LOU,
IM AUGUST 2015

Lou sitzt nun allein mit Henning im Wohnzimmer. Sie spürt seinen Blick auf sich und hört in der Küche Marietta mit den Tellern klappern. »Kann ich dir helfen?«, ruft Lou, in der Hoffnung, der Situation zu entkommen. Doch Marietta lehnt dankend ab.

Plötzlich beugt Henning sich vor: »Ich kannte sie damals nicht lange und habe es trotzdem gewusst: Sie ist die Frau, mit der ich alt werden will«, sagt er halblaut, fast triumphierend. »Ich glaube manchmal, eure Generation kann so etwas gar nicht mehr. Also: sich für etwas entscheiden, das eine lebenslange Bedeutung gewinnen soll.« Seine Stimme ist mit jedem Wort lauter geworden.

»Ich habe doch gesagt, du sollst warten«, ruft Marietta aus der Küche.

Aber Henning überhört sie erneut. »Ich weiß nicht, ob du dir vorstellen kannst, wie das ist: Du bist einem Menschen begegnet, von dem du denkst, er bedeutet dir alles, und dann trennt euch die Geschichte über Nacht. Sie reißt euch auseinander. Mit einer Mauer, die sich durch die Stadt zieht, die dein Land umfasst.« Sein Blick hat sich nach innen gekehrt, die Hand hat er auf seine Brust gelegt. »Ich war fassungslos.« Die letzten Worte hat er geflüstert. Er atmet schwer. Plötzlich reißt er den Kopf in die Höhe und fixiert Lou mit gerunzelter Stirn. »Wie alt bist du?«

»20.«

»Du siehst jünger aus. Vermutlich, weil du so blass und dünn bist.« Er deutet ein Kopfschütteln an. »Weißt du, was Liebe ist? So eine richtige, ernsthafte Beziehung?«

»Natürlich!« Sie kann den Zweifel in seinem Blick sehen. Lou ist empört.

Was für eine Frage!

Liebe als richtige, ernsthafte Beziehung – das ist eine Formulierung, die sie pathetisch findet, und die Frage an sich ist herablassend. Er muss jünger gewesen sein als sie, als er beschlossen hat, aus der DDR zu flüchten. Für sich nimmt er die Tiefe seiner Gefühle in diesem Alter aber in Anspruch. Sie will nicht diskutieren, das Eis, auf dem sie sich mit diesem Besuch bewegt, ist viel zu dünn. Sie kennt diesen Mann schließlich nicht.

»Mir war klar«, fährt er fort, »dass ich ein Schicksal erlebe, das es zuvor so noch nicht gegeben hat. Denn welches Land hat sich jemals über Nacht so eingeigelt? Das Wort ist viel zu nett, sagen wir vielleicht besser: abgeriegelt? Isoliert? Sich selbst eingesperrt, verbarrikadiert? Es war absurd. Ein böser Traum, aus dem ich aufwachen wollte, denn seien wir mal ehrlich: Was für ein krankes Hirn denkt sich so einen Müll aus? Gott sei Dank haben wir nicht geahnt, was kommen würde. Anfangs haben alle gehofft, das würde sich binnen kürzester Zeit erledigen, und dann wurden 28 Jahre daraus.«

Marietta kommt ins Zimmer zurück, in jeder Hand einen Teller mit dampfender Suppe. »Henning, ich mag es nicht, wenn du so abfällig sprichst. Und schon gar nicht vor Besuch.« Sie stellt die Teller auf dem Esstisch ab und bittet beide, schon einmal Platz zu nehmen.

Schwerfällig erhebt sich Henning und geht zum Esstisch hinüber.

Lou wirft einen Blick auf ihr Handy, sie hat gespürt, dass es mehrmals vibriert hat. Die Anrufliste zeigt einmal die Nummer ihrer Mutter und einen Anruf, den sie nicht zuordnen kann. Sie tritt ans Fenster und schaut in den verwunschenen Garten, während sie die Mailbox abhört. »Schönen guten Tag, hier ist das Stasi-Unterlagen-Archiv«, ertönt eine angenehm dunkle Stimme. »Schmidke hier. Wir haben Ihren Antrag erhalten, und ich hätte noch ein paar Fragen. Ich schicke Ihnen eine Mail. Telefonisch bin ich ebenfalls erreichbar.« Er sagt die Durchwahl auf und verabschiedet sich förmlich.

Während Lou ihr Handy in der Hosentasche verschwinden lässt, bemerkt sie eine Unruhe, die sich mit dem Erhalt dieser Nachricht in ihr ausbreitet. Es fühlt sich nicht gut an, es ist keine kribbelnde und belebende Unruhe, die sich einstellt, wenn sie weiß, sie hat einen Meilenstein erreicht, einen Fortschritt gemacht. Eher das Gegenteil ist der Fall: Sie weiß nicht mehr, ob sie die Unterlagen überhaupt noch einsehen will. Eigentlich wäre es besser gewesen, es wäre keine Reaktion erfolgt, dann hätte sie das alles als einen Fehltritt in einer rotweindurchtränkten Nacht ansehen und vergessen können. Aber so? Sie muss sich jetzt dazu verhalten. Die Welt außerhalb dieses Wohnzimmers, das fernab jeder Realität zu schweben scheint, nimmt ihre Anfrage ernst. Befasst sich damit. Und der Name Schmidke, diese Stimme – irgendetwas daran kommt ihr bekannt vor. Einordnen kann sie es nicht. Klären kann sie es jetzt auch nicht, das muss warten.

Sie wendet sich um. Henning sitzt am Tisch, in seinem gebügelten Hemd, das in seinem Weißton auf die ebenfalls sorgfältig gebügelte weiße Stofftischdecke abgestimmt wirkt. Sein Rücken ist leicht gekrümmt, und er schaut auf den Suppenteller, ohne hinzusehen. Regungslos sitzt er da. Ein Anblick, der Lou traurig macht, auch wenn sie nicht genau erfassen kann, was am Anblick dieses alten Mannes schmerzt.

Es gibt am Tisch eine feste Sitzordnung, das ist Lou klar, ohne dass Henning sie erwähnt. Sie nimmt ihm gegenüber Platz und hofft, die richtige Wahl getroffen zu haben. Aber vermutlich sitzt sie jetzt auf dem Platz, den normalerweise Marietta einnimmt.

»Unser letztes Treffen hatte Marietta und mich zum sogenannten Kontrollpunkt an der Heinrich-Heine-Straße geführt. Die Details erspare ich dir jetzt, das ist eine längere Geschichte. Und ich bekam also bereits am Morgen des 13. August und in den darauffolgenden Tagen mit, dass sich dort weiterhin regelmäßig sehr viele Menschen versammelten. Im Osten und im Westen. Und die Menge drängte immer sehr dicht an die Mauer heran, also nicht, dass du das falsch verstehst – in den ersten Tagen war das noch, wie bereits erwähnt, Stacheldraht, auch wenn ich es jetzt Mauer nenne. Mit dem tatsächlichen Mauerbau haben sie erst am 17. oder 18. August begonnen. Es soll eine Ansage des Innenministers der DDR gegeben haben, sich 100 Meter von der Mauer entfernt zu halten. Das habe ich mal irgendwo gelesen, und wenn ich darüber nachdenke, kann ich es schon wieder nicht glauben. Was die sich erdreistet haben – ziehen die Mauer hoch und wollen sogar denen auf der anderen Seite der Mauer Vorschriften machen. Sooft ich konnte, bin ich also zu diesem Kontrollpunkt geradelt und habe mich dorthin gestellt und mit meinem Blick die Menschen auf der anderen Seite abgesucht. Es war die Zeit der Mauersegler. Ja, ich konnte ihre Schreie hören. Wundervolle Vögel, aber singen können sie nicht.« Er schaut Lou erneut direkt an. »Wusstest du, dass sie monatelang in der Luft bleiben können, ohne einmal den Boden zu berühren?«

Marietta, die mit dem dritten Teller Suppe zurückkehrt, sieht, wie Henning jetzt mit geschlossenen Augen am Tisch sitzt, die Finger auf die Nasenwurzel gepresst.

Die Schwermut, die plötzlich im Zimmer schwebt, ist greifbar. Leise setzt sie sich neben ihren Mann und nickt Lou aufmunternd zu, mit dem Essen zu beginnen.

»Mauersegler überwintern in warmen Gefilden, und sie brechen im Sommer auf«, sagt Henning. Er blinzelt, als er die Augen wieder öffnet, seine Stimme ist plötzlich ganz warm und weich. »Manchmal brechen sie im Juli auf, aber spätestens im August. Es war also die Zeit des Aufbruchs der Mauersegler, ich sah sie damals über unsere Köpfe hinweg ihren Flug in die Ferne antreten. Wenn man es genau nimmt, waren es diese Vögel, die mich dazu gebracht haben, zu gehen. Ich wusste, das ist ein Zeichen. Es war Zeit, ebenfalls aufzubrechen.« Er nimmt den Löffel in die Hand und rührt in seiner Suppe herum.

Marietta verlässt noch einmal den Tisch, kommt mit einer Flasche Selter und drei Gläsern zurück. »Ich hatte den gleichen Impuls«, sagt sie, während sie Wasser eingießt. »Ich bin tatsächlich dorthin gefahren, immer nach der Arbeit, ich habe damals in einem Kindergarten gearbeitet, und die haben im Westen pünktlich und vor allem früh Feierabend gemacht. Also bin ich dort hingefahren, Nachmittag um Nachmittag, und eines Tages sah ich ihn auf der anderen Seite. Er sah mein Winken nicht und hörte meine Rufe nicht. Also habe ich ihn angestarrt, und irgendwann hat er das dann offenbar tatsächlich gespürt.«

Henning nickt heftig, während sie redet.

»Ich kann die Luftlinie, die uns trennte, rückblickend nicht abschätzen, vielleicht waren das 20 Meter. Sicherlich waren es weit weniger, aber weil es unüberwindbar war, schien die Entfernung enorm.«

»Es wurden mit der Zeit an den verschiedensten Orten sogenannte Sichtblenden errichtet.« Mit der flachen Hand haut sich Henning an die Stirn. »Überlege dir das mal! Wie muss man ticken, um so etwas zu machen?«

»Sichtblenden?« Lou ist irritiert. Das hat sie noch nie gehört.

»Na ja, die Mauer wurde ja erst nach und nach gebaut, das dauerte. An manchen Stellen stand später sogar beides – Mauer und Sichtblende.« Marietta zuckt die Schultern. »Aber damals konnten wir uns sehen. Wir haben also dort gestanden, wie viele andere, und uns zugewunken.«

»Ja, und ich habe überlegt, ob ich mich erschieße, mir den Weg freischieße oder rüberrenne und mich dabei erschießen lasse.«

Marietta legt ihre Hand auf seinen Arm. »Wenn dich das zu sehr aufregt, müssen wir aufhören. So geht das nicht!«

»Ja, ist ja gut! Ich hatte ja gar keine Waffe! Aber gedacht habe ich so was wirklich.« Nun wirkt Henning mürrisch, Müdigkeit zeichnet sich auf seinem Gesicht ab und lässt ihn um Jahre älter wirken.

Entschuldigend sieht Marietta Lou an. »Sein Blutdruck macht uns immer wieder Sorgen. Aber weiter im Text: Vieles, was in den kommenden Tagen und Wochen geschah, ist, denke ich, hinlänglich bekannt. Menschen, die noch in letzter Sekunde aus Fenstern in die Tiefe sprangen. Kinder, die in Sprungtücher geworfen wurden. Häuser, die geräumt wurden, und Fenster, die man zugemauert hat. Grauenvolle Zeiten.« Nun klingt auch Marietta angestrengt. »2 000 Menschen mussten umziehen, weil die Häuser, in denen sie lebten, direkt an die Mauer grenzten, wie beispielsweise in der Bernauer Straße. Überleg mal, was das heißt: Wenn du deine Wohnung aufgeben musst, also dein Zuhause, weil …« Sie schüttelt den Kopf.

Lou fragt sich, ob sie den beiden zu viel zumutet. »Wenn euch das belastet«, sagt sie hastig, »dann können wir das auch sein lassen, oder es in kleinere Etappen unterteilen.«

»Nein!« Marietta sieht verwundert aus. »Das ist wichtig – es gab Gegenden, in denen wurden ganze Einfamilienhäuser abgerissen, weil die Grenze durch den Garten lief. An der Grenze zu Lichterfelde gab es ein Dorf, das hieß Osdorf. Es ist weg, verschwunden. Dem Erdboden gleichgemacht. Aber du kannst noch heute Dachziegel und Mauerreste aus Backstein finden und erahnen, wo damals Häuser gestanden haben. Heute sind da Felder und Wald. Und das war nicht der Krieg, der die Häuser zerstört hat, nein, die sind dem Bau der Mauer zum Opfer gefallen.«

Die leeren Teller stehen inzwischen vor ihnen auf dem Tisch.

»Ich musste am Tag nach dem Mauerbau wieder zur Arbeit, als wäre nichts passiert«, fährt Henning zusammenhangslos fort.

Ist das eine Altersfrage, überlegt Lou kurz, oder ist er so in seinen Gedanken verfangen, dass er dem Gespräch nicht wirklich folgt? Sie beobachtet ihn aufmerksam.

»Nie hatte ich bei der Arbeit erwähnt, in ein Mädchen aus West-Berlin verliebt zu sein. Erstens gab es diese private Ebene in unserem Betrieb nicht, und zweitens galt das als nahezu unanständig – ein Mädchen aus West-Berlin.« Henning rollt die Augen. »Und so habe ich, gute Miene zum bösen Spiel machend, über Stunden danebengestanden, wenn sich Kollegen gegenseitig darin bestärkten, dass alles, was da geschah, seine Richtigkeit hätte: Die DDR sei schließlich durch die Politik der BRD dazu gezwungen, so zu handeln. Ich hatte einen Vorgesetzten, der war ein kluger Mann, ich glaube, er hatte sogar studiert. Aber nicht einmal Wissen schützt vor Dummheit. Er war der Meinung, unsere Aufgabe sei es, jetzt dafür zu sorgen, dass alles reibungslos weitergehen würde. Diskussionen wurden nicht zugelassen, und wenn sie stattfanden, sofort abgewürgt. Ich war jung, die Erwachsenen waren mir verbal überlegen, und in der Hackordnung im Betrieb hatte ich ohnehin nichts zu melden. Die hätten mich an die Wand geredet, wenn ich versucht hätte, mich auch nur in Ansätzen kritisch zu äußern. Aber das war jetzt nicht sonderlich DDR -typisch, ich glaube, damals waren die älteren Generationen oft härter im Umgang mit den jüngeren. Frag mich nicht, warum.«

Über Mariettas Gesicht zieht ein Lächeln. »Er hat angefangen, mir zu schreiben. Karten, ganz offen. Natürlich verklausuliert, unterschrieben hat er als Tante Gitti. Die Karten habe ich alle noch. Es war sehr unterhaltsam, denn es gab in seinem Umfeld tatsächlich eine Tante Gitti. Wenn die geahnt hätte, für was sie alles herhalten musste. In diesen Karten hat er mir versichert, dass er sich um ein Besuchervisum bemüht. Ich wusste also, er will fliehen. Wir hatten uns beim Winken mehrmals verpasst, das haben wir in späteren Gesprächen begriffen, und wir konnten uns ja nicht per Karte verabreden. Das wäre auffällig gewesen, aber dieses Wissen, er will kommen, das hat mich getragen. Die Zeit war lang, wahnsinnig lang, und wir hatten ja noch nicht einmal ein Foto voneinander, und davor hatte ich Angst: dass sein Bild vor meinem inneren Auge verblasst. Dass er sich in meinen Erinnerungen auflöst. Ich weiß nicht, woher wir damals die Kraft genommen haben. Wir waren uns unseres Schicksals bewusst, das hat uns eng verbunden. Ja, das denke ich auch. Wir hatten einen riesigen, nahezu übermächtigen Gegner, und wir waren jung und damit irgendwie auch naiv. Wir wollten einfach gewinnen.«

»In Vorbereitung auf unser Treffen habe ich mich ein wenig eingelesen. Der Mauerbau hat geschätzt rund 13 000 Paare voneinander getrennt. Ich möchte nicht wissen, wie vielen ein Wiedersehen verwehrt geblieben ist. Nicht nur eure Trennung war ein außergewöhnliches Ereignis, noch außergewöhnlicher war euer Wiedersehen.« Lou mustert die beiden. So unauffällige alte Leute. Und dann eine Lebensgeschichte, die im so krassen Gegensatz dazu steht.

»Du hast dich vorbereitet?« Henning hat die Augenbrauen zusammengezogen. »Auf das Treffen mit uns? Ehrlich? Warum denn das?«

»Na ja, ich komme hierher, ihr nehmt euch Zeit. Ist das nicht irgendwie das Minimum, was ich machen kann, um euch zu zeigen, wie ernst es mir ist?«

»Mensch, Kleene, nu bin ich aber janz jerührt!«, ruft Marietta aus, und Lou muss lachen. Denn mit einem Mal ist ihr Berliner Dialekt zu hören. Die jute alte Berliner Schnauze.

Henning reagiert wieder nicht auf das, was die beiden Frauen besprechen. »Es war eine Zeit, in der ich dachte, ich werde verrückt, auch als ich schon längst drüben war«, sagt er, ein wenig lauter als zuvor. »Im Sommer 1963 war beispielsweise John F. Kennedy in der Stadt, also in West-Berlin. Er hat damals mit dem Bundeskanzler, das war noch Konrad Adenauer, und mit Bürgermeister Willy Brandt das Brandenburger Tor besucht. Die Mauer war bereits gebaut, und es gab auf der Westseite hölzerne Podeste, auf die man hinaufsteigen konnte, um über die Mauer zu schauen.«

Lou lehnt sich in ihrem Stuhl zurück, denn während Henning sich ereifert, fliegen Spucketropfen durch die Luft.

»Dort sind die Herren also hochgegangen, und ich weiß nicht, ob du dir das vorstellen kannst – im Brandenburger Tor und in diesen kleinen Seitengebäuden hingen von oben herab rote Tücher. Ein satter dunkelroter Ton. Die hingen da also zwischen den Säulen. Große breite Stoffbahnen, und die dienten einem einzigen Zweck: Man wollte den Politikern nicht die Gelegenheit geben, über die Grenze nach Ost-Berlin zu schauen. Und man wollte natürlich denen drüben die Möglichkeit nehmen, Kennedy zu sehen. Die hatten Angst vor ihm, weil er beliebt war. Aber wes Geistes Kind musst du sein, um so etwas zu machen? Ganz öffentlich und schambefreit?« Hennings Blick ist glasig geworden.

Marietta schaut ihren Mann verstohlen an, es ist offensichtlich: Sie wird immer skeptischer.

Lou weiß, bald wird sie eingreifen und das Gespräch beenden, weil sie um die Gesundheit ihres Mannes fürchtet.

Sie übernimmt das Gespräch, ganz so, als wollte sie Henning entlasten. »Er hat damals nur mit einem einzigen Freund über die Situation gesprochen, seinem Arbeitskollegen Jochen. Erst war es die allgemeine Frustration, über die sie sich austauschten, die mit dem Mauerbau – zumindest in ihren Augen – eine schockierende Wende genommen hatte.«

»Ja, dieses Gefühl, eingesperrt zu sein, ich spüre das manchmal noch heute …« Henning sitzt aufrecht, seine Hände ringen miteinander und verraten Lou die Anspannung, unter der er steht. Marietta legt ihre Hand auf seinen Rücken, auf Höhe der Nieren. Sofort sackt Henning in sich zusammen und lehnt sich in seinem Stuhl zurück.

»Und irgendwann entwickelten die Männer einen gemeinsamen Plan.« Sie wendet sich Lou wieder zu. »Alles wurde konkreter, auch die Postkarten, die er mir weiterhin schickte. Tante Gitti schrieb mir, sie wolle sich ein Auto zulegen und sei auf der Suche nach einem schönen Wintermantel. Ein andermal erwähnte sie den geplanten Ausflug ins Umland. Es war aberwitzig, wie frech er war.«

Henning grinst, sein Lächeln wirkt jetzt schelmisch. Für einen Moment sieht Lou den jungen Mann von den Fotos in ihm. Die dunklen Haare, die er sorgsam zurückgekämmt trägt, das schmale Gesicht. Die weißen Hemden, bei denen immer ein Knopf zu viel geöffnet ist. Dass ihm Elvis näher war als Ulbricht, ist noch heute unübersehbar.

»Gemeinsam begannen sie, die Russen zu beobachten: Was fuhren die für Autos, wie sahen deren Wagen von außen aus, gab es spezielle Lackierungen, Aufschriften, und was für Nummernschilder wurden genutzt? Was war an den Uniformen markant, welche Stoffe wurden verwendet, und vor allem: welche Farben? Sie machten sich Skizzen, wie die Uniformen geschnitten waren, wobei ein besonderes Augenmerk auf Mänteln und Mützen lag. Damals trugen die Sowjet-Obersten Tellermützen.«

Lou bemerkt, wie sich Fassungslosigkeit in ihr breitmacht. Sie wagt kaum zu atmen, während sie der Geschichte folgt, die ihr hier aus erster Hand serviert wird. Warum wird das alles in ihrer Familie mit keinem Wort erwähnt? »Weiß Elisabeth davon?«, fragt sie und hört die Fassungslosigkeit in ihrer eigenen Stimme.

»Nö, ich glaube nicht.« Henning verzieht den Mund. »Es war nicht einfach, denn die Russen waren nicht Teil des Alltags und des Straßenbildes, sie blieben eher unter sich in den Kasernen. Deshalb dauerte das alles sehr lange. Aber wir hatten eine wichtige Information: Täglich fuhren zwischen West- und Ost-Berlin sowjetische Militärs hin und her, es gab also durchaus einen Grenzverkehr – trotz der Abriegelung. Welchem Zweck er diente, war uns nicht klar, aber es interessierte uns auch nicht. Es gab ihn, das war entscheidend, und wir mussten wissen, wie so ein Grenzübertritt vonstattenging. Diese wenigen Sekunden, die so ein Wagen braucht, den Grenzübergang zu passieren. Auch das haben wir beobachtet, was ebenfalls nicht einfach war: Sobald so ein Wagen an der Grenze erschien, wurde automatisch der Schlagbaum geöffnet. Und die Grenzer standen nur da, nahmen Haltung an, manche salutierten regelrecht. Dieses Wissen war Gold wert für uns. Irgendwann war klar: Wir brauchten einen Wagen, am besten einen Pobeda, in einer bestimmten Farbe, halt in diesem seltsamen Militärgrün. Wir benötigten außerdem beide einen Mantel mit den üblichen Schulterklappen, auf denen irgendwelche Sterne prangten, und die bereits erwähnten Mützen. Gern in Weiß. Wir haben russische Floskeln geübt, und Handbewegungen, die einen Gruß andeuteten. Wir tippten mit Ring- und Mittelfinger an den Rand der Mütze, ein kurzes Winken folgte, es waren eher unauffällige, verwischte Bewegungen. Wir haben stundenlang daran herumgefeilt. Ich für meinen Teil habe sogar versucht, noch deutlich zuzunehmen. Ich war groß, aber insgesamt wirkte ich noch zu jungenhaft, weil ich sehr dünn war. Spargeltarzan sagte man damals. Und ein gestandener russischer Oberst ist ja nun mal nicht Anfang zwanzig, dafür aber zwangsläufig trainiert. Oberstes Gebot bei all unseren Planungen: Wir müssen die Nerven behalten und nur den Blick aus der Ferne bestehen.«

»So bist du rübergekommen? Ernsthaft? Ihr macht jetzt aber keine Witze, oder so?« Lou schaut Henning an, sie ist fast versucht, ihm die Geschichte nicht mehr abzunehmen. Je mehr er erzählt, desto skeptischer wird sie. Und sie ertappt sich, wie sie an James Bond denken muss, und dass der dagegen ein Scheißdreck ist.

»Ich war jung, da ist man waghalsiger. Heute würde ich mir ins Hemd machen. Wie auch immer: Wir hatten irgendwann einen annehmbaren Stoff bekommen. Er war kratzig, aber das Hauptkriterium, also die passende Farbe, erfüllte er. Doch wie näht man nun so einen Mantel? Und dann noch aus so festem Stoff? Wir versuchten uns an leichten Sommerstoffen, um zu üben, und scheiterten schon daran. Ich wusste, Marietta wartet auf mich, aber ich hatte auch Sorge, sie könnte damit irgendwann aufhören. Mehrfach habe ich überlegt, ob dieser Plan zu kompliziert ist. Was das Nähen betraf, hat sich Jochen immer mehr eingearbeitet, seine Oma besaß eine Nähmaschine. Die ahnte, was los war, irgendwann ging sie ihm zur Hand. Sie fragte nicht, sie machte nur, und als wir sie eingeweiht haben, warum wir die Mäntel brauchen, kam von ihr der Vorschlag, kleine Goldsternchen auf die Schulterklappen zu kleben. Sie hat aus irgendwelchen Quasten ihrer Gardine für eine der beiden Uniformen sogar Epauletten gebastelt. So Schulterstücke mit Troddeln dran. Das klingt in geraffter Form alles unkompliziert, aber das waren Prozesse, die haben Monate in Anspruch genommen. Später bei der Flucht hatten wir einfache Stoffhosen an und trugen läppische Straßenschuhe. Denn es war klar: Wenn sie uns anhalten und wir aussteigen müssen, haben wir ohnehin verloren.«

»Hätten euch die Russen den Prozess gemacht oder die DDR

Henning zuckt die Schultern. »Es gab ja keinen vergleichbaren Fall, deshalb kann ich dazu nichts sagen. Soviel ich weiß, waren die wenigen Fluchten in Russenuniform, die überhaupt stattgefunden haben, erfolgreich. Der Kadavergehorsam funktionierte tadellos, und wir haben ihn zu unserem Vorteil genutzt. Aber das war so dreist, ich bin sicher, das Urteil wäre drakonisch gewesen. Aber noch komplexer als das Nähen von festem Stoff war es, einen entsprechenden Wagen zu bekommen. Es gab ja keinen klassischen Automarkt, und wir brauchten einen Wagen, der als Gefährt von russischen Militärs durchging. Darauf haben wir am längsten gewartet, und irgendwann haben wir eine alte Möhre bekommen. Die Farbe passte gar nicht, und wir wollten ihn per Hand streichen. Und damit standen wir vor der nächsten Herausforderung: Nur weil wir olivfarbenen Lack brauchten, gab es den ja nicht zwangsläufig. Also verging wieder Zeit. Sogar eine Militärnummer haben wir damals übernommen und auf das Nummernschild gepinselt. Wir sind am frühen Abend gefahren, durch den Übergang am Checkpoint Charlie. Und wir haben extra auf einen Tag gewartet, an dem es goss, damit durch den Regen nicht so auffiel, wie furchtbar wir den Wagen gestrichen hatten. So ein Wetter, bei dem sowieso keiner Lust hat, sich mehr zu bewegen als nötig.« Wieder gleitet Hennings Blick in die Ferne, aber diesmal lächelt er glücklich. »Es war so einfach. Ranfahren, geradeaus schauen, kurzer Gruß, in keinem Fall das Tempo beschleunigen. Dann waren wir im Westen. Ich habe ja Marietta nicht darüber informieren können, dass wir den 6. November auserkoren hatten. Also sind wir durchgefahren bis zu ihr, nach Zehlendorf. In einer Seitenstraße sind wir rangefahren, ausgestiegen, im Regen herumgesprungen und haben nach Luft gejapst wie Apnoetaucher nach einem elfminütigen Tauchgang. Wir haben die Mützen durch die Luft geworfen, uns die Mäntel vom Leib gerissen, und es war durchaus frisch. Irgendwann haben Passanten begriffen, was sie da sahen: Die zwei Russen, die im amerikanischen Sektor besoffen vor Glück auf der Straße herumtorkelten das waren Menschen, denen die Flucht gelungen war. Fremde gratulierten uns, klopften uns auf die Schultern und boten uns ihre Hilfe an. War das ein Fest! Es gab wenige Momente in meinem Leben, in denen ich so glücklich war wie in diesem. Regennass und vor Kälte schlotternd.«

Lou schluckt. Elisabeth, Isa, Anke. Berlin. All das ist gerade weit weg. Andere Leben. Sie ist so sehr in Hennings Welt eingetaucht, sie kann spüren, wie leicht es ihm letzten Endes gefallen war, wegzugehen.

Weil sein Leben keine Berührungspunkte mit Elisabeths mehr hatte, außer dem einer zufälligen Verwandtschaft.

»An diesem Tag, es war ein Dienstag, hat es abends bei uns geklingelt. Das letzte Mal hatten wir uns am 12. August 1961 gesehen. Gut, dass wir an diesem lauen Sommerabend nicht ahnten, was auf uns zukam.« Marietta fasst nach Hennings Hand. »Das Foto haben wir dir ja gezeigt, oder?«

»Wie – ihr habt ein Foto? Von der Uniform und dem Wagen?«

Marietta springt auf und holt aus dem Wohnzimmerschrank ein weiteres Fotoalbum. »Das ist ein privates Album, das ich Henning mal zu einem unserer Jahrestage gebastelt habe. Wahrscheinlich hatte ich es deshalb gestern nicht mit dabei. Dieses Bild haben wir am Tag darauf gemacht.«

Zwei Männer stehen mit offenen Mänteln, schief sitzenden Mützen vor dem Pobeda. Henning trägt Sandalen. »Das sind aber nicht gerade Straßenschuhe«, sagt Lou und fröstelt bei dem Gedanken, dass die beiden an einem Novemberabend aufgebrochen sind.

»Ja, das fragen mich alle: Warum trägst du Sandalen?

Meine Schuhe waren durchgelaufen, die Sohle des einen Schuhs hatte zwei oder drei Tage zuvor den Geist aufgegeben. Ich hatte jeden Pfennig in den Kauf und die Instandsetzung des Wagens gesteckt. Und ja: Ich war zu geizig, ich wollte keinen DDR -Schuh mehr kaufen. Mein Traum waren ein paar Lederschuhe vom Ku’damm.« Er zuckt mit den Schultern. »Wir hatten noch andere Ansprüche damals, alles eine Nummer bescheidener als heute. Wir sind dann gleich am nächsten Tag los und haben eingekauft. Nicht in Zehlendorf, nicht in Steglitz, nein, ich wollte zum Ku’damm. Es war ein Traum. Erst dann, am Abend, haben wir uns bei den Behörden gemeldet: zwei seriös wirkende Männer, in Anzügen und mit ledernen Straßenschuhen. Wir brauchten ja neue Ausweise, eine Anmeldung, all diese Dinge.«

»Warum hängt das Bild nicht an eurer Familienwand? Warum habt ihr keinen Schrein drum herum gebaut? Mein Gott, was für eine Geschichte …«

»Das sage ich auch immer, aber Henning will das alles nicht.«

»Es gibt mehrere Zeitzeugenprojekte, kennen die eure Geschichte?«

Henning nickt. »Ja, irgendwo im Internet kannst du das Foto finden. Ist aber sehr versteckt.«

Lou sinkt in sich zusammen. Wer weiß, vielleicht hat sie Henning schon einmal gesehen. Im Netz. Ohne zu wissen, dass dieser Mann zu ihrer Familie gehört.

»Ich brauche jetzt einen Kaffee.« Marietta steht ruckartig auf. »Ihr auch?«

Henning und Lou nicken synchron.

Marietta streicht über das Foto und schlägt dann das Album zu. Als sie es wieder anhebt, um es an seinen Platz zurückzuräumen, hält sie kurz inne: »Wer weiß, was aus uns geworden wäre, wenn es die Mauer nicht gegeben hätte. Manchmal denke ich, das, was wir sind, haben wir eben auch genau jenen Entwicklungen zu verdanken.«

Lou nickt. Es klingt einleuchtend, sehr sogar.