LOU,
IM SEPTEMBER 2015

Sie ist in der Hölle gelandet.

Sie weiß es, und sie hat es selbst verschuldet.

Hastig wirft Lou die Stasi-Unterlagen über Konrad in die Kiste zurück, es fühlt sich an, als hätte sie sich die Finger verbrannt. Eine gefühlte Ewigkeit sitzt sie an ihrem Schreibtisch und versucht zu erfassen, was sie gerade gelesen hat. Fast verflucht sie Pete, weil er ihr die Unterlagen unter der Hand zugeschickt hat.

Dann geht sie auf die Knie und krabbelt auf allen vieren durch die Stapel aus Elisabeths Akte, die noch immer den Boden ihres Zimmers bedecken. Sie blättert, schichtet um und durchforstet die Papiere. Dann findet sie die gesuchten Blätter. Es sind mehrere Seiten, und sie hat sie bereits durchgesehen, ihnen aber kaum Beachtung geschenkt, auch wenn sie überlegt hat, wer aus dem Freundeskreis der beiden diese Berichte verfasst haben könnte.

Nun weiß sie es: Es war Konrad.

Konrad Simon höchstselbst.

Sie holt den Stapel von Konrads Unterlagen aus der Kiste und blättert ihn erneut durch. Zum Beginn der Akte finden sich die erwartbaren Aufzeichnungen aus den 80er-Jahren, die rund um die Flucht der Tochter samt Familie gemacht worden sind. Konsequenzen hatten Konrad beruflich anscheinend nie gedroht, da sein Fachwissen sowohl im IFA Motorenwerk Johannisthal als auch nach seinem Wechsel Ende der 60er-Jahre im VEB Kühlautomat Berlin unantastbar war, was er genau gemacht hat, entzieht sich ihrem spärlichen Verständnis. Irgendwas mit … Konstruktionsarbeiten und Berechnungen, erst für Traktoren, später für Kälteanlagen – das muss reichen.

Sie hält inne.

So einfach war das also – schon außergewöhnliche Fachkenntnisse in einem Bereich, den nur wenige beherrschten, konnten damals offensichtlich eine Schutzwirkung entfalten.

Sie blättert weiter, geht in den Unterlagen zurück in die Vergangenheit.

Es sind Berichte, die von Kolleginnen und Kollegen geschrieben sind, das ist trotz der Schwärzung offensichtlich, denn sie behandeln Arbeitszusammenhänge. Sie sind freundlich formuliert und erzählen Belanglosigkeiten. Insgesamt ist es bis hierhin eine unspektakuläre Akte.

Sie blättert hastig weiter.

Die zeitlichen Abstände werden größer, in den 70er-Jahren ist es regelrecht ruhig um Konrad. Viel Aufmerksamkeit hat ihm die Staatssicherheit in dieser Zeit nicht gewidmet. Lou leckt die Fingerspitzen an, weil die Papiere zusammenkleben, und blättert weiter.

Der in der Akte verbleibende Papierstapel ist dünn, inzwischen ist sie in den 60er-Jahren angekommen, und die haben es in sich. Es sind nur wenige Berichte, und die Akte wirkt ebenfalls nicht vollständig.

Sie weiß aus Recherchen, dass in irgendeiner Richtlinie gefordert wurde, auf die Zuverlässigkeit möglicher Inoffizieller Mitarbeiter zu schauen. Es sollte darüber befunden werden, ob eine Eignung bestand, die sich aus unterschiedlichsten Kriterien speisen konnte. Dazu wurde das Leben der jeweiligen Anwärter ausgeleuchtet, grell und schlaglichtartig, inklusive des beruflichen Umfelds. Um die sogenannten Gewinnungsmöglichkeiten abzuwägen, schon das Wort verursacht ihr eine Gänsehaut, wurde auch auf kompromittierende Tatsachen geachtet. Die als Faustpfand bezeichnet wurden. Noch so ein ekelhaftes Wort.

Angewidert blättert sie weiter.

Diese Unterlagen sind Jahrzehnte vor der Herausgabe der MfS-Richtlinie entstanden. Aber sicherlich waren es genau solche Erfahrungen wie die mit Konrad, die dazu geführt haben, den Druck auf die Führungsoffiziere zu erhöhen. Wegen Menschen wie Konrad wurde das Handeln vermutlich vereinheitlicht und professionalisiert. Weil die Ergebnisse der operativen Arbeit weit hinter den Erwartungen zurückblieben.

Nichts in der Akte lässt darauf schließen, ob es ein Faustpfand gab, wie die Stasi es später nannte, um Konrad zu erpressen.

Ob Pete vielleicht Berichte beim Kopieren vorab aussortiert hat? Aber wäre es dann nicht sinnvoll gewesen, auch die drei Berichte, die alles auf den Kopf stellten, wegzulegen?

Lou überfliegt die Berichte. Es ist belangloses Zeug, vermutlich hat er seinen Führungsoffizier damit verärgert. Die Heranziehung eines Informanten wurde ja später durchaus als Prozess verstanden, bei dem anfangs auch wertlose Informationen akzeptiert wurden. Das Ziel dabei war klar: Wenn der Zuträger erst einmal als Informant an der Angel des MfS zappelte, konnte genau das als Faustpfand genutzt und der Druck erhöht werden, um zu einem späteren Zeitpunkt tiefergehende Informationen abzurufen.

Es war der Pakt mit dem Teufel – immer.

Und eine eigene MfS-Akte wurde bereits bei der Überprüfung angelegt, nicht erst mit der Heranziehung und Einbindung eines Informanten.

Ob Konrad vielleicht ein sogenannter Selbstanbieter gewesen war? Jemand, der seine Dienste von sich aus dem MfS angetragen hatte, um sich Vorteile zu erarbeiten?

Aber welche sollten das gewesen sein?

Und sicherlich hätte es Möglichkeiten gegeben, Berichte abzuliefern – über Nachbarn oder Kollegen, doch nicht über die eigene Frau. Seine Berichte waren inhaltlich und in ihrer Seitenzahl dünn, und sie versiegten schnell.

Wenn er kein Selbstanbieter gewesen war, lag der Schluss nahe, dass man seine unausgesprochene Weigerung, weiter zu berichten, hingenommen hatte. Irgendwann wurde so ein Vorgang dann archiviert, das hatte ihr Pete an dem Abend im Havenstein-Eck erläutert. Wenn jemand die Zusammenarbeit nicht mehr wollte, schloss das MfS in der Regel schlichtweg die Akte, ohne angedrohte Sanktionen folgen zu lassen. Der Führungsoffizier hatte einen Bericht abzufassen, der den Sachverhalt darstellte, die Schwierigkeiten zusammenfasste und im Fazit zu dem Schluss kam, es wäre besser so. Denn ein Kandidat, der auswich und bagatellisierte, war reine Zeitverschwendung.

Lange Zeit hatten die Führungsoffiziere versucht, ein Feindbild aufzubauen, es war ihre Methode gewesen, bei möglichen Kandidaten die Motivation zu erhöhen, denn gesäter Hass war billiger als irgendwelche Zugeständnisse in Sachform. Wenn sie das bei Konrad auch getan hatten, ihn mit Hass gefüttert hatten – wer war denn dann der Feind gewesen?

Elisabeth?

Was für ein Druck, wie viele Lügen.

War das Nichterzählen von Veränderungen bereits eine Lüge?

Ja, sicherlich.

Ob Elisabeth davon wusste? Und hatte Konrad jemals erfahren, wie sehr Elisabeth nach der Flucht des Bruders bedrängt und beruflich sanktioniert worden war? Sicherlich hatte er sich das an den Fingern einer Hand abzählen können, denn es war der Standard gewesen, der alle Angehörigen von Republikflüchtigen ereilt hatte.

Lou fährt sich mit den Händen über das Gesicht. Sie hat Einsicht in zwei Leben erhalten, über zwei Menschen, deren Leben zusammenhängen. Sie kann den Akten nicht entnehmen, was der jeweils andere von all diesen schriftlich festgehaltenen Vorkommnissen weiß.

Jeder Gedanke, den sie anstellt, ist nichts als Mutmaßung. Sie kann keine verlässlichen Schlüsse aus den Unterlagen ziehen. Erstmals ahnt sie, warum es Menschen gibt, die in der DDR gelebt haben und die keinen Antrag auf Einsicht in ihre Akte stellen. Bisher hat sie es nicht verstehen können, aber vielleicht ist das die Erkenntnis:

Manchmal gibt es keine Antworten.

Nur neue Fragen. Das Schweigen in der Familie erscheint ihr, je mehr sie erfährt, immer undurchdringlicher und inzwischen sogar furchteinflößend. Denn dieses Schweigen ist eine Reduktion. Eine Art Destillation des Alltags, in dem Grausames, Traumatisches und Unbequemes herausgefiltert wird, um ungetrübt fortfahren zu können.

Doch der Filter der Simon-Hauschkes ist vollgelaufen.

Und Henning hat den letzten Anstoß dazu gegeben.

Seitdem vermengt sich alles, vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart, verwischt sich Licht mit Dunkel, wird Lüge untrennbar von Wahrheit.

Es hat keinen Zweck: Sie kann mit diesem Wissen nicht umherlaufen, so weitermachen, als wäre nichts geschehen. Mit Anke oder Oma Isa zu sprechen, erscheint sinnlos, sie würden wie zuvor nichts beitragen wollen, vielleicht auch tatsächlich nichts beitragen können.

Lou sieht nur eine Chance: Sie muss mit Elisabeth sprechen.

Ihr Blick fällt zur Uhr. Es ist jetzt 3.43 Uhr.

Wolfsstunde.

Jetzt sind ihre Melatoninwerte hoch, Serotonin ist Mangelware. Genau die Zeit, in der Unruhe sich breitmacht, das Einschlafen schwerfällt. Sie kennt sich: Wenn sie in der Wolfsstunde wach wird, darf sie sich selbst nichts glauben und erst recht keine Entscheidungen treffen. Meist sieht die Welt wieder anders aus, wenn am Morgen die Sonne scheint, das Leben erwacht und die Welt sich tatsächlich weiterdreht. Sie lässt die Unterlagen liegen, schaltet den Fernseher ein. Irgendwann wird sie dabei einschlafen, denn das Gedankenkreisen wird so unterbrochen. Sie schaut eine Kochsendung und spürt, wie sie anfängt, sich zu entspannen. Als sie bemerkt, dass die Müdigkeit sich meldet, ist sie selbst neugierig, wie sie ihre Erkenntnisse der Nacht am Tage beurteilen wird.

Die Sonne scheint.

Ein freundlich blauer Himmel, fast ein Hohn nach dieser Nacht.

Doch das Licht ändert nichts an Lous Überlegungen, vielmehr leuchtet es diese noch erbarmungsloser aus. Ihr Kopf dröhnt, sie verspürt eine leichte Übelkeit, eine, die sie bekommt, wenn sie tagelang zu viel Kaffee trinkt und zu wenig isst. Ihr Plan aus der Wolfsstunde hat Bestand: Sie muss mit Elisabeth sprechen.

Doch viel dringlicher ist mit einem Mal das Bedürfnis, Pete anzurufen. Nach der Zustellung des Pakets hat sie versucht, ihn direkt anzurufen, ihn aber nicht erreicht. Sie möchte seine Stimme hören. Lou rutscht wieder unter ihre Bettdecke. Sie hat sich noch nicht bei ihm bedanken können. Das ist doch ein guter Grund, sich zu melden. Oder etwa nicht? Sie wählt seine Nummer und spürt ein Flattern im Bauch, das ihr merkwürdig vorkommt.

»Stasi-Unterlagen-Archiv, Zenker am Apparat«, ertönt eine Stimme, die Lou zusammenzucken lässt. Es ist eher ein Bellen, fast ein Brüllen. Hätte sie gestanden, hätte sie vermutlich die Hacken zusammengeknallt und salutiert. So ungefähr muss ein Oberst klingen, ganz gleich, ob NVA oder Bundeswehr. »Schönen guten Tag, mein Name ist Hauschke, ich hätte gerne Herrn Schmidke gesprochen.«

»In welcher Angelegenheit?« Immer noch klingt Herr Zenker herrisch.

»Das kann ich Ihnen … ähm, bitte, kann ich …«

Offensichtlich ahnt der Oberst, dass dieser Anruf zeitaufwendig zu werden droht. »Ich stelle Sie durch.«

Stille. Genauso abrupt, wie das Gespräch begonnen hat.

»Schmidke.« Ein warmer Ton, fast samtig, denkt Lou, und umgehend sinkt ihr Puls. Sie atmet hörbar aus. Warum ist Telefonieren manchmal so anstrengend?, fragt sie sich und sagt gleichzeitig: »Hey ich bin’s, Lou. Störe ich?«

»Oh, hallo!« Pete klingt augenblicklich angespannt.

»Kannst du sprechen?«

»Das ist eher ungünstig momentan.«

»Ich wollte mich noch mal bei dir bedanken, weil …«, sie bricht ab und wagt es nicht, den Satz zu vollenden.

Wird sie jetzt paranoid?

Sie hat plötzlich Sorge, irgendwer könnte zuhören. Ist das möglich? Vielleicht – wenn er nicht alleine im Büro sitzt oder jemand an seinem Schreibtisch steht. Kurz flackert ihre Neugier auf. Sie würde Pete auch gern mal an seinem Arbeitsplatz sehen.

»Ich gebe dir meine Handynummer.« Pete scheint damit zu bestätigen, was sie denkt – er ist nicht allein.

Lou will aus dem Bett springen, verheddert sich aber in ihrer Bettdecke, strampelt sich frei und findet auf dem Schreibtisch einen Ringblock und einen Bleistift.

Langsam diktiert Pete ihr die Nummer, dann sagt er: »Ich bin heute Abend gut erreichbar, ich freue mich, von dir zu hören.«

Als er aufgelegt hat, reißt Lou den Zettel aus dem Block. Die Decke ist noch immer halb um ihre Beine gewickelt und hat die Papierstapel auf dem Boden durcheinandergebracht. Aber das hat Zeit. Sie schaut auf die Telefonnummer. Heute Abend wird sie Pete anrufen.

Privat.

Ihr Herz schlägt wieder schneller.

Verdammt, dieser Mann riskiert ganz schön viel, denkt sie. Wenn es auffliegt, dass er ihr die Akten kopiert hat, reißt sie ihn mit. Die Konsequenzen ihres Handelns ziehen inzwischen immer weitere Kreise, viel weiter, als sie es am Anfang vermutet hat.

Warum hat nicht ein Sperrvermerk oder so was in der Art auf der Akte gelegen?

Warum waren die Akten nicht verschwunden? Damals dem Schredder zum Opfer gefallen?

Sie will Pete keinen Kummer machen.

Trotzdem freut sie sich schon jetzt, heute Abend mit ihm zu telefonieren. Vielleicht mal mit ihm über Dinge zu reden, die fernab des Studiums, der Familie und der DDR sind.

Bevor sie eine Stunde später die Wohnung verlässt, ist ihre Laune erheblich gesunken. Sie hat Angst vor dem Gespräch mit Elisabeth, aber sie wird nicht darum herumkommen.

Sie bleibt vor dem Spiegel im Flur stehen und schaut sich an: Die Haut ist blass und vom Stress der vergangenen Tage am Kinn pickelig geworden. Das Haar muss nachgefärbt werden, ihr heller Ansatz ist inzwischen deutlich zu sehen. Sie scheint noch dünner geworden zu sein. Gut, dass sie heute Abend nur mit Pete telefoniert. Dass er nicht mitbekommt, wie eine Verräterin im Alltag herumläuft: gestresst und übermüdet.

Arschlochsein ist anstrengend.

Und so sieht also eine aus, die nicht besser ist als jene, die sie vorher besserwisserisch verurteilt hat. Zwar eher in einem übertragenen Sinne, aber sie war immer sicher gewesen: Ihr wäre all das nie passiert – das Schweigen, das Wegducken, das Leben in einem Innen und einem Außen. Ihr moralischer Kompass funktioniert, hätte sie zumindest von sich behauptet.

Und jetzt?

Sie hat sich hinreißen lassen. Sie hat ihrer Neugier nachgegeben, und vor allem ihrer Überheblichkeit. Sie hat geglaubt, ein Recht darauf zu haben, im Leben anderer zu wühlen. Und sie weiß: Genau das haben die Herren der Stasi damals auch gedacht. Mit welcher Begründung auch immer.

Sie hat auf ihr Recht gepocht, sie hat nicht lockergelassen, sie hat wie ein kläffender Wadenbeißer am Bein der Familiengeschichte gehangen.

Und was ist nun dabei herausgekommen?

Erkenntnisse, die sie verstören.

Denn ihr Wissen verändert den Blick auf die Urgroßeltern, und es verändert den Blick auf sich selbst, was der womöglich noch schwierigere Punkt ist.

Es gibt eine Seite an Lou Hauschke, tief in ihrem Inneren, die ist hässlich. Und selbstgerecht.

Sie sieht ihrem Spiegelbild in die Augen.

Es ist wichtig, wenigstens jetzt noch einmal genau zu überlegen, was sie von Elisabeth will: Geht es ihr darum, sich von der Seele zu reden, dass sie im Leben der Urgroßeltern herumspioniert hat? Will sie Vergebung?

Oder hat sie ein ernsthaftes Interesse an einem gemeinsamen Gespräch?

Aber was genau will sie von Elisabeth wissen?

Sie kann sich wohl kaum hinsetzen und die Wahrheit aussprechen.

Lou schüttelt den Kopf und beschließt, das unterwegs zu entscheiden, bis nach Johannisthal braucht sie eine Weile. Umkehren kann sie noch immer, zumindest, was dieses Gespräch betrifft.

Es ist amtlich: Sie ist ein Arschloch!

Das hat sie begriffen.

Und offensichtlich ist sie auch bescheuert.

Die Summe dieser neuen Erkenntnisse beginnt, erdrückend zu werden. Denn was – um Himmels willen – hat sie dazu veranlasst, ihre Uroma zu besuchen?

Lou sitzt am Küchentisch und spürt die Plastiktischdecke an ihren Unterarmen.

»Schön, dich zu sehen.« Elisabeth steht mit dem Rücken zu ihr, während sie Kartoffeln schält.

»Soll ich dir beim Schälen helfen?«

»Nein, danke. Das brauchst du nicht, ich bin gleich fertig, und dann können wir uns deinem Uni-Projekt widmen. Um was geht es genau?«

»Hast du einen Kaffee?«

»Natürlich!« Elisabeth nickt in Richtung der Kaffeemaschine, die auf dem Küchentresen steht. »Den habe ich erst vor einer Dreiviertelstunde aufgesetzt, davon kannst du gerne eine Tasse nehmen, Hafermilch findest du im Kühlschrank.«

Lou erhebt sich, gießt einen Kaffee ein und öffnet die Hafermilch, von der sie weiß, Elisabeth kauft sie nur für ihre Urenkelin. Verzweifelt überlegt sie, wie sie aus dieser Situation wieder herauskommen kann. »Also, wir haben ein Uni-Projekt, bei dem geht es um die DDR . Aber eigentlich bin ich mir nicht sicher, ob ich da mitmachen soll. Ich habe das Thema auch nicht so richtig erfasst.«

»Kannst du ein bisschen konkreter werden, um was geht es denn im Detail? Ums politische System generell?«

»Es geht um die Stasi.«

Lou bemerkt das kurze Zögern des Kartoffelmessers, das durch die Schalen gleitet.

»Und was arbeitet ihr da auf?« Elisabeths Stimme klingt nun vorsichtiger.

»Es geht um die Zusammenarbeit mit Informanten. Die Grundlage ist dabei ein Originalzitat aus dem MfS-Handbuch von 1973, wenn ich mich nicht irre. Man hatte wohl die Anbahnungen zur Zusammenarbeit untersucht, eine absurde Formulierung, wie ich finde. Dabei stellte sich heraus, dass 34 Prozent der Kontaktaufnahmen direkt stattfanden. Mögliche Kandidaten wurden angesprochen, mal am Arbeitsplatz, manchmal auf dem Arbeitsweg, einige wurden sogar in ihrer Wohnung aufgesucht. 33 Prozent erhielten eine Vorladung, sie hatten dann bei der Volkspolizei zu erscheinen oder beim Wehrkreis-Kommando. Manchmal rief die Stasi auch an – wie praktisch: Man hatte vermutlich gleich einen der Führungsoffiziere am Telefon. Generell wurde durch die Stasi wohl vorab schon genau geprüft, in welcher Weise sich der Kandidat zu politischen Problemen äußerte.«

Elisabeth hat sich umgewandt. Sie lehnt am Küchentresen, das Messer in der Hand. »Dafür, dass du das Thema nicht erfasst hast, wie du sagst, bist du aber erstaunlich gut drin.« Ihr Gesichtsausdruck verrät die Skepsis. »Es geht also ums Anwerben Inoffizieller Mitarbeiter, also um Menschen, die Berichte über ihr Umfeld geliefert haben.«

»Ja. Genau genommen schon.«

»Und warum kommst du damit zu mir? Was kann ich da beisteuern?«

Lou pustet in den Kaffee und weicht dem Blick aus, den sie auf sich spürt.

Elisabeth knallt das Messer auf den Küchentisch. »Verdammt noch mal, was ist hier los? Sag mir jetzt, was du willst! Es geht doch hier nicht um ein Uni-Projekt, das sehe ich dir doch an.«

Lou schüttelt den Kopf, dann nickt sie. »Habt ihr eigentlich jemals eure Akten eingesehen? Du und Uropa?« Die Frage ist ihr entschlüpft, ohne ihr Zutun.

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht!«

»Habt ihr jemals die Akte des anderen gesehen, also hast du die Akte von Uropa Konrad gelesen, oder kennt er deine?«

Elisabeth wird bleich, und ihre Lider flattern. Sie beginnt zu wanken.

Lou springt auf, packt sie am Arm und versucht, sie auf einen der Küchenstühle zu setzen.

Doch Elisabeth schüttelt sie ab. »Wer von euch hat Unterlagen über uns?«, schreit sie mit schriller Stimme. »Henning, oder? Sag’s mir, hat er Unterlagen von uns? Oder Hannes?« Sie reißt die Augen so weit auf, dass es grotesk aussieht. »Nein, du hast sie! Natürlich, du musst sie haben!«

»Ja, verdammt, ich habe eure Akten!« Lou weicht dem Messer aus, mit dem Elisabeth sinnlos in der Luft herumwedelt. »Aber ich werde es niemandem verraten, versprochen!«

In diesem Moment betritt Konrad die Küche. »Was zum Henker ist hier los?«, brüllt er. Er nimmt seiner Frau das Küchenmesser ab und schiebt sie auf einen der Küchenstühle.

Elisabeth weist auf Lou. »Sie hat unsere Akten eingesehen.«

Konrads Gesicht wird ausdruckslos, er stemmt die Arme in die Seiten und richtet sich auf. Für sein Alter wirkt er in der kleinen Küche mit einem Mal groß und bedrohlich. »Was hast du getan?«, fragt er leise und betont jedes Wort.

Lou umklammert die Stuhllehne und sieht ihm fest in die Augen. »Die Frage ist doch vielmehr, was du getan hast, Uropa.«

Der gellende Schrei, den Elisabeth als Antwort ausstößt, schmerzt Lou in den Ohren. Dabei hämmert eine Frage in ihrem Kopf: Verdammte Scheiße, was hast du nur getan?