LOU,
IM SEPTEMBER 2015

»Kannst du mal mein Handy aus der Tasche nehmen und es leise stellen?«

»Ich wundere mich schon die ganze Zeit, warum dein Handy ständig brummt.« Lou schaut kurz zu Anke hinüber, die das Lenkrad fest im Griff hält. Ihre Brille, die sie nur zum Autofahren trägt, hat sie auf die Nasenspitze geschoben. Die dunklen Haare sind straff im Zopf gebunden, und wie immer ist da nicht eine Haarsträhne, die sich zufällig gelöst hat.

»Das ist die WhatsApp-Gruppe wegen des Klassentreffens der POS heute Abend.«

»Oh, das ist ja spannend, wann musst du da sein?«

Anke wirft ihrer Tochter einen geringschätzigen Blick zu. »Das ist die Klasse, in der mich niemand mehr kannte, nachdem wir den Ausreiseantrag gestellt hatten. Du glaubst doch nicht, dass ich da hingehe.«

»Und warum bist du noch in der WhatsApp-Gruppe?«

Anke bremst abrupt, vor ihr schert ein Wagen auf ihre Spur ein. »Du stellst immer Fragen, für die ich dir die Ohren langziehen möchte. Zu 1: Weiß ich nicht, und zu 2: Weiß ich nicht.«

»Hui, du bist heute ja so richtig im Gleichgewicht!«

»Sorry. Ich habe mich das ja auch schon gefragt. Aber irgendwie weide ich mich an ihrem Chat, in dem sie sich darüber auslassen, wie sie bei Bewerbungen noch immer ihre Ostidentität verschweigen. Wie andere an ihnen beruflich vorbeiziehen, weil sie aus dem Westen kommen. Interessant zu beobachten, es sind ganz andere Themen als in meiner Oberschulklasse.«

»Also ist das so etwas wie eine späte Rache?«

»Könnte man sagen. Für die bin ich die West-Tussi, auch wenn das niemand sagt, solange ich in der Gruppe bin. Aber ich finde es cool, nicht hinzugehen. Ich hoffe, mich umgibt mit dieser Entscheidung ein wenig eine Aura der Arroganz.«

Lou lacht laut auf. »So kenne ich dich gar nicht, ich wusste nicht, dass du fies sein kannst, und nachtragend.«

Nun grinst auch Anke amüsiert.

»Siehst du dich denn als Westfrau?« Kurz fragt Lou sich, wie sie ihre Mutter wahrnimmt, aber sie findet keine Antwort. Weil diese Frage sie nicht interessiert, hat sie noch nie darüber nachgedacht.

»Eigentlich nicht. Ich bin weder das Eine noch das Andere, ich kann sozusagen wechseln. Mal fühle ich mich als Ostfrau, dann wieder als Westfrau, wie ich es gerade brauche.«

Erneut geht es wieder nur im Schritttempo voran. Sie weiß schon, warum sie nie Auto fährt, bemerkt Lou einmal mehr. Der Feierabendverkehr auf dem Stadtring beginnt freitags stets früher und geht dafür meist länger. Sie schaltet das Radio ein.

Zu ihrer Freude haucht Aurora aus den Lautsprechern – von den Echos der Vergangenheit, die in ihr nachhallen. Running with the wolves tonight , summt Lou mit. Plötzlich bricht sie ab, schaut ihre Mutter an und sagt: »Übrigens, ich habe Henning besucht.«

Anke schaltet das Autoradio aus. »Du hast was?«

Lou verschränkt die Arme vor der Brust, sie ist sich bewusst, wie provokativ dieser Satz wirken muss. Die Reaktionen auf Ankes Gesicht wechseln binnen Sekunden von Erstaunen zu Skepsis.

»Und warum das?«

»Ich habe das Gefühl, in unserer Familie wird Geschichte totgeschwiegen.«

»Ist das nicht ein bisschen dramatisch formuliert?« Anke schaltet grob in den nächsten Gang, das Getriebe kracht.

»Ich kann mich nicht erinnern, jemals mit dir über diese Zeiten gesprochen zu haben. Wenn ich zurückdenke, habe ich den Eindruck, das Leben von euch hat erst in West-Berlin begonnen. Und wenn du über die Zeit in Ost-Berlin sprichst, dann machst du immer nur Witze, die mit dem Satz beginnen: Wir hatten ja nichts …«

»Was willst du denn wissen? Ich war auf einer POS , und ich habe in einem Plattenbau gewohnt. Ich war ein Teenie, als wir das Land verlassen haben, ich habe drei Hosen besessen, und mein Lieblingshemd war aus kratzendem Dederon. Solches Zeug willst du hören?«

»Ist es dir schwergefallen zu gehen? Fangen wir doch mal damit an.«

»Ich wurde gar nicht gefragt. Nein, das stimmt nicht – die Eltern haben mich gefragt, aber es kam dann trotzdem überraschend.«

»Findest du es gut, dass ihr gegangen seid, wenn du heute zurückschaust?«

»Ich weiß es nicht. Ich hatte eine wunderschöne Kindheit. Wir haben den Sommer über in der Datsche verbracht. Dein Uropa hat mir alles beigebracht, was ein Kind wissen muss: wie man schwimmt und Tierfährten liest, wie man Äpfel erntet. Fußball spielen, auf Fingern pfeifen. Ich war ein ›Draußen-Kind‹. Die Saison begann im April und dauerte bis in den Oktober, solange das Wetter es zuließ. Mir ging es gut. In der Schule hatte ich eine Freundin, eine nette Lehrerin. Zumindest in den ersten Grundschuljahren. Und ja – wir haben immer diese bekloppten Lieder gesungen, und immer hing dieses Honecker-Bild an der Wand. Aber das hatte ganz lange nichts mit mir zu tun.«

Nun schiebt Lou ihren Gurt ein Stück tiefer, um sich seitlicher hinzusetzen. »Und ab wann hatte das etwas mit dir zu tun?«

»Als wir den Ausreiseantrag gestellt haben. Am nächsten Tag ging es los: das Mobbing in der Schule. Natürlich hat das damals noch niemand so genannt, aber genau genommen war es das.« Anke weicht dem Blick ihrer Tochter aus.

»Warum redest du dann nie darüber?«

»Warum sollte ich? Es ist Jahrzehnte her. Manchmal ist es schön, wenn Dinge vorbei sind und man nicht mehr daran rühren muss.«

»Wie war’s denn für dich, im Westen zu sein? Von einem Tag auf den anderen?«

»Ich war zu Gast. Alles war so bunt und wirkte so neu, auf Hochglanz poliert. Die Regale waren voll, und die Menschen haben mich angeschaut und einfach angesprochen.«

»Hat dich das erstaunt?«, fragt Lou. »Warum sollten sie das nicht tun?«

»Wenn ich zurückdenke, war das Leben in der DDR blasser, irgendwie ausweichender. Zurückhaltender. Getrennt in ein Leben draußen und eines zu Hause. Man hat ein zweigeteiltes Leben geführt.«

»Und hattest du ein Gefühl von Freiheit? Also im Westen? Und vorher ein Gefühl der Unfreiheit im Osten, war das wirklich so?«

»Was wird das hier? Ein Interview? Läuft irgendwo so ein Aufnahmegerät mit?« Anke tippt mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. »Also gut: Nein, ich habe mich nie eingesperrt gefühlt, dafür war ich wahrscheinlich zu jung. Wenn ich ehrlich bin, kann ich das Reisen bis heute nicht als so einen wahnsinnig wichtigen Teil meines Lebens ansehen. Da bin ich zum Beispiel anders als deine Oma Isa. Griechenland, Marokko und so. Sie konnte es gar nicht abwarten, jedes Jahr im Sommerurlaub die Koffer zu packen und abzuhauen. An diesem Tag im Januar 1988 hatte ich auch das Gefühl, wir verreisen. Interessanterweise habe ich mich eher nach der Ausreise eingeschränkt gefühlt – denn ich konnte nun nicht mehr in die DDR zurück.«

»Das erschließt sich mir jetzt nicht.«

»Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich noch keine Vorstellung davon, wie sehr meine Freiheit generell eingeschränkt war. Die DDR war mein Zuhause, der Westen, das waren ein paar Bilder im Fernsehen. Aber als wir dann im Westen waren und ich nicht zurückkonnte, wusste ich ja genau, wie es auf der anderen Seite war. Und ich habe mich halt eher an die schönen Dinge erinnert: an Opa in Bestensee, an meine Freundinnen, mit denen ich Streusel zum Naschen gebacken habe, wie beim Streuselkuchen halt nur ohne Kuchen. Manchmal haben wir sie noch roh verputzt, und wir haben Karamell in Flaschendeckel gegossen, um uns Lollis herzustellen – mit Stiel natürlich. Meine ersten Schminkversuche habe ich mit Florena-Schminke gemacht, die Reihe hieß Action , die sah so cool aus. Die könntest du heute wieder verkaufen. Schön abgekupfert vom West-Design, aber ich war stolz darauf. Also lauter so kleine, aber schöne Sachen. Ich habe erst nach und nach verstanden, welche Konsequenzen das hat, und ich habe vieles zurückgelassen, um diese Reise zu unternehmen.«

»Verreist du deshalb so ungern?«

»Ich verreise ungern?« Nun sieht Anke sie kurz an. Ihre Augenbrauen sind zusammengezogen.

»Ja, irgendwie schon. Und wenn du es machst, ist es immer ein Staatsakt. Du buchst ein dreiviertel Jahr vorher, schließt mindestens eine Reiserücktrittsversicherung ab, hinterlegst deinen Schlüssel und eine Notfallliste, falls dir etwas passiert, und du beginnst ungefähr drei Wochen vorher, deine Sachen zu packen. Deine Reiseapotheke ist fast ein eigener Koffer. Warum machst du das, wenn es so viel Aufwand für dich ist?«

»Wie machen das andere?«

»Sie buchen, wenn sie das überhaupt tun. Manche fahren auch einfach los. Sie packen, räumen ein wenig auf und geben den Schlüssel beim Nachbarn ab.«

Das Gesicht der Mutter verzieht sich vor Entsetzen. »Um Himmels willen, das geht ja gar nicht. Aber ich gebe es zu: An dem Gedanken könnte was dran sein. Als wir das erste Mal nach Griechenland verreist sind, war das schon toll, am Meer zu sein. Das Mittelmeer ist ja doch noch mal anders als die Ostsee. Also beides ist schön, aber in Griechenland ist es noch heller, wärmer. Ich habe mich dort sehr willkommen gefühlt und mochte alles: die weißen Häuser, die blütenbewachsenen Fassaden, die fremde Sprache, Moussaka und Frappé. Aber weißt du, was mir wirklich deutlich in Erinnerung geblieben ist? Ich habe meine Armbanduhr verloren. Vermutlich habe ich sie vergessen, im Hotel, nehme ich an, aber ich weiß es nicht.« Sie schweigt eine Weile, ihre Finger tasten über ihr Handgelenk, als würde sie die Uhr noch heute suchen. »Das ist es, was du wissen willst? Die Geschichte deiner Mutter, die als Teenie auch noch ihre Uhr verlor und deshalb nicht gern reist? Weil sich in ihr das Bild festgefressen hat, Reisen bedeutet Verlust?«

»Ja, das möchte ich schon.«

»Es ist in Wahrheit noch viel schlimmer: Ich kaufe keine teuren Koffer, ich könnte sie ja verlieren. Und ich nehme nur günstigen Schmuck mit, bloß nicht meine Lieblingsstücke, die meist etwas kostspieliger waren. Und den Pass trage ich in einer Bauchtasche.«

Lou streicht ihr über den Arm. Manchmal hat sie das Gefühl, die Erwachsenere von ihnen beiden zu sein. Das ist wieder einer dieser Momente.

»Ich bin gern zu Hause.«

»Ich weiß. Aber warum kaufst oder mietest du dir nicht eine Gartenlaube? Warum verreist du dann noch?«

»Eine Laube, so wie damals?«

»Ja, so mit Johannisbeeren und Pflaumenbaum.«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe die Fotos gesehen.«

»Ein schöner Gedanke. Das würde passen. Ja, ich würde gern was pflanzen. Ich hätte gerne Wurzeln.«

»Hast du keine?«, fragt Lou im Flüsterton.

»Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob ich jemals welche ausgebildet habe – nach dem ersten Umtopfen sozusagen.«

Nun lässt Anke das Lenkrad los und streicht Lou über die Wange. Sie bemerkt, wie gut diese Geste ihr tut.

»Ich schreibe momentan Tagebuch, wenn du magst, kannst du gern mal reinschauen, wenn ich fertig bin. Ich versuche, genau solche Dinge festzuhalten. Aber jetzt reden wir nur über mich. Wie war es denn mit Henning und Marietta? Ich fand ihn recht furchterregend beim Geburtstag. So ein alter, wütender Mann.«

»Nein, er ist eher ein alter, trauriger Mann. Es ist vielleicht wie bei dir – jede Entscheidung hinterlässt Spuren im Leben. Die beiden sind sehr nett, du würdest sie mögen. Sie sind Ende der 60er-Jahre nach Rheinland-Pfalz gezogen. Henning hat in West-Berlin eine Ausbildung zum Optiker absolviert, irgendwann hat er dann einen eigenen Laden eröffnet. Den führt heute sein Sohn. Also einer seiner beiden Söhne. Marietta war Schulsekretärin, das passt zu ihr. Sie war sicherlich das Herz der Schule.«

»Du bist ja ganz begeistert.«

»Schon. Ja. Durchaus. Ich denke, einiges von dem, was er denkt, stimmt nicht, aber die Gespräche, die wir geführt haben, waren gut.«

Anke parkt ein und schaut auf den 80er-Jahre-Flachbau, der schon aus der Ferne anzeigt: Ich bin eine Jugendfreizeiteinrichtung. »Weißt du, was ich mich gefragt habe nach unserem Telefonat zur Flüchtlingshilfe: Ob sie auch in Marienfelde Flüchtlinge aus Syrien unterbringen?«

»Ja, das machen sie.«

»Irgendwann zeige ich dir Marienfelde mal.«

»Gern. Willst du gleich hinfahren?«

»Nein, jetzt sind wir hier. In Lichterfelde, am Arm der Welt. Und was machen wir jetzt hier?«, fragt sie.

»Flüchtlingshilfe, habe ich dir doch gesagt.«

»Das ist mir klar, aber was genau?«

»Sorry, aber ich kenne die Organisatoren. Sie wollen heute Abend ausloten, wie groß die Hilfsbereitschaft ist.«

»Na, denn mal los. Bei so vielen Leuten, wie da gerade auf das Gebäude zulaufen, könnte es schwierig werden, einen Sitzplatz zu bekommen.« Anke stößt die Autotür auf, ihre Tasche in der Hand. »Und ich habe schon im Flüchtlingsheim gelebt, wer kann das hier schon von sich sagen, dass er monatelang mit Vietnamesen zusammengelebt, Bad und Küche geteilt und gemeinsam Reis gekocht hat?« Sie winkelt den Arm an und schließt die Faust.

Es ist das Zeichen von Stärke. Lou muss lächeln, aber sie nimmt es Anke ab. Zögerlich und dauerhaft besorgt, aber trotzdem stark und zielstrebig.

Ein Widerspruch in sich. Ja, das ist sie.

Doch wenn Anke Hauschke etwas will, dann schafft sie das. Schon immer. »Mama?«

Anke dreht sich erstaunt um, auch Lou glaubt, sich verhört zu haben. Wann hat sie ihre Mutter das letzte Mal als Mama angesprochen? Sie wedelt mit der Hand in der Luft herum. »Ich wollte dir nur sagen: Ich freue mich auf dein Tagebuch.«

»Ehrlich? Warum?«

Lou zögert. »Weil es mir das Gefühl gibt, du hörst mich. Und du zeigst dich.«

Hastig verlässt Anke das Auto.