Sofort, unverzüglich.
Ein Fehler. Formuliert in zwei Worten, kurz vor 19 Uhr. Isa hörte diese Aussage von ZK -Sekretär Günter Schabowski, die er am Ende einer Tagung des SED -Zentralkomitees vor Kameras ausgesprochen hatte, in den ARD -Nachrichten. Privatreisen ins Ausland könnten nun »ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen – beantragt werden«. Die Genehmigungen würden kurzfristig erteilt; und diese Regelung gelte nach seiner Kenntnis »sofort, unverzüglich«.
»Die DDR öffnet die Grenze« wurde in den Abendnachrichten um 20 Uhr daraus.
Und nichts war mehr, wie es gewesen war.
Isa verstand nicht auf Anhieb, was der Moderator ihr zu sagen versuchte. Wollte er behaupten, die in Deutschland geltende Nachkriegsordnung wäre soeben in sich zusammengefallen? Sie saß auf der anderen Seite der Mauer, in der Wohnung in Schöneberg, in der sie nun seit knapp anderthalb Jahren lebten, vor dem Fernseher und konnte dem, was sich auf dem Bildschirm zutrug, nur mühsam folgen.
Hannes war offensichtlich gedanklich schneller. »Sie werden das nicht zulassen«, sagte er nur und verschränkte die Arme vor dem Brustkorb. Er schüttelte dabei energisch den Kopf, so, wie er es gern tat, wenn die Kinder Unsinn gemacht hatten. »Das glaube ich nicht, nie und nimmer. Sie werden sich der chinesischen Lösung anschließen.«
»Meinst du?«
»Ja. Sie werden das Kriegsrecht verhängen und die Panzer auffahren lassen, so, wie es die chinesische Volkskammer im Sommer bei der Niederschlagung der Demonstration auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking getan hat. Die machen hier nix auf.«
»Aber sie wollen doch die Reisen vereinfachen, warum sollten sie das tun?«
»Wenn das wirklich gilt, wird heute Nacht in der DDR alles eskalieren. Und du weißt, wie eilfertig die SED mit marktschreierischer Zustimmung die Chinesen unterstützt hat? Sie haben die Toten in Peking für die Warnung der eigenen Bevölkerung benutzt. Sie haben damit ausdrücken wollen: Schaut hin, was woanders geschieht – auch wir können das.«
Isa nickte und sah die Bilder vor sich. Die Studentenscharen, die Panzer. Den geräumten Platz. Den einen jungen Mann in Stoffhose mit weißem Hemd, der sich den Panzern entgegenstellte. Sie schüttelte den Kopf.
Es ist zu spät, dachte sie.
»Das hätten sie bei den Demonstrationen machen müssen, aber wenn Hunderte von Menschen, vielleicht auch mehr, jetzt an vielen Grenzübergängen gleichzeitig versuchen, einen Ausflug nach West-Berlin zu machen, wie wollen sie das verhindern?«
»Das ist doch Quatsch. Da fährt doch jetzt keiner mehr los.«
»Ich wäre da nicht so sicher. Und noch mal die Frage: Was machen die dann?«
»Schießen?«
Isa fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. »Das dürfen sie seit April nicht mehr. Der Schießbefehl ist eingestellt. Und deshalb will ich da jetzt hin.«
»Wo willst du hin?«
»Zur Mauer, irgendwo.«
»Und dann? Selbst wenn sie die Tore öffnen, was willst du denn da? Zurückgehen, deine Eltern besuchen?«
Ein Lächeln glitt über Isas Gesicht. Ein schöner Gedanke. Einfach bei den beiden zu klingeln, mitten in der Nacht, um sie zu umarmen, schlaftrunken und bettwarm, wie sie waren. Sie erhob sich und hielt Hannes die Fernbedienung entgegen. »Bitte, hier, du kannst ja vor dem Fernseher sitzen bleiben, ich gehe.«
Hannes sprang auf. »Herrgott, warte doch! Ich fahre mit, aber bitte versprich mir eines …«
Aufmerksam sah Isa ihn an.
»Geh nicht rüber! Betritt in keinem Fall den Boden der DDR . Morgen wird das alles zurückgenommen, ich bin mir sicher. Schabowski bekommt eins auf den Deckel, und das war es dann.«
»Gut, aber bis dahin will ich zusehen.«
»Ich komme mit!«
Isa hatte keine Ahnung, wie lange Anke schon in der Tür stand. Kurz blickte sie zur Uhr. 21.25 Uhr. »Du hast morgen Schule.«
»Ich ziehe mich um«, erwiderte Anke, als hätte ihre Mutter nichts gesagt.
»Wenn wir uns aus den Augen verlieren, passt du auf Anke auf, ja?«, sagte Isa zu Hannes und sah abermals zum Fernseher.
»Wo willst du hin?«
»Vielleicht zur Bösebrücke?«
Sie verlor Hannes und Anke schon kurz nachdem sie das Auto verlassen hatten aus den Augen. Sie suchte die beiden nicht, sie überließ sich dem Moment und drängte in die Menschenmasse. Die halbe Nacht klopfte sie als Willkommensgruß auf Motorhauben von Trabis, die nach West-Berlin einfuhren.
Wie im Zug nach Oebisfelde umarmte sie wildfremde Menschen.
Sie weinte mit ihnen, sobald sie Tränen sah, sie lachte, wenn andere ungläubig jubelten, dass sie tatsächlich die Grenze überquert hatten. Und mit all jenen, die in dieser Nacht nach Freiheit riefen und »nur mal gucken wollten«, verließ sie noch einmal die DDR .
Autokorsos reihten sich immer weiter in die zuführenden Straßen der Bösebrücke, hupend und im Schritttempo passierten die Wagen die überfüllte Brücke, vorbei am hell beleuchteten Wachturm. Die Menschen spazierten über das Grenzgelände, um nun am beiseitegeschobenen Schlagbaum vorbeizugehen.
Ihn hinter sich zu lassen.
Alles getaucht in ein grelles, unwirkliches orangefarbenes Licht der Laternen, mit dem sonst die Grenze ausgeleuchtet wurde.
Zwei Grad waren für diese Nacht angekündigt worden, doch die Glückseligkeit und der rasende Puls wärmten die Menschen.
Nur die Grenzer standen fröstelnd am Rand und sahen zu. Irgendwann, in all dem Trubel, hielt Isa inne und beobachtete die Männer. Sie hatten den Schlagbaum geöffnet und sich selbst entmachtet. Sie waren mit einem Mal die Überflüssigen, die danebenstanden und zusahen, wie an der Bornholmer Straße Tausende Menschen an ihnen vorbeizogen.
Ob sie gern mitgegangen wären, »nur mal gucken«, wie es die Menge rief?
Es war Einsamkeit, die aus den grauen Mänteln und Parkas hervorquoll, hinweg über die weißen Hemdkragen, die mit einer dunkelblauen Krawatte ordentlich abgerundet waren. Dazu die entglittenen Gesichtszüge aller Grenzer, der aschfahle Hautton derer, die unter Schock standen und nicht verstehen konnten, wie grundlegend sich ihre Welt seit dem heutigen Dienstbeginn verändert hatte. Ihre Körpersprache kannte nur noch zwei Ausdrücke: Verunsicherung und Angst.
Es war Isa ein innerer Siegeszug, eine Genugtuung für die Nacht in Oebisfelde. Für die Kaltschnäuzigkeit, mit der die Kollegen dieser Männer noch auf den letzten Metern, die der Zug in der DDR verblieben war, versucht hatten, Angst und Schrecken zu verbreiten.
Irgendwann überließ sie die Männer wieder ihrem Schicksal und wurde eins mit jenen, die kamen, die nachrückten, ein nicht versiegender Strom glückstrunkener Menschen.
Sie war eine von ihnen.
Sie hatte gehen müssen, um zu erleben, wer sie war, wenn sie sein durfte, wer sie sein wollte.
Sie war gegangen mit fast nichts.
Sie hatte 37 Jahre ihres Lebens zurückgelassen und neu angefangen.
Aber nun kehrten mit dem beiseitegeschobenen Schlagbaum die Gerüche zu ihr zurück: stinkende Zweitakter, Tosca-Parfüm, Action-Haarspray, IMI -Waschpulver und Florena-Hautcreme. Und mit jedem Atemzug, mit all jenen, die sie umarmte und mit denen sie diese Nacht teilte, hatte sie das Gefühl, als würde irgendetwas in ihr nach Hause kommen.