Lou sitzt im Schneidersitz auf dem Dielenboden. Um sie herum liegen mehrere Stapel Papier, seitenweise Kopien in Schwarz-Weiß, auf denen die Schreibmaschinen-Typo gleich mit dem ersten Blick einen Eindruck gibt, dass diese Unterlagen aus dem letzten Jahrtausend stammen.
Aus einem Land, das es nicht mehr gibt.
Und je länger Lou über all das nachdenkt, was sie in den letzten anderthalb Tagen gelesen und über Notizen in einem Zeitstrahl rekonstruiert hat, wird eines deutlich: Elisabeth hat gelogen.
Unentwegt.
Über Jahre hinweg.
Sie hat nicht nur ihre Nachbarn und Freunde, sondern auch ihre Familie in dem Glauben gelassen, sie hätte im Roten Rathaus eine Position bekleidet, die mit Verantwortung einhergehen würde. Nicht einmal, als die Mauer fiel und sich das Land wieder vereinigte, der Sozialismus zu einer Randnotiz der deutschen Geschichte wurde, hat sie sich bequemt, die Wahrheit zu erzählen.
Eines ist damit immerhin sicher: Elisabeth hat tatsächlich nichts vom Mauerbau gewusst.
Sie hat ihren Bruder nicht schützen können, weil es nicht in ihrer Macht lag. Genau genommen ist es sogar andersherum: Er hat sie in Schwierigkeiten gebracht, denn er war der Grund, weshalb sie degradiert wurde. Schon am Tag nach seiner Flucht wurde sie vom Schreibtisch weg von der Stasi abgeholt, um direkt in irgendeinem abgelegenen Raum im Roten Rathaus vernommen zu werden. Über die Unterlagen ist deutlich geworden, dass die Herren der Stasi Elisabeth kein Wort ihrer Beteuerungen, eine aufrechte Sozialistin zu sein, glaubten. Sie waren der Meinung, es wäre wichtig, sie von ihren Aufgaben zu entbinden, und schon hat sie im Aktenarchiv gesessen.
Aber wie hat sich dieses Bild von ihr halten können, dieser Eindruck eines »Flintenweibes«, wie es ihr Bruder formuliert? Gut, er weiß ja nichts von ihrem weiteren beruflichen Werdegang, aber auch innerhalb der Familie galt sie immer als erfolgreich und bescheiden gleichzeitig. Denn viel reden wollte sie nicht über ihre Arbeit. Wie hat sie das geschafft?
Konrad.
König Konrad. Jetzt erkennt sie es: Er hat Elisabeth immer in den Himmel gelobt. Und niemand hat es infrage gestellt. Vermutlich war es in Zeiten vor dem Internet einfacher, eine Behauptung in den Raum zu stellen und an ihr festzuhalten. Den Akten hat sie darüber nichts entnehmen können, vermutlich war es der Stasi egal, was sich die beiden für ein Konstrukt zusammengebaut haben, um ihren Alltag weiter bestreiten zu können.
Es folgten Jahre in den Unterlagen, in denen es nur die eine oder andere Aussage von Menschen aus Elisabeths Arbeitsumfeld gab, Berichte von Verfassern, deren Namen geschwärzt waren und die nichts zu vermelden hatten, was von Interesse war.
Aber dann, im Januar 1988, erfolgt ein zweiter großer Einschnitt in Elisabeth Simons Leben, der in den Akten sehr deutlich wird: Die Ausreise der Tochter führte erneut zu Gesprächen, allerdings endeten die Berichte hier schneller.
Lou seufzt, auf irgendeine Weise erscheint es ihr folgerichtig: Womit hätte die Stasi Elisabeth denn noch bedrängen können? Trotz allem kann sie sich vorstellen, dass die Stasi damals durchaus erwogen hat, sie in irgendeinen Konsum zu stecken und an die Kasse zu setzen. Aber nichts dergleichen war geschehen – wer interessierte sich auch für eine Frau mittleren Alters, die ohne Widerspruch im Archiv des Roten Rathauses ihr Dasein fristete und weiterhin brav alle Anforderungen erfüllte, die man an sie herantrug? Die nicht aufbegehrte, ganz gleich, was geschah.
Ob man sie aus der Partei geworfen hat?
Einen Hinweis darauf kann Lou nicht finden, aber sie ist auch nicht sicher, ob die Unterlagen vollständig sind. An der einen oder anderen Stelle entsteht durchaus der Eindruck, es würden Anschlussberichte fehlen. Berichte über eine Frau, die ihren Traum, eine neue und gerechte Welt mitzugestalten, Ende der 80er-Jahre vermutlich längst begraben hatte und stattdessen miterleben musste, wie die Tochter dem, was die sozialistische Realität bot, den Rücken kehrte. Ohne sie einzuweihen.
Die Einsamkeit, die Lou aus diesen Unterlagen herausliest, lässt sie frösteln.
Doch warum hat Elisabeth das gemacht? All die Jahre vorgetäuscht, sie würde zu denen gehören, die Einfluss haben. Günter Schabowski hat sie immer wieder mal erwähnt, so getan, als wäre sie mit ihm befreundet oder zumindest in guter Bekanntschaft. Das hat sogar sie, Lou, parat. Also sogar über den Fall der Mauer hinaus hat die Uroma festgehalten an … was?
Es ergibt keinen Sinn.
Warum hat sie sich nicht mit jenen zusammengeschlossen, die sich dem System entgegenstellten?
Warum hat sie nicht gegen den Druck aufbegehrt? Schon viel früher, zum Aufstand am 17. Juni 1953, der mit russischen Panzern brutal beendet wurde? Oder zum Mauerbau? Bei der Flucht ihres Bruders? Wie – wie hat sie es geschafft, an alledem festzuhalten? Sogar noch, nachdem das System ihr selbst so zugesetzt hatte?
Warum war sie nicht an der Seite ihrer Tochter?
Lou sieht zum Fenster, es ist längst dunkel geworden. Die Stehlampe, die sie angeschaltet hat, wirft einen kreisrunden Lichtschein auf die Unterlagen. Sie schiebt die Blätter vor sich beiseite, nimmt einen Schluck Wasser aus der Flasche und kriecht in ihr Bett.
Sie ist müde, so erschöpft.
Ein kurzes Nickerchen, dann kann sie weitermachen oder zumindest Zähneputzen gehen. Sie legt den Kopf aufs Kissen und winkelt die Beine an. Während sie den Geräuschen im Hinterhof lauscht, die durchs angelehnte Fenster hereinwehen, drängt erneut ein Gedanke in ihr auf, den sie seit der Antragstellung erfolgreich beiseitegedrängt hat:
Sie hat Elisabeths Grenzen überschritten.
Sie hat, ohne zu fragen, Einblick in ihr Leben genommen.
Und das Ergebnis rechtfertigt ihre Handlung nicht.
Lou hält inne. Was ist das für eine Schlussfolgerung? Wäre es verzeihlicher, wenn sie entdeckt hätte, ihre Urgroßmutter hätte ihren Bruder verraten? Was hätte sie dann getan? Die alte Frau zur Rechenschaft gezogen und sich danach Beifall heischend bei Henning gemeldet?
Meint sie das ernst? Denkt sie das wirklich?
Ist es nicht eher so, dass sie sich derart übergriffig verhalten hat wie jene Menschen, vor denen sie sich während der Lektüre der Stasi-Unterlagen gegruselt hat?
Lou setzt sich auf, ihr Herzschlag scheint unregelmäßig geworden zu sein. Sie bemüht sich um einen gleichmäßigen Atemrhythmus.
Es lässt sich nicht leugnen: Sie ist ein Arschloch.
Wenn Elisabeth erfährt, was sie getan hat, wird sie nie wieder ein Wort mit ihr wechseln. Vielleicht wird sie sogar eine Anzeige gegen unbekannt stellen, um herauszubekommen, wer ihre Unterlagen herausgegeben hat.
Lou hat die Leselampe nicht ausgeschaltet, das Zimmer verschwindet im Halbdunkel, nur die Papiere liegen weiterhin im Lichtschein.
Schwarze Buchstaben auf weißem Papier.
Stumme Zeugen.
Waren da nicht noch Unterlagen von Konrad?
Die Frage schießt ihr regelrecht durch den Kopf. Sie kann es nicht glauben. Da ist sie wieder: diese skrupellose Seite in ihr, diese Neugier und das Übergriffige.
Für einen Moment ist sie gespannt, welche Seite in ihr die Überhand gewinnen wird. Diejenige, die sie berechtigterweise als Arschloch bezeichnet, oder jene, die wissen will? Alles. Immer. Dieser kontrollwütige Freak, der nicht erträgt, wenn andere Menschen sich abgrenzen.
Abrupt steht sie auf, holt die Kiste unter dem Schreibtisch hervor und öffnet sie. Tatsächlich: Auf dem Boden liegt noch ein Stapel Papiere von vielleicht zwei Zentimeter Höhe, mit einem Schießgummi umwickelt. Ein lächerlicher Stapel, wenn man den von Elisabeth dagegenhält. Sie hat ihn ignoriert, weil sie versessen darauf war, herauszubekommen, ob ihre Uroma eine Verräterin war. Sie schluckt schwer, würgt das schlechte Gewissen hinunter.
Konrad S. ist mit schwarzem Stift auf dem Deckblatt vermerkt. Nicht mehr und nicht weniger.
Nun hat sie bereits Elisabeths Grenzen überschritten, ist es dann nicht auch sinnvoll, gleich noch Konrads Akte zu lesen? Oder wäre es ein Rest von Anstand, seine Unterlagen jetzt zu schreddern?
Erneut setzt sich Lou in den Schneidersitz, zieht den Schießgummi ab, legt den Papierstapel auf ihren Schoß. Dann beginnt sie zu lesen.