Havenstein-Eck. Eine Kreuzberger Kneipe ganz nach Lous Geschmack. Dunkel, in die Jahre gekommen, mit ein wenig zu lauter Musik. Eine interessante Wahl für einen Termin mit einem Mitarbeiter einer Berliner Behörde. Sie mustert Pete, der diesen Ort vorgeschlagen hat und eigentlich Peter heißt. Zumindest zu Schulzeiten wurde er mit diesem Namen noch angesprochen. Doch er scheint das mit der Verkürzung jetzt durchzuziehen, denn in der Mail-Signatur des Stasi-Unterlagen-Archivs steht ebenfalls Pete Schmidke.
Sie hatten sich damals beide für die Theater-AG der Oberstufe entschieden. Lou war gerade in die neunte Klasse gekommen, er war bereits im Kurssystem. Als zweite Besetzung hatte sie anfangs viel herumgesessen, als sie dann so weit war, erste Rollen zu übernehmen, hatte er längst sein Abi gemacht und war von der Schule abgegangen. Bereits zu Schulzeiten soll er in der Hausbesetzerszene gelebt haben. Sie weiß nicht, ob an diesem Gerücht etwas dran ist, denn wo haben Investoren in Berlin und Umgebung noch nicht zugeschlagen und alles verhökert? Sie kann sich aber vorstellen, dass er so unterwegs war. Alles an ihm war zu Schulzeiten linksalternativ bis autonom, zumindest nach außen hin. Sich vorzustellen, dass er nun in einer Behörde arbeitet, ist überraschend. Inzwischen haben sie ihre Erinnerungen an die Schule abgeglichen, aufgezählt, mit wem sie noch in Kontakt sind, und sich gegenseitig einen Einblick in ihre aktuelle Lebenssituation gegeben.
Pete hat sein Bierglas in der Hand und schaut sie interessiert an. »Ehrlich gesagt war dein Antrag einer der absurdesten, die in letzter Zeit bei uns auf dem Tisch gelandet sind. Was hast du dir dabei gedacht?«
»Ich muss Antworten auf die Frage bekommen, was in meiner Familie alles unter den Teppich gekehrt wird. Kannst du das verstehen?«
»Sicherlich. Aber dein Antrag hat keine Chance, es tut mir leid, das so sagen zu müssen.«
»Bist du sicher?«
»Yep, so richtig.«
Lou kommt sich ein wenig dämlich vor. Warum hat ausgerechnet er ihren Antrag in die Finger bekommen? »Interessierst du dich nicht für deine Familiengeschichte? Hast du nie nachgeschaut, ob es Unterlagen zu deinen Angehörigen gibt?«
Hastig nimmt Pete einen Schluck. Dann beobachtet er den zerfallenden Schaum in seinem Glas. »Nein, natürlich nicht.« Er seufzt. »Vielleicht ein bisschen. Was ist denn bei euch passiert? So einen Antrag stellt man ja nicht grundlos.«
Lou streicht sich über die Augen. »Ein Verwandter ist damals geflohen, im November 1962. Recht spektakulär sogar, und in meiner Familie wurde nie über ihn gesprochen. Ich wusste nicht einmal, dass es ihn gibt. Er war damals verliebt, ganz frisch. Er lebt jetzt in Rheinland-Pfalz mit dieser Frau, ich habe sie besucht.«
»Woher weißt du von ihm, wenn niemand über ihn spricht?«
»Die beiden tauchten bei einer Familienfeier auf und machten meiner Uroma, die im Magistrat gearbeitet hat, Vorwürfe, sie hätte vom Mauerbau gewusst und ihn nicht gewarnt. Du kannst dir sicherlich vorstellen, was das an Wellen geschlagen hat.«
»Ja, dann gehörte deine Urgroßmutter schon mal zu den Geheimnisträgern, das bietet immer viel Raum für Spekulationen.«
»Was, Geheimnisträger?«
»Ja, sagen wir es mal so: Geheimniskrämerei wäre vermutlich treffender. So war es einfach: Wer im Roten Rathaus arbeitete, war verpflichtet, nicht über seine Arbeit zu sprechen. Und glaube mir – da gab es auch sehr viele unspektakuläre Jobs in der Verwaltung, Buchhaltung und ähnlichen Bereichen. Aber es klang halt immer beeindruckend. Also wie kommt dein Verwandter zu der Annahme, deine Urgroßmutter hätte vom Mauerbau gewusst?«
»Es wurde beispielsweise schon Wochen vor dem Mauerbau mit der Lagerung von Tausenden von Wäschepfählen, so Betondingern, begonnen. Angeblich wurden die in Brandenburg gehortet, wohl immer in Grenznähe. Und es wurde rollenweise Stacheldraht bestellt, absurderweise in der BRD , das muss man sich mal vorstellen.« Lou spürt, wie sehr ihre Wangen bereits brennen: Der Alkohol zeigt Wirkung. »Er sagt, bereits am 11. August seien Polizisten aus der ganzen DDR nach Ost-Berlin abgezogen worden. Und die Nationalen Streitkräfte wurden mit einem Manöver beschäftigt. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber es klingt schon so, als wäre spürbar gewesen, dass irgendwas in der Luft lag. Er sagt, es war Urlaubszeit, die Menschen waren an der Ostsee, an den Seen oder verbrachten die Zeit in ihren Datschen. Aber es gab Gerüchte, man wolle Berlin dichtmachen.«
Pete nickt. »Ja, die Stadt war das Tor zum Westen, saß wie so ein Stachel inmitten des Fleisches der sowjetischen Besatzungszone. Die restlichen Grenzen zwischen der DDR und der Bundesrepublik waren ja bereits seit 1952 geschlossen.«
»Wow, du kennst dich aus.«
»Es ist mein Job. Aber was hat das jetzt mit euch zu tun?«
»Na, hör mal!« Empört richtet sich Lou auf. »Schon zwei Monate vorher schwafelt Ulbricht auf einer Pressekonferenz herum und haut den Satz raus: ›Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.‹ Und wie er dann seine Freud’sche Fehlleistung dem Westen angehängt hat. Er meinte, der Westen wünsche sich, man würde die Bauarbeiter der DDR mobilisieren, so ein Ding zu bauen. Jetzt mal ehrlich: Deutlicher geht’s doch nicht mehr. Kurzum: Viele haben es geahnt, es gab Hinweise auf das, was kommen könnte, und meine Uroma saß im Zentrum der Macht.«
Nun lacht Pete schallend auf, zwei Frauen am Nachbartisch drehen sich nach ihm um.
»Nein, das Zentrum der Macht war damals am Döllnsee.«
»Wie bitte? Wo?« Er hat sie aus dem Konzept gebracht. Ihre Empörung fällt in sich zusammen und kommt ihr plötzlich künstlich vor. Lou sieht Pete eindringlich an. Augenblicklich ist sie ein wenig in ihn verknallt.
Weil er klug ist.
Ein intelligenter Mensch, der zuhört, abwägt, nicht die Spur herablassend ist und viel zu einem Gespräch beizusteuern hat. Sein eher unauffälliges Gesicht, das auf sie zuvor unscheinbar wirkte, nimmt sie mit einem Mal als empfindsam wahr. Jetzt ist sie neugierig, mehr zu erfahren.
»Na ja, wenn man es kurzfasst, ist es die Zeit der Berlin-Krise. Der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow hatte drei Jahre zuvor gefordert, die Alliierten sollten aus West-Berlin verschwinden«, sagt er und zuckt mit der Schulter.
»Ich weiß. Berlin sollte eine freie Stadt werden.« Lou nickt. »Kennedy hat dem im Juli 1961 eine Absage erteilt, er hat deutlich gemacht, West-Berlin solle ein Testfall sein, an dem sich westliche Entschlossenheit ablesen lässt.« Sie nimmt einen Schluck Wein. Täuscht sie sich, oder ist Petes Blick auch mit einem Mal aufmerksamer?
»Genau, und ein paar Tage, bevor Kennedy sich dazu äußert, hat Chruschtschow den Befehl gegeben, die Grenze zu West-Berlin zu schließen. Zu dieser Zeit fliehen rund 300 Menschen pro Tag aus der DDR , im gesamten Juli 1961, zumindest wird das später geschätzt, sollen es sogar gut 30 000 gewesen sein.«
Lou winkt nach der Kellnerin, denn sie braucht einen Kaffee. Sie muss einen klaren Kopf bewahren. Entweder ist sie neuerdings sapiosexuell und steht auf den Intellekt anderer Menschen, oder dieser Mann ist wirklich interessant. Über sein Wissen hinaus. Aber um das erfassen zu können, muss sie mit Koffein den angenehmen Triesel loswerden.
Pete lehnt sich ihr entgegen und senkt die Stimme. »Walter Ulbricht bereitet das also vor. Im Geheimen. Den Auftrag gibt er an einen 49-Jährigen, den er vielversprechend findet. Ein ganz gut aussehender Typ, der sich damals gern in gut sitzenden Anzügen oder im schwarzen Rolli zeigt: Erich Honecker. Und was besonders interessant ist: Nicht einmal die Regierung, der Ministerrat, war in diese Vorbereitungen eingeweiht.«
»Es klingt wie ein Drehbuch für einen Film, den niemand umsetzen würde, weil alles so unrealistisch erscheint«, flüstert Lou.
»Am 12. August hatte also Cheffe einige seiner illustren Mitstreiter um sich geschart, es war so etwas wie ein Sommerfest am Döllnsee. Irgendwo habe ich gelesen, Ulbricht sorgte dafür, dass niemand telefonieren konnte, denn irgendwann zwischen 20 und 22 Uhr eröffnete er den Gästen seinen Plan. Er wolle die Grenze von Berlin schließen lassen – und zwar in dieser Nacht. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber er soll gefragt haben: ›Alle einverstanden?‹«
»Und dann begann am 13. August, ab ungefähr 1 Uhr, die Schließung«, ergänzt Lou.
»Genau, da ratterte nachts die Befehlskaskade los, und Honecker beaufsichtigte das Ganze. Er fuhr angeblich von Grenzabschnitt zu Grenzabschnitt, und diejenigen, die den Befehl ausführten, waren fleißig: 68 von 81 Übergangsstellen waren am Morgen geschlossen. Langfristig blieben acht offen.«
»Der Stacheldraht der BRD war also durch Berlin gezogen.«
»Genau. Und zwölf S- und U-Bahn-Linien waren unterbrochen. Bürgermeister Willy Brandt erschien am Morgen an der Grenze, aber dann passierte von offizieller Seite erst einmal sehr lange nichts bis sehr wenig.«
Die Kellnerin stellt den Kaffee vor Lou ab, die sich in die Gegenwart zurückgeholt fühlt, aus einer Vergangenheit heraus, die sie gerade mit Pete erkundet hat.
Ihre Köpfe sind dicht beieinander.
Zu dicht.
Ist das jetzt ein Arbeitstreffen? Eine private Verabredung, also eine Art Wiedersehen? Oder ein Date? Lou nimmt die Tasse und lehnt sich zurück, als bräuchte sie Platz, um einen Schluck Kaffee zu trinken. Nach einigen Schlucken schaut sie Pete direkt an. »Du hast das erzählt, um mir deutlich zu machen, dass irgendeine Frau in irgendeinem Magistratsgebäude der DDR , selbst wenn es das Rote Rathaus war, nichts davon wusste. Nichts davon gewusst haben kann?«
»Genau das meine ich. Entweder gehörte sie zum engsten Kreis von Honecker und hat sich beispielsweise um die Bestellung des Baumaterials gekümmert. Aber dann wüsstest du, dass sie mit ihm zusammengearbeitet hat. Und das hat sie nicht, oder?«
»Richtig.«
»Hatte sie mit der Stasi oder der NVA zu tun? Vielleicht wäre denen noch was aufgefallen.«
»Nein.«
Nun grinst Pete. »Na ja, und im Haus am See war sie vermutlich auch nicht. Hilft dir diese Erkenntnis weiter?«
Lou pustet in den Kaffee, schüttelt den Kopf. »Nein, war sie nicht. Ich meine: ja, danke, das hilft mir weiter. Ich war auch lange der Meinung, ich würde den aktuellen Forschungsstand dazu kennen, ich habe gründlich recherchiert. Aber dieser Verwandte, den ich besucht habe, der ist durch und durch überzeugt davon. Ich war inzwischen ebenfalls so weit, es zu glauben. Er hat gut argumentiert. Und trotzdem weiß ich immer noch nichts über meine Familie. Und da war ja auch noch die Ausreise meiner Großeltern mit meiner Mutter …«
Abermals lacht Pete auf. Lou genießt den Klang seiner Stimme. Sie spürt, wie zärtlich ihr Blick wird, vorsichtshalber weicht sie dem seinen aus und betrachtet stattdessen die Bilder an der Wand.
»Deine Großeltern, deine Mutter«, er atmet tief ein. »Was um Himmels willen war denn mit denen?«
Verschmitzt lächelt Lou ihn nun an. »Hast du Zeit?«
Er nickt.
Sie weiß: Nun ist es an ihr zu erzählen, all das, was sie bisher weiß. Noch einmal will sie abtauchen.
Wieder mit ihm.