ANKE,
IM SEPTEMBER 2015

Haushaltsauflösungen steht auf dem Lkw, der im Schatten der Bäume parkt. Anke sucht sich eine Parklücke und bleibt sitzen. Vom Auto aus beobachtet sie, wie mehrere Männer Möbel aus dem Haus schleppen. Sie ist sicher: Hier wird Frau Wegerts Wohnung aufgelöst. Erst jetzt bemerkt sie, noch nie einen ausführlicheren Gedanken an einen Herrn Wegert verschwendet zu haben, aber selbst wenn es ihn gibt, interessiert er sie nicht. Eine Weile sieht sie den Möbelpackern bei ihrer Arbeit zu. Kühlschrank, Waschmaschine, Stühle, Tisch und zwei Stehlampen verschwinden über die Laderampe in der Tiefe des Wagens. Keines dieser Möbelstücke hat sie je gesehen, und dennoch hat Anke den Eindruck, mit jedem Elektrogerät und Möbelstück, das im Lkw verschwindet, etwas zu verlieren.

Es fühlt sich an, als würde auch ihre Wohnung aufgelöst, denn schließlich waren die Wegerts in die von Familie Hauschke eingerichtete Wohnung eingezogen.

Oft hat sie darüber nachgedacht, wie sie sich das vorstellen muss: Es hatte sicherlich die Zuweisung der Wohnung gegeben, und die Familie war vermutlich begeistert gewesen, einen komplett ausgestatteten Haushalt übernehmen zu können.

Hatten sie ihre eigenen Möbel verschenkt?

Das an Frau Wegert gekuschelte Mädchen war damals ein Schulkind. Es war also keine frisch gegründete Familie.

Ob sich die Eltern getrennt hatten und die Frau nur mit den Kindern dort eingezogen war? Bei der Größe der Wohnung mussten es mehrere Kinder gewesen sein, sonst hätten sie den Zuschlag nicht bekommen.

Und hatte der Hausgemeinschaftsleiter auch noch in der Wohnung herumgewühlt, nachdem Christian weg war und bevor sie an die Wegerts übergeben wurde?

Oder die Stasi?

Sie wird es nie erfahren, das weiß sie.

Aber sie weiß sicher, Christian würde sie jetzt wieder als Sherlock beschimpfen, wenn er mitbekäme, wo sie gerade ist und was sie sich für Gedanken macht.

Aber seit sie durch die geöffnete Wohnungstür geblickt hat, gab es in ihr das Gefühl, ein Stück ihres früheren Zuhauses würde noch existieren.

Zwar in fremder Hand, aber nicht ausgelöscht.

Es war nicht verschwunden.

Ein Teil der Familiengeschichte existierte noch und wurde von anderen Menschen benutzt.

Nun wird diese fremdgenutzte Wohnung aufgelöst. Warum passiert das jetzt, ausgerechnet in diesem Moment, in dem sie hier vorbeikommt? Wie kann das sein? Sicherlich ist Frau Wegert schon eine Weile in irgendeiner Pflegeeinrichtung oder verstorben. Bis ein Umzugs- oder Entrümpelungsunternehmen seinen Dienst antritt, vergeht in der Regel viel Zeit. Einfach, weil jede Menge Dinge zu klären sind, je nach Ausgangssituation. Das weiß sie von ihrer Arbeit. Es ist ihr Job, sich um Menschen zu kümmern, die allein und gesundheitsbedingt nicht mehr in der Lage sind, ihr eigenes Leben zu regeln. War das bei Frau Wegert auch der Fall? Oder hat das Mädchen, das jetzt schätzungsweise Mitte dreißig sein muss, ihr zur Seite gestanden?

Vielleicht ist diese Auflösung aber genau der Moment, der es ihr ermöglicht, noch einmal die Wohnung zu betreten? Dem Möbelpacker-Team ist es sicherlich egal, ob eine Frau noch einmal durch die Räume geht. Vielleicht sollte sie vorsorglich eine Kleinigkeit für die Kaffeekasse springen lassen.

Entschlossen steigt Anke aus und läuft auf das Haus zu. Sie eilt die Stufen hinauf, bis sie wieder vor der Wohnungstür steht und das Klingelschild Wegert sieht. Inzwischen abgenutzt, eben wie eines, das seit über 20 Jahren dort hängt.

Sie betritt die Wohnung. Einer der Männer schaut sie abweisend an. »Ja?«, brummt er nur.

»Ich habe hier mal gewohnt. In dieser Wohnung. Darf ich sie noch einmal abgehen, einen Blick in die Zimmer werfen?«

Der Mann zeigt auf einen seiner Kollegen. »Den müssen Sie fragen. Der ist der Chef.«

Offensichtlich hat der Mann das Gespräch mitbekommen, denn er mustert Anke aufmerksam. »Sie können sich umsehen«, sagt er. »Nix anfassen und nicht im Weg rumstehen. Sie sind aber nicht von irgendeiner Behörde geschickt, oder?«

Anke schüttelt den Kopf und tritt ins Wohnzimmer. Die Wohnung muss irgendwann renoviert worden sein. Von den Tapeten kennt sie keine mehr. Auch die Möbel sind ausgetauscht. Sowohl der Flur als auch die Zimmer erscheinen ihr viel kleiner als in ihrer Erinnerung. Die Durchreiche von der Küche zu der Nische, in der der Esstisch gestanden hat, ist noch vorhanden. Auch Couch und Schrankwand sind andere, aber sie stehen an der Stelle, an der die Eltern damals ihre platziert haben.

Sie wendet sich um, wirft einen Blick in die Küche. Hier erinnert ebenfalls nur der Grundriss an früher, und selbst im Bad sind andere Fliesen an der Wand als damals.

Sie läuft weiter, schaut in das linke Zimmer, das als Kinderzimmer gedient hat und ein Durchgangszimmer ist.

Es war ihr Zimmer, und trotzdem bleibt alles still in ihr. Sie hat ein Echo aus der Vergangenheit erwartet, aber hier gibt es nur Teppichfliesen, ein Sideboard mit Glastüren, einen Tisch mit einer Nähmaschine darauf und Lamellenjalousien, vermutlich aus den 90er-Jahren.

Sie öffnet die Tür zum Nachbarzimmer, das damals Christian genutzt hat. Ein Schlafsofa, Bücherregale und sogar ein Schreibtisch sind noch vorhanden. Überbleibsel eines Jugendzimmers, ebenfalls mindestens 20 Jahre alt.

Eigentlich erstaunlich, dass sie als vierköpfige Familie eine Vierraumwohnung erhalten haben, denn es existierten Vorgaben, wie viele Erwachsene mit wie vielen Kindern welche Zimmerzahl zugewiesen bekamen. So viele Zimmer wie bei ihnen waren es nirgends gewesen. Ob da Elisabeth ihre Finger im Spiel gehabt hat?

Im Zimmer, das vom Flur aus gesehen auf der rechten Seite liegt, war das Schlafzimmer der Eltern. Schrank und Doppelbett waren auch hier wie damals platziert, wenn sie die Druckstellen im Teppich und die Schatten an den Tapeten richtig interpretiert.

»Und wie ist es, erkennen Sie was wieder?«, fragt nun der Chef des Umzugsteams. Seine Stimme klingt inzwischen freundlicher.

»Nein, es ist alles renoviert, es ist gute 27 Jahre her. Nicht einmal die Fliesen von damals existieren noch. Der Grundriss ist geblieben inklusive der Durchreiche, aber das war es auch.«

»Sind Sie geflohen?«

»Wir sind im Januar 1988 ausgereist, und es musste sehr schnell gehen. Und so haben wir fast alles zurückgelassen. Manche von denen, die ausgereist sind, haben sich ihre Möbel von Verwandten nachschicken lassen, das war möglich.«

»Ernsthaft? Wie das?«

»Tatsächlich lief das über einen Containertransport, aber meine Eltern wollten nichts aus der DDR behalten. Wegen der Erinnerungen. Wir haben neu angefangen.«

»Wie alt waren Sie?« Der Mann steht breitbeinig neben ihr, die Hände ineinander verschränkt.

»14 Jahre. Ich habe gehofft, ich würde irgendwas –«, sie fühlt sich wie bei einer Tagträumerei ertappt, »eigentlich weiß ich nicht, was ich gehofft habe.« Sie fragt sich, warum sie das diesem Mann erzählt, und mustert ihn. Dunkle Haare, mittelgroß, eher drahtig als muskulös.

»Ich kenne das.« Er erwidert ihren Blick.

Und plötzlich sieht sie es: diesen Schatten in seinem Blick, den Schmerz, der kurz über seine Gesichtszüge huscht. »Wie alt waren Sie?«, fragt sie.

»Sieben. Es war der erste Golfkrieg. Ich komme aus dem Iran. Und ein wenig beneide ich Sie. Ihr Land ist zusammengewachsen.«

»Ich weiß nicht!« Anke ist überrascht, wie energisch sie klingt. »Was ich meine: So war es nicht, also nicht für mich. Ich habe die DDR zweimal verloren. Einmal, als wir gingen, aber nach dem Mauerfall gab es sie noch. Ich bin als Jugendliche heimlich nach Ost-Berlin gefahren, und ich gebe zu, es war komisch. Aber als dann die Vereinigung kam, war es vorbei. Sie war weg.« Sie hält inne. »So habe ich es noch nie formuliert. Aber entschuldigen Sie, ich rede nur von mir, und ich möchte meine Erfahrungen nicht mit Ihren vergleichen. Die waren ungleich härter, da müssen wir uns nichts vormachen. Ich merke nur gerade: Einfach war es trotzdem nicht. Wie war und ist das bei Ihnen?«

Er schüttelt den Kopf. »Wir haben wieder Krieg, dieses Mal Bürgerkrieg.« Er fährt mit der Hand durch die Luft. »Kommen Sie mal mit, eine Sache habe ich entdeckt …«

Er klappt eine Leiter auseinander und stellt sie im Flur auf. Erst jetzt bemerkt Anke den Hängeboden, der nachträglich eingezogen worden ist. Der Mann steigt die Leiter hinauf, schiebt einen Frottee-Vorhang mit Blumenmuster beiseite und zieht eine Kiste aus dem Dunkel. »Die habe ich gestern gesehen«, er dreht die Kiste um, »irgendwo war Vormieter draufgeschrieben. Das waren doch dann Sie und Ihre Familie, oder?«

»Ja, das ist wahrscheinlich.«

»Kannten Sie die Familie, die nach Ihnen hier eingezogen ist?«

»Nein, nicht wirklich.«

»Möchten Sie die Kiste mitnehmen? Ich habe nur kurz einen Blick reingeworfen, aber nichts entnommen.«

Anke nickt und nimmt ihm die Kiste ab, die in etwa die Größe einer Umzugskiste hat. Sie ist schwer, als wären Bücher darin gestapelt. »Danke. Wirklich: Noch einmal vielen Dank …«

»Gern, aber ich muss jetzt weitermachen. Passen Sie gut auf sich auf, ich hoffe, Sie finden schöne Dinge darin, die Sie an die guten Momente erinnern.« Er steigt die Leiter herab und klopft ihr auf die Schulter.

Er meidet ihren Blick, und sie weiß, was er denkt.

Bereits im Treppenhaus kommen ihr die Tränen. Sie stellt die Kiste auf der Rückbank ab, und noch mit offener Autotür nimmt sie ihr Handy und wählt Christians Nummer. Als sie den dunklen Ton seiner Stimme vernimmt, diesen seit ihrer Kindheit vertrauten Klang, schluchzt sie auf.

»Was ist los?« Christian ist sofort hörbar alarmiert.

»Ich habe eine Kiste von früher. Von uns. Von unserer Familie. Du Arsch, warum bist du nicht mitgekommen?«

»Wo bist du?«

»Zu Hause. In Marzahn. Alfred-Döblin-Straße«, schreit sie ins Telefon.

»Soll ich dich abholen?«

»Nein.« Anke greift ein Taschentuch, wischt sich über die Wangen und zerknüllt es in ihrer Hand. »Bist du zu Hause?«, fragt sie. »Kann ich kommen? Ich werde die nicht alleine aufmachen können.«