ANKE,
4. SEPTEMBER 2015

Die Balkontür steht weit offen, der Fernseher läuft. Eines der EM -Qualifikationsspiele wird übertragen. Deutschland gegen Polen.

Christian sitzt neben ihr, er ist im Glück. Anke blickt gelangweilt auf den Fernseher, der im Verhältnis zur Zimmergröße komplett überdimensioniert ist. Noch laufen die üblichen Analysen und Kaffeesatzlesereien vor dem Spiel. Es interessierte sie nicht im Geringsten, wer in der Startelf steht. Da laufen zwanzig schwitzende Männer einem Ball hinterher, während zwei weitere in einem Kasten herumstehen und auf den nächsten Angriff warten. Manchmal erscheint ihr Sport wie eine gemäßigte Form des Kriegs, das Vokabular ist abstoßend: Flanke, Fronten, Abwehrschlacht, Belagerungszustand, heroischer Zweikampf. Spieler, die den Ball ins Tor bomben, den Torwart unter Feuer nehmen, aber erst nachdem sie die Blutgrätsche absolviert haben. Und um sie herum, im Stadion, explodiert die Stimmung.

Es gibt Dinge, die bleiben ihr unerklärlich.

Die zerfledderte Zeitung auf seinem Couchtisch ebenfalls. Sie nimmt sie in die Hand und lässt sie gleich vor Schreck wieder fallen. Es ist die Ausgabe vom Freitag, in der das Bild eines Zweijährigen gezeigt wird, der tot am Strand liegt. Er ist bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland ertrunken. Sie hat die Ausgabe im Büro gesehen und schon da nicht adäquat reagieren können. »Warum kaufst du so ein Schundblatt?«, faucht sie ihn an.

»Ich kauf die nicht, ein Kollege gibt mir die Ausgabe immer mit.« Er nimmt den Blick nicht vom Bildschirm. Die Nationalhymne erklingt.

Für einen Moment kommt Anke das Telefonat in den Sinn, das sie auf dem Weg hierher mit Lou geführt hat. Die Tochter will sie zur Flüchtlingshilfe mitnehmen. »Zwei Stunden die Woche wirst du doch wohl lockermachen können«, war ihre Begründung. Bei ihrer Tochter klingt das alles immer so einfach. Aber sie will jetzt nicht über Fluchten nachdenken und über ein ertrunkenes Kind. Sie will und braucht ihre Ruhe, ihre Nerven liegen ohnehin schon blank. Und mit Christian auf der Couch zu sitzen und mit ihm fernzuschauen, ist beruhigend. Ein Ritual mit Pizzalieferservice, Chips und Cola. Inzwischen ohne Bier. Immerhin. Sie kann sich an Jahre erinnern, in denen das eine nicht ohne das andere ging. Und wenn er früher die Heimspiele vom 1. FC Union in der Alten Försterei besucht hat, war er ohnehin meist sturzbetrunken nach Hause gekommen. Sie weiß das aus seinen Erzählungen, denn offensichtlich hat er es lange Zeit amüsant gefunden und gern von seinen Filmrissen erzählt. Bis er einmal vor der Wohnungstür eingeschlafen ist, im Treppenhaus. Den Schlüssel in der Hand. Eine Nachbarin hat ihn geweckt und ihm die Tür aufschließen müssen, weil er es nicht geschafft hat. Er trug einen Fan-Schal, den er nicht kannte, seine Brieftasche war verschwunden. Das war wohl der Tag, an dem er dem Alkohol abgeschworen hat. Ausgesprochen hat er es nie, aber aus dem Bier wurde Cola. Das war’s.

Anke schenkt sich ein Glas nach. »Gestern bin ich in die Alfred-Döblin-Straße gefahren.«

Christians Hand mit den Chips verharrt in der Luft, kurz vor seinen Lippen. »Warum machst du so was? Warst du in der Nähe? Zufällig kommt man da ja eigentlich nicht vorbei.«

»Ich wollte mal nachsehen.«

»Was? Was wolltest du nachsehen?«

»Ob immer noch Familie Wegert dort wohnt.«

»Diese Nachmieter? Woher weißt du, wie die heißen?«

»Ich bin 1990 schon mal dorthin gefahren und habe meinen Teddy abgeholt. Seitdem weiß ich, wer in unserer Wohnung lebt.«

Christian legt die Chips in die Tüte zurück, schnipst einige Krümel vom T-Shirt und stellt den Ton der Übertragung leiser. »Ist das so ein Lou-Ding? So ein ›Ich will alles wissen-Ding‹? Hat sie das von dir?«

»Frag mich bitte nicht, was mich damals geritten hat – wie ich überhaupt dahin gekommen bin und wieder zurück. Aber ich habe es geschafft: Ich habe meinen Teddy abgeholt. Ist der eigentlich bei dir? Ich kann ihn nicht finden.«

»Warum sollte der bei mir sein? Ich weiß nicht, aber das Gespräch nimmt eine Wendung, die mir nicht gefällt. Wenn du dieses Vieh vermisst hast, warum hast du mir damals nicht gesagt, dass ich ihn mitbringen soll? War der 1990 noch in unserer Wohnung?«

»Es war gruselig. Nicht nur der Teddy war in der Wohnung, die Leute, die in unserer Wohnung lebten, wirkten wie reingesetzt. Ich habe unsere Tapete gesehen und unsere Möbel, sogar unsere Klamotten hatten die an.« Anke bemerkt, dass Christian sprachlos ist. »Ehrlich, so war es. Ich habe gesagt, ich habe hier mal gewohnt, und ich möchte meinen Teddy haben. Sie haben mir die Tür vor der Nase zugeschlagen und ihn mir dann zwei Minuten später rausgereicht. Dann haben sie noch mal die Tür vor meiner Nase zugeknallt, und ich bin gegangen.«

»Was für eine Scheiße.« Christians Stimme klingt einfühlsam. »Ich habe damals deine Freundinnen durch die Wohnung geführt, sie haben sich alles Mögliche mitgenommen.«

»Das hast du nie erzählt. Wer war denn da?«

»Julia und ihre Freundinnen. Wie hießen die? Diese Mädels, mit denen du immer herumgehangen hast.«

»Hast du denn noch Kontakt mit irgendwem von damals, aus der Schule oder der Ausbildung?«

»Nein, du?«

»Julia habe ich vor einiger Zeit mal wiedergesehen. Und vorgestern bin ich irgendeinem Chat bei WhatsApp hinzugefügt worden, weil ein Klassentreffen ansteht.«

»Wirst du hingehen?«

Anke zuckt die Schultern. »Ich weiß nicht, war ja nicht so einfach damals. Keine Ahnung, ob ich die wiedersehen will.« Sie sieht ihn an. »Sag mal, wie war das eigentlich für dich, als wir weg waren? Warst du sicher, dass du nachkommen würdest? Hast du dich nicht … einsam gefühlt?«

Die Chipstüte knistert laut, während Christian konzentriert darin herumtastet. »Wirklich einsam war ich ja nicht. Die Bredendorf wollte ihr Tranchierset zurück, die Müllers haben geklingelt und mir Hilfe angeboten, und selbst der Hausgemeinschaftsleiter, der bei seinen Kontrollrunden bei jedem klingelte, um sich nach dem Wohlbefinden zu erkundigen, hat das dann auch bei mir getan. Er hat mich ernsthaft zum Subbotnik, den gemeinschaftlichen Arbeitseinsätzen, eingeladen. ›Jetzt, wo Ihr Vater ausfällt‹, hat er gesagt. Es war echt krass, wie schnell das die Runde gemacht hat. Und jeden Tag stand ein Auto vor der Tür, und da drin saßen zwei Herren, die das Haus beobachtet haben. Aber das waren ja alte Bekannte.«

»Inwiefern?« Anke ist irritiert von allem, was er da erzählt. Es sind so viele Informationen, so viele Namen und Bilder von Menschen, die in ihr hochdrängen.

»Na, die uns schon in den Tagen davor überwacht haben.«

»Wir sind überwacht worden?«

Nun grinst Christian. »Selbstverständlich. Gut, dass du es nicht mitbekommen hast. Hätte dich nur beunruhigt. Und natürlich habe ich mich einsam gefühlt, aber eher in Hinblick auf Konrad und Elisabeth. Ich habe damals versucht, ihnen auszuweichen. Wenn Opa angerufen hat, bin ich nicht rangegangen, und wenn er vorbeigekommen ist, habe ich behauptet, ich müsste los, zu irgendeiner Verabredung.«

»Aber warum? Warum hast du das gemacht?«

»Ich wollte auf eigenen Beinen stehen, auf mich selbst aufpassen. Mit einem Mal hatte ich eine Wohnung und ein Auto. Zumindest die paar Tage, bis es in die Werkstatt kam, weil es verkauft werden sollte. Und ich hatte viel Geld, die Eltern hatten einiges abgehoben, über einen längeren Zeitraum, und für mich im Schrank deponiert.«

»Ach so, weil sie es nicht mitnehmen durften?«

»Genau, und das waren mehrere tausend Mark. Ich bin dann in den Exquisit gegangen und habe mir geile Klamotten gekauft. So richtig heißen Westscheiß.«

Anke sieht Christian am Flughafen vor sich und erinnert sich an die Jeansjacke mit Lederapplikationen. Sie hatte das nie hinterfragt und angenommen, er hätte die Jacke in Gießen in der Kleiderkammer erhalten.

Irgendwas an diesem Gespräch stimmt nicht. Julia, die in ihrem Zimmer herumwühlt. Die Stasi-Männer im Auto, das im Schrank deponierte Geld. Die Jacke aus dem Exquisit-Laden. Es ist ein Störgefühl, das die innere Anspannung füttert.

So viele Dinge, von denen sie nichts weiß, weil sie ihr verschwiegen wurden.

Plötzlich versteht sie, warum Lou so viel fragt: weil man sich bescheuert vorkommt, wenn alle von irgendetwas wissen, nur man selbst nicht. »War dir damals eigentlich schon klar, dass du nicht mitkommen wirst?« Der Satz knallt aus ihr heraus.

Mit einem Mal ist Christian auf der Hut, es ist ihm anzusehen. Er beugt sich ein Stück zurück, zieht die Augenbrauen zusammen. »Mit meinem 18. Geburtstag war klar, dass ich aus dem Antrag rausgefallen bin. Das war jetzt nicht so ein Geheimnis, das war gesetzlich geregelt.«

»Ich wusste es aber nicht. Und ihr habt mir das damals auch nicht gesagt, wir haben deinen Geburtstag noch lustig gefeiert. Du hast von Oma und Opa Kohle für die Fahrerlaubnis bekommen. Daran erinnere ich mich noch genau.«

»Bist du dir sicher, dass wir nie darüber gesprochen haben? Wir haben doch so oft über den Ausreiseantrag geredet.«

Sie sieht ihn mit zusammengekniffenen Augen an, ihr Ton wird kühl. »Verkauf mich bitte nicht für blöd, das habt ihr vielleicht unter euch besprochen, aber mir hat es am Tag der Ausreise den Boden unter den Füßen weggerissen.«

»Ja, okay, Sherlock, ist ja gut.« Mit einem Mal weicht er ihrem Blick aus. »Wir haben es einfach nicht übers Herz gebracht, es dir zu sagen. Niemand wusste, wann sie uns oder euch gehen lassen. Und ob es überhaupt klappt. Wir wollten dich nicht belasten.« Er steht auf und läuft vor dem Fernseher auf und ab.

»Das war …«, sie hat Worte auf der Zunge, die sie sich dann doch verkneift, »sagen wir, es war schwierig.«

Mit hängenden Schultern steht Christian vor seinem riesigen Fernseher. Hinter seinem Rücken fällt das langersehnte Tor. Anke sagt es ihm nicht. Sie genießt es, ihm mal etwas zu verschweigen. Einfach nur so. Um zu wissen, wie es sich anfühlt, Dinge, die für andere wichtig sind, nicht zu erwähnen. Damit sie sich nicht aufregen.

»Es tut mir leid. Wirklich.« Christian klingt kläglich.

»Ich weiß. Ich will noch mal zur alten Wohnung. Bei Wegert klingeln.«

»Warum? Was soll das?«

»Ich will … ich weiß nicht. Willst du nicht wissen, wie sie an unsere Wohnung gekommen sind?«

»Nein. Die KWV wird sie ihnen zugewiesen haben.«

»KWV

»Die Kommunale Wohnungsverwaltung. So war das doch damals. Du konntest ja nicht einfach eine Wohnung mieten, man hat sich bei der KWV gemeldet, und dann ging das alles seinen geregelten Gang. Und wie gesagt: Ich will das nicht wissen. Wozu?«

»Mich würde das schon interessieren.« Anke verschränkt die Arme vor der Brust.

»Dann musst du hinfahren.«

»Du schuldest mir was.«

Lange betrachtet Christian sie. »Nein, Schwesterherz, nicht ich schulde dir was. Honecker schuldet dir was, die DDR , die ganze Bagage, aber nicht ich. Ich war immer da für dich, und ich habe dich immer beschützen wollen. Komm mir jetzt nicht so.«

»Ist ja gut«, Anke murmelt es fast. Sofort ist da das schlechte Gewissen.

In dem Moment dreht Christian sich zum Fernseher, sieht, dass ein Tor für Deutschland gefallen ist. Er schlägt mit der Faust in seine Hand, brüllt auf und greift hektisch zur Fernbedienung

Das hat er trotzdem verdient, denkt Anke und grinst zufrieden.