen. Nur die beiden Leitz-Hefter zeigen, dass Henning und Marietta sich auch für den heutigen Tag Gedanken und vermutlich einen Plan gemacht haben.
Hennings Flucht ist für Lou, auch wenn er das Thema bisher nur kurz angeschnitten hat, ein Ausbund an Mut. Aber all das, was sie um sich herum sieht, steht im seltsamen Gegensatz dazu. Hier wohnt ein Mann, der jahrzehntelang ein Leben geführt hat, das unauffälliger kaum sein konnte: ein Optiker und seine Frau, die Schulsekretärin. Lou nimmt an, dass genau das sein Ziel war – unbehelligt mit Marietta zusammen sein zu können. Dieser Mann entstammte einer Generation, die kurz nach dem Krieg ins Leben gestartet war. Einer Generation, in der Arbeit, Ehe, Kinder, Schrankwand, Auto und Jahresurlaub im sonnigen Süden das große Los gewesen waren. Genauso, wie es hier abzulesen ist.
Für einen Moment kommt Lou sich arrogant vor. Die Berliner Studentin in Rheinland-Pfalz, ein Wort, das schon nach Altkanzler Kohl klingt, unsexy halt, so nach letztem Jahrtausend …
»Warum du?«, unterbricht Henning ihre Gedanken.
Lou drückt den Rücken durch. »Was meinst du damit?«
»Warum kommst du? Warum nicht deine Mutter, deine Großmutter oder Elisabeth selbst? Warum bist du die Erste, die hier auftaucht und Fragen stellt?«
»Vermutlich, weil das meine Aufgabe ist. Oder? Das ist es doch, was man von den Jungen erwartet: die kritische Auseinandersetzung mit den vorherigen Generationen. Um es dann vielleicht besser zu machen? Die Altlasten nicht mitzuschleppen?« Sie zuckt mit den Schultern.
»Das hätten dann aber auch deine Großmutter oder deine Mutter erledigen können.«
»Guter Punkt. Ich habe schon viel darüber nachgedacht, warum sie sich eigentlich nie damit auseinandergesetzt haben. Vielleicht liegt es daran, dass sie so nahe dran sind? Sie alle sind ja aufgewachsen in Systemen, in denen das freie Wort nicht unbedingt gefördert wurde. Wenn man es genau nimmt, bin ich die erste Generation in unserer Familie, die in einem freien Land aufwächst.«
»Dich hat also nicht Elisabeth geschickt?«
Lou blinzelt irritiert. Da ist es wieder, dieses seltsame Muster. In dem Moment erkennt sie es, weit weg von Berlin, weit weg vom Osten, tief im Westen. Auch Henning trägt dieses Misstrauen in sich. Auch er vermutet hinter jeder klar erkennbaren Handlung noch eine zweite, eine unsichtbare. Auch er fühlt sich latent bedroht, selbst noch Jahrzehnte später. Und immer ist die Bedrohung konkret, ganz nah. Direkt im Umfeld verborgen.
Wie hatte Isa es genannt?
Die Falle.
Immer wurde noch irgendwo eine Falle, eine Hinterlist, ein letzter vergifteter Gruß vermutet.
»Nein, ich komme aus eigenen Stücken. Weil ich, ehrlich gesagt, erschüttert war: Niemand, wirklich niemand aus der Familie hat jemals auch nur ein Wort über dich fallen gelassen.«
Abrupt senkt Henning den Blick.
Und Lou verflucht sich sofort dafür. Was maßt sie sich da an? »Ich – ich glaube nicht, dass sie nicht über dich reden wollten , das weißt du sicherlich. Nein, ich glaube, sie können es schlichtweg nicht. Sie haben es nie gelernt, und vielleicht fehlt ihnen auch einfach der Mut«, schiebt sie hastig hinterher. »Aber wie ist das denn bei euch, sprecht ihr viel von deinen Verwandten? Von deiner Kindheit und Jugend im Osten? Wie viel«, sie zeigt auf die Familienfotos, »wissen denn zum Beispiel deine Enkel? Und warum bist du nicht viel früher mal nach Berlin gekommen?«
Sie bemerkt, dass Mariettas Augenbrauen in die Höhe springen. Lou ahnt, dass sie sich gerade auf sehr dünnem Eis bewegt.
Tatsächlich verschränkt Henning die Arme vor der Brust und schaut sie grimmig an. »Du bist aber nicht hergekommen, um mich zu verhören, oder? Hier den Müll abzuladen, den du bei deinen lieben Verwandten in Berlin nicht loswirst?«
»Eigentlich möchte ich nur Antworten.«
»Elisabeth«, sagt Henning unvermittelt, wobei seine Stimme für einen Moment weich wird. Dann fixiert er Lou. »Du weißt schon, dass sie ein Flintenweib war, oder?«
»Was war sie?«, fährt nun Marietta dazwischen und setzt sich auf. Ihre kinnlangen Locken fliegen umher, sie wirkt mit einem Mal sehr energisch.
»Ein Flintenweib!« Henning klingt plötzlich bockig. »So haben wir die besonders roten Weiber genannt.«
»So hast du deine Schwester noch nie bezeichnet, und damit brauchst du jetzt auch nicht anzufangen.«
»Sie war geradezu besessen von der sozialistischen Idee, dieses Redenschwingen von einer besseren Gesellschaft, schlimm war das. Die haben sich da ein Traumland aufbauen wollen, völlig utopisch. Dabei haben wir schon ganz schnell gewusst, sicher schon in den Fünfzigern, dass das niemals gelingen würde.«
Lou runzelt die Stirn. »So früh war euch das klar?«
»Natürlich! Die Stasi war ja schon damals sehr aggressiv unterwegs. Bereits direkt nach der Gründung der DDR musstest du schon aufpassen, was du sagst. Mit einem besseren Leben und der großen Freiheit hatte das alles nichts zu tun. Sogar Hinrichtungen gab es, wusstest du das? Und die meisten davon fanden in den 50er-Jahren statt. Im Übrigen lange Zeit mit dem Fallbeil, erst Ende der 60er-Jahre ging man zum Erschießen über. Das nannte sich dann ›unerwarteter Nahschuss‹. Den Letzten haben sie 1981 in der DDR mit so einem Schuss erledigt.«
Lou spürt, wie sich ihre Nackenmuskulatur verkrampft. Dieser Mann hat seine Ausführungen mit Elisabeth begonnen und ist beim Thema Erschießungen herausgekommen. Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, herzukommen? Vielleicht ist auch er besessen, obwohl er das eher seiner Schwester vorwirft? »Ich weiß nicht«, setzt sie zögerlich an, »was Elisabeth über Hinrichtungen wusste oder weiß, aber …«
»Das wusste jeder.«
»Henning, nun reiß dich mal zusammen. Du weißt doch gar nicht sicher, was Elisabeth wusste und was nicht.«
Sonst sind Lou Ehepartner zuwider, die einander in aller Öffentlichkeit maßregeln. Aber in diesem Fall ist sie Marietta dankbar, diesem grantelnden Besserwisser nicht allein gegenüberzusitzen.
Wieder zieht Henning ein bockiges Gesicht, schweigt aber. Lou kann heute an seinem Kinn silbergraue Bartstoppeln ausmachen. Im Gegensatz zu Hannes und Konrad hat er noch erstaunlich dichtes Haar, ebenfalls in einem hellen Grauton. Die beiden Männer in Berlin beeindrucken eher mit Haarwuchs in Nase, Ohren und Nacken.
Vorsichtig wagt Lou sich vor: »Ich hatte bisher immer den Eindruck, für Elisabeth war vor allem der Gedanke wichtig, dass Frauen endlich ein freieres Leben führen können, wenn man ihre Bildungschancen erhöht. Sie konnten ja in der DDR offenbar viel mehr Einfluss nehmen auf das gesellschaftliche Leben als die früheren Generationen, weil sie beispielsweise arbeiteten.«
Henning lacht auf. »Die Förderung von Bildung der Arbeiterschaft, das hat auch schon Hitler vorangetrieben. Aber es war auch so wenig seine Idee, wie es eine war, die in der DDR geboren wurde. Seien wir doch mal ehrlich: Die DDR hat die Arbeitskraft der Frauen gebraucht, ansonsten haben sie sich für Frauenrechte und deren Teilhabe wenig interessiert. Das war ein durch und durch patriarchaler Haufen.«
Tatsächlich ist Lou einen Moment sprachlos. Sie hat Elisabeth jedes Wort geglaubt: Frauen sind in der DDR besser behandelt und mehr wertgeschätzt worden als im Westen. In der BRD mussten die Frauen ja noch bis 1977 ihre Ehemänner um Genehmigung bitten, wenn sie arbeiten wollten. Und sie durften es auch dann erst, wenn es mit den Pflichten der Frauen in Ehe und Familie vereinbar war.
»Ich weiß, was du denkst.« Marietta blickt sie ruhig an. »Tatsächlich war die Frau in der DDR früher rechtlich bessergestellt, da gab es viele Beispiele. Aber wenn du genau hinschaust, wirst du sehen, dass auch im Osten in den wirklichen Entscheidungspositionen kaum Frauen saßen.«
Lou schaut sie irritiert an. Marietta ist doch im Westen geboren? »Woher weißt du das?« Die Frage entschlüpft ihr. Lou spürt darunter selbst die Verwunderung, warum eine alte Frau, die im Nirgendwo lebt, in einer klassischen Ehe auf Lebenszeit, so bewandert ist in diesem Thema.
»Meine Mutter hat gleich Anfang der 50er-Jahre die Uckermark verlassen. Sie wollte keine Kinder, und als Frau keine Kinder zu bekommen, galt in der DDR als egoistisch. Sie hoffte in Berlin auf mehr Anonymität, und da sie gern Swing hörte, landete sie in Zehlendorf, das zum amerikanischen Sektor zählte. Nur das mit dem ›keine Kinder bekommen‹ – du siehst es ja, das hat mäßig geklappt.« Marietta grinst. »In Berlin hat sie schnell begriffen: Du hattest als Frau auch im Westen kaum eine Wahl. Als die 68er-Revolution losging, war sie immer mit dabei, obwohl sie um einiges älter war. Sie hat im Kinderheim gearbeitet und dort viel erreicht. Ich glaube, sie war auch auf jeder Frauen-Demo zu der Zeit. Was ich sagen will: Im Westen durfte sie wenigstens ihre Meinung äußern. Und ich, ich habe das alles mit der Muttermilch aufgenommen.«
Mit einem Mal ist Lou müde. Sie hat sich gut vorbereitet auf dieses Gespräch, hat stundenlang recherchiert, über die Rolle der Frau in der DDR , über die Teilung, über den Mauerbau und dessen heimliche Planung – und darüber, wie hoch wohl die Wahrscheinlichkeit war, dass Elisabeth doch davon gewusst hat. Denn nach dem Gespräch mit Konrad wollte sie nicht noch einmal so überrollt werden. Und sie kennt Interviewsituationen. Zumindest mit Menschen, die über ihren Beruf reden, strukturiert und auf ein Kernthema fokussiert. Aber das hier ist weit entfernt von alledem. Es ist ein Parforceritt durch die jüngere deutsche Geschichte – und gleichzeitig durch vier Generationen ihrer Familie.
Mit einem Mal hat sie das Gefühl, nichts mehr zu wissen – weder über ihre Familie noch über die BRD oder die DDR . Ohne zu überlegen, tritt sie die Flucht nach vorne an: »Gut, ich bin sicher, es gibt viele Dinge, die ich nicht weiß. Wenn es euch nicht stört, würde ich jetzt gerne mein Diktiergerät anschalten und unser Gespräch aufnehmen. Das wird inhaltlich vermutlich sehr vielseitig, und ich möchte die Möglichkeit haben, später noch einmal reinzuhören, um darüber nachzudenken. Ist das für euch in Ordnung?«
»Wenn du mir versprichst, dass das Zeug nicht bei Elisabeth landet.« Henning meint das ernst.
Lou überlegt, ob sie noch einmal bekräftigen soll, dass sie aus eigenen Stücken und aufgrund ihrer Fragen hergekommen ist, befürchtet aber, dass ein Satz, in dem nicht der Name seiner Schwester auftaucht, kaum zur Kenntnis genommen wird. Nickend drückt sie den Aufnahmeknopf. »Also, wenn ich jetzt, nach unserem Gesprächsauftakt, schon ein Fazit ziehen müsste, würde ich sagen, Elisabeth ist zusammen mit 17 Millionen anderer Menschen miesen Trickbetrügern aufgesessen.«
»Trickbetrüger ist ein viel zu harmloses Wort. Die hatten einen Geheimdienst, der unter anderem mit den Methoden der Zersetzung gearbeitet hat. Die haben Menschen gezielt fertiggemacht, haben Lügen verbreitet, um unbescholtene Bürger zu diskreditieren, um Neid und Misstrauen zu säen. Ach, lassen wir das. Die haben Menschen in den Wahnsinn getrieben und hingerichtet! Ich nenne das Diktatur. Betrug gehört noch zu den harmloseren Verbrechen, die man ihnen vorwerfen kann.«
Marietta nickt. »Zumindest wenn du mich fragst, waren die SED -Bonzen allesamt heuchlerische Egoisten, die nur ein Ziel hatten: nämlich die Macht zu übernehmen und sich persönlich zu bereichern. Und der Sozialismus war dabei der kuschelige Deckmantel. So wie es bei anderen die Religion ist. Solange alle glauben, sie würden einem hehren und sinnvollen Ziel folgen, ist es einfacher, die Massen hinter sich zu vereinen.«
Lou windet sich innerlich, sie fühlt sich persönlich angegriffen und kann nicht erklären, warum. Doch jeder Satz, der fällt, ist auch eine Kritik an ihrer Uroma. Die hatte einen Traum und war vielleicht doch nur ein funktionierendes Rädchen im Getriebe dieser Diktatur.
»Du denkst jetzt, die Kritik richtet sich an Elisabeth, richtig?«
Warum weiß diese Frau immer genau, was sie denkt? Lou nickt.
»Es ist wie immer: Wir zwei steigern uns hinein, und dann neigen wir zu Verallgemeinerungen. Natürlich wissen wir: Nicht jeder Mensch, der einer Religion anhängt, missbraucht sie. Nicht jeder Mensch, der sozialistische oder kommunistische Ziele verfolgt, will Gleichschaltung und Enteignung. Nicht jeder Kapitalist ist ein Ausbeuter. Oder wie auch immer diese Vorurteile lauten. Aber Emotionen waren schon immer stärker als Fakten. Und deshalb sage ich Henning, seit wir uns kennen, dass Elisabeth kein schlechter Mensch ist.«
Auch wenn Marietta hier zu vermitteln versucht, ist es für Lou schmerzhaft, überraschend schmerzhaft, zu hören, mit welcher Vehemenz Henning seine Schwester verurteilt.
Er scheint Lous Entsetzen zu spüren. »Ja, was guckst du so? Ich wollte damals nicht viel, ich war ein Jungspund, ich hatte mich gerade frisch verliebt, und eines Morgens stehe ich auf, und da ist diese Mauer. Einfach so. Ohne Vorankündigung. Sie war noch nicht fertig gebaut, nicht dass du denkst, die stand da schon vollständig, aber es war alles mit Stacheldraht abgesperrt. Stell dir vor, du stehst morgens auf und kannst nicht mehr nach Hause. Nie wieder. Weil sie Berlin wieder dichtgemacht haben. Was würdest du da denken? Vor allem, wenn es Hinweise darauf gäbe, ich hätte es gewusst? Wärst du nicht auch außer dir?«
Lou schaut auf das Diktiergerät. Das kleine orange leuchtende Lämpchen zeigt ihr an, dass die Aufnahme läuft. Inzwischen fällt es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Ihre Faktenorientierung stößt mit Hennings Emotionalität auf einen Gegner, der sie zunehmend ermüdet. Was soll sie darauf antworten? Dass er rhetorische Mittel anwendet?
»Da stand bewaffnete NVA «, fährt er fort, weil er keine Antwort erwartet. »Irgendwelche Truppen, Polizisten, weiß ich was, irgendwie alles, was eine Waffe in der Hand halten konnte. Und mir wurde weisgemacht, man wolle mich beschützen mit diesem antiimperialistischen Schutzwall? Lächerlich, schon dieses Wort. Es war so lächerlich, in all seiner Dramatik.«
Marietta erhebt sich. »Ich habe Kartoffelsuppe vorbereitet, die mache ich jetzt warm. Und dann machen wir mal eine Pause. Sonst geht Hennings Blutdruck wieder ins Uferlose. Denn meistens muss man ihn eigentlich nur vor sich selbst schützen.« Sie zwinkert ihm liebevoll zu und verschwindet.
Tatsächlich klingt Henning ruhiger, als er fortfährt: »Weißt du, das Schlimme war: Damals gab es noch einige Stellen, an denen man hätte durchschlüpfen können. Ich habe das selbst gesehen, und ich habe mich nicht getraut. Ich habe den Moment nicht genutzt und musste dafür einen sehr viel komplizierteren Umweg in Kauf nehmen, der Marietta und mich viel gemeinsame Zeit gekostet hat.«
Marietta blickt streng um die Ecke des Flures ins Wohnzimmer hinein. »Nein! Halt, Moment! Wenn Henning jetzt mit der Flucht anfängt, dann dauert das noch Stunden. Das heben wir uns auf. Jetzt ist Pause!«