Die Gardinen waren nicht aufgezogen, das Zimmer war in Dämmerlicht getaucht. Es roch ungelüftet. Nach kaltem Zigarettenrauch, abgestandenem Alkohol und Schweiß. Elisabeth hatte im Vorbeigehen in der Küche, im Flur und nun auch hier, im Wohnzimmer, Teller mit Essensresten stehen sehen. Sechs hatte sie gezählt. Auf dem Couchtisch standen leere Weinflaschen, eine Sektflasche war umgekippt. Daneben Gläser, einige mit Lippenstift verschmiert, im Aschenbecher stapelten sich Zigarettenstummel. Im Teppich entdeckte sie zwei Brandlöcher. Elisabeth atmete tief durch. Der Junge war bleich, seine Augenringe tief, das Kinn mit einem Dreitagebart überzogen. »Warst du arbeiten, seitdem …?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Interessiert doch keinen mehr.«
Es juckte Elisabeth kurz in den Fingern, die Schere zu nehmen und diese albernen langen Strähnen in Christians Nacken, die offensichtlich modern waren, abzuschneiden. Wer so rumlief, brauchte sich auch nicht zu wundern, wenn er Ärger bekam. Das hatte Henning damals auch schon nicht verstanden.
So wie Konrad, so hatte ein erwachsener Mann auszusehen: seriös, vertrauenswürdig. Der Anzug saß akkurat, die Lederschuhe waren geputzt. Schick sah er aus, während er zum Fenster ging, die Gardinen aufzog und die Balkontür öffnete. »Davon würde ich nicht ausgehen«, sagte er. »Aber es scheint dir ja nicht schlecht zu gehen. So, wie es aussieht, bist du ordentlich am Feiern.«
»Was soll ich denn sonst tun? Dann haben die Jungs da unten«, Christian wies zur Straße hinaus, »wenigstens etwas aufzuschreiben. Sonst langweilen die sich doch.«
Konrad trat auf den Balkon und sah hinunter, dann nickte er. »Tatsächlich! Ich habe die vorhin gar nicht bemerkt.«
»Seit wann stehen die da?«, fragte Elisabeth.
»Keine Ahnung. Seit Tagen. Schon vor der Abreise.«
»Wir waren schon ein paarmal hier, aber wir haben dich nie angetroffen.« Der Zweifel in Konrads Stimme war deutlich, der Vorwurf, Christian habe sich ihren Besuchen entzogen, unüberhörbar.
»Ich hatte viel zu tun.«
»Aber jetzt sollten wir vorbeikommen, hast du gesagt.« Elisabeth versuchte, einen sanftmütigeren Ton anzuschlagen als ihr Mann.
Christian sah Konrad an. »Opa, du hattest mich doch angerufen und mir aufgetragen, ich soll den Wagen verkaufen. Ja, und ich habe ihn in die Werkstatt gebracht, um zu prüfen, ob alles in Ordnung ist, weil unser Nachbar ihn nehmen würde.«
»Welcher Nachbar?«, fragte Elisabeth, obwohl es sie eigentlich nicht interessierte.
»Herr Müller. Die wohnen im Stockwerk über uns.«
»Und gibt es Probleme mit dem Wagen?«, fragte Konrad.
»Allerdings! Die Bremsleitungen sind durchgeschnitten.« Christian sah zu Konrad, dann zu Elisabeth. Sie war unsicher, ob so etwas wie Triumph in seinem Blick lag. Das Schweigen, das im Raum stand, nahm ihr die Luft zum Atmen. Sie konnte förmlich spüren, wie dämlich sie mit ihren weit aufgerissenen Augen wirken musste. »Die Bremsen sind angeschnitten?«, flüsterte sie.
»Also, eine Bremsleitung, um genau zu sein. Papa hatte schon gesagt, dass der Wagen in den letzten Tagen schlechter bremste.«
»Aber wenn die Bremsleitungen durchgeschnitten sind, dann bremst er doch gar nicht mehr«, erwiderte Konrad ungeduldig. »Da muss ein Irrtum vorliegen.«
»Nein, viele Trabis haben ein Ein-Kreis-Bremssystem, dieser hat ein Zwei-Kreis-Bremssystem. Das ist noch recht neu, da gibt es dann einmal Bremsen für die Vorder- und einmal für die Hinterreifen. Getrennt voneinander. Die Bremsen an den Hinterreifen scheinen noch zu funktionieren. Ich glaube, da hat einfach jemand nicht gewusst, was er tut.«
»Ob das einer von den Oppositionellen war? Die liegen sich doch ständig alle in den Haaren.«
Nun lachte Christian auf, es klang fast höhnisch. Er wies zur Decke. »Meinst du, wir werden abgehört?«
»Nein, warum?«
»Warum sagst du dann so was? Oppositionelle sind Leute, die frei sein wollen. Die reisen wollen und so. Keine Kriminellen.«
Es war gut, dass der Junge auf der Couch saß, einige Schritte von ihr entfernt, stellte Elisabeth fest, sonst hätte sie wahrscheinlich wieder ausgeholt und dieses Mal sogar ihrem Enkel eine Ohrfeige verpasst. Vor Wut. Wie konnte er seinem Großvater gegenüber so respektlos sein? Abermals sog sie tief die Luft ein.
Sie war neuerdings reizbar.
Irgendetwas in ihr war aus dem Lot geraten.
Glücklicherweise schien Konrad gefasster, er ignorierte Christians Spitzen. »In welcher Werkstatt hattest du denn den Wagen?«
»Na, in der, die du mir genannt hast. Er scheint schon gehört zu haben, dass die Eltern weg sind. Der Mechaniker hat wohl versucht, erst dich zu erreichen. Es hat nicht geklappt, und dann hat er sich bei mir gemeldet. Was ja auch sinnvoll ist, schließlich habe ich ihm den Wagen vorbeigebracht.«
Konrad fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
»Kann das stimmen?«, fragte Elisabeth ihn. »Dass die Bremsen …?«
»Vermutlich schon.«
»Das heißt …«, sie geriet ins Stottern, so unfassbar war es, den Gedanken zu Ende zu bringen, »… sie haben tatsächlich in Kauf genommen …«, wieder brach sie ab.
Christian schaute sie aufmerksam an. »Ja, sie haben das Leben meiner Eltern und eurer Tochter riskiert, und das Leben eures Schwiegersohnes, eurer Enkelin und das Leben Unbeteiligter, die in einen Unfall hätten verwickelt werden können.«
»Hast du das schon deinen Eltern erzählt?«
Christian schüttelte den Kopf. »Warum? Hast du Angst, die könnten sich ins Gespräch einklinken? Die haben doch ohnehin das Telefonat mit dem Mechaniker mitgehört, wenn er nicht schon eine Meldung gemacht hat.«
»Darum geht es mir nicht. Deine Eltern sollen sich keine Sorgen machen.«
Seufzend winkte Christian ab. »Ich werde mit dem Auto nicht mehr fahren.«
Elisabeth senkte die Stimme und beugte sich zu Christian vor. »Sie werden Angst haben, dass noch irgendwas passiert. Dass du es vielleicht nicht schaffst, rüberzukommen, dass irgendetwas dazwischenkommt.«
»So wichtig waren die Eltern denen?« Christian sah ungläubig aus. »So wichtig, dass sie sich rächen, indem sie mir etwas antun?«
»Na offensichtlich schon.« Elisabeth hörte selbst, wie kläglich sie klang.
»Dieses Scheißdreckssystem«, sagte der Junge, nahm eine der Sektflaschen und trank einen großen Schluck daraus.
Konrad ging auf ihn zu, nahm ihm die Flasche ab. »Du gehst jetzt duschen. Dann räumen wir hier auf. Und morgen gehst du wieder arbeiten.«
»Warum? Was soll das?« Christian klang unwillig.
»Sonst wird das gegen dich verwendet, glaube es mir.«
»Ach, du kennst dich wohl aus?«
Konrad sah ihn an. Dann nickte er. »Allerdings. Das kannst du mir glauben.«