ANKE,
IM OKTOBER 2015

Das abgegriffene LP -Cover zeigt Heinz Erhardt. Anke hat ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, inzwischen werden auch seine Sketche immer seltener im Fernsehen gezeigt. Als Kind hat sie diesen Komiker geliebt. Bei Oma und Opa lief oft der Fernseher, und sobald Heinz Erhardt im Westfernsehen über die Mattscheibe flimmerte, ließ sich Elisabeth erweichen, vom Ostfernsehen wegzuschalten. Aber auch nur dann. Mehrmals haben sie zu dritt auf dem Sofa gesessen und sich amüsiert. Woher sie gewusst haben, wann Heinz Erhardt in ARD , ZDF oder einem der Drittprogramme zu sehen sein würde, kann sie nicht mehr erinnern, ebenso wenig, woher die Großeltern diese Platte hatten. Aber sie weiß, dass sie die Platte irgendwann nach Hause mitnehmen durfte. Sie sieht sich selbst, wie sie an Regentagen im Wohnzimmer am Esstisch gesessen und gemalt hat. Dabei lief diese Platte – hoch und runter.

Sie wendet das Cover. Als sie auf die Rückseite schaut und die Titel der Sketche liest, wird ihr klar: Sie kann noch immer jeden einzelnen mitsprechen.

Sie hat das Gefühl, erneut am Esstisch Platz zu nehmen, direkt auf der Sitzbank, die vor der Durchreiche zur Küche steht, und sich selbst zuschauen zu dürfen …

Sie sitzt da und malt mit Filzern, den Kopf hat sie schräg gelegt vor lauter Konzentration, rechts und links des Kopfes hängen dünne, geflochtene Zöpfe herab, die unterschiedlich dick geflochten sind.

Mit einem Mal sieht ihr kindliches Ich sie an, mit strengem Blick.

»Was ist los?«, fragt Anke und ist überrascht von ihrer eigenen Fantasie. Träumt sie? Oder halluziniert sie?

»Du hast nicht die Wahrheit gesagt.« Die kleine Anke fährt mit dem Filzer durch die Luft, ähnlich einem Dirigenten, nur dass sie ihre eigenen Wörter unterstreicht. »Du hast behauptet, all diese Sachen mit dem System hätten dich erst betroffen, als der Ausreiseantrag gestellt wurde. Das stimmt aber nicht.«

»Wem gegenüber soll ich das gesagt haben?«

»Lou gegenüber.«

»Und warum soll das nicht stimmen?« Nun ist Ankes Neugier geweckt. Egal, was hier gerade geschieht, ob es ein Tagtraum ist, eine der REM -Phasen im Nachtschlaf oder eine Halluzination – es verspricht, interessant zu werden.

»Kannst du dich erinnern«, doziert die Kleine weiter, »in der Schule, es war vermutlich die vierte Klasse, da sollte es eine Aufführung geben. Jeder sollte etwas zum Vortragen einstudieren. Ich wollte unbedingt Heinz Erhardt zum Besten geben, ich konnte schon damals jeden seiner Witze, und ich durfte nicht. Dass du dich daran nicht erinnern kannst, ich fasse es nicht!«

Vage tauchen in Anke die Bilder wieder auf. Tatsächlich hat sie damals die Platte in die Schule mitgenommen und der Lehrerin gezeigt. Sie waren allein im Klassenraum, daran kann sie sich gut erinnern.

Die Lehrerin hat sich umgesehen, und erst jetzt erkennt Anke, wie unbeholfen sie die Platte in den Händen gewendet und wie sie dabei ein wenig gelächelt hat. »Er ist sehr lustig, da hast du recht«, hört sie die Lehrerin noch einmal sagen. Sie nahm ihr die Tasche aus der Hand. Kurz blickte sie zur Tür und schob die Plattenhülle in den Beutel zurück, irgend so ein kariertes Ding mit einer Kordel. Eindeutig selbst genäht. »Aber ich glaube nicht, dass wir einen Sketch von ihm bringen sollten. Was hältst du denn davon, wenn du Witze von Herricht und Preil vorträgst? Ich bin mir sicher, das kannst du genauso gut. Sicherlich haben deine Eltern auch von den beiden eine Platte im Schrank.«

»Die war nett, die Lehrerin«, sagt Anke zu ihrem kindlichen Ich. »Als ich das Klassenzimmer verlassen habe, hat sie mir noch hinterhergerufen, ich solle die Platte besser nicht mehr mitbringen, damit sie nicht verschwindet. Was für eine Formulierung. Sie umfasst beides – Neider, die sie mir klauen, und Systemtreue, die sie als Schund aus dem Westen konfiszieren.«

»Ich mochte Frau Lind gern, und auch die beiden anderen Komiker mochte ich. Aber sie waren nicht Heinz Erhardt, ich war so enttäuscht. Und ich hatte das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Sie hat auch nicht konkret gesagt, dass es wahrscheinlich politisch nicht gewollt ist, die Menschen mit einem Künstler aus dem Westen zum Lachen zu bringen. Ich habe nur gespürt, irgendwas stimmt nicht. Und deshalb habe ich mich schuldig gefühlt, einmal mehr, und wusste nicht einmal genau, wofür. Kannst du dich daran nicht erinnern?«

»Bis eben nicht.«

»Das ist gut, dann habe ich das ja ordentlich genug beiseitegeräumt.« Zufrieden fährt die Kleine mit dem Filzer über das Papier, und das typische Quietschen der Faserspitze geht Anke durch Mark und Bein.

»War es so schlimm?«, fragt Anke skeptisch. »In der Schule und so? Also, in der Zeit, bevor wir den Ausreiseantrag gestellt hatten?«

»Nö, das war es nicht. Aber es war auch nicht so schön, wie du es immer darstellst. Und ich glaube, das ist immer so, in jeder Kindheit: Nie ist alles nur in Rosarot getaucht. Vielleicht tut es dir gut, wenn du da ein bisschen ehrlicher hinschaust.«

»Du bist ein ziemlicher Klugscheißer«, sagt Anke, nun ebenfalls um einen strengen Tonfall bemüht.

Die kleine Anke nickt und grinst. »Gut erkannt!«

Das Piepen ihres Handys sorgt dafür, dass Anke erwacht. Kurz muss sie sich orientieren.

Ihr Wohnzimmer.

Ihre Couch.

2015. Freitagnachmittag.

Sie nimmt ihr Handy und sieht vier Anrufe von Konrad und fünf von ihrer Mutter. Sie setzt sich aufrecht. Sofort schlägt ihr Herz einen schnellen Takt.

Wie kann das sein?

Warum hat sie die alle überhört? Wie lange und wie fest hat sie geschlafen?

Als Anke Isa zurückruft, hört sie zuerst ein Rauschen. Offensichtlich ist ihre Mutter unterwegs, sitzt in einem Auto. »Anke, verdammt, wo warst du?«, schreit sie, Panik schwingt in ihrer Stimme mit.

Anke krümmt sich. Angst rollt durch ihren Körper.

»Komm sofort zu Elisabeth und Konrad, wir treffen uns bei den beiden. Christian habe ich Bescheid gesagt.«

»Mama, was ist denn los? Geht es den beiden gut?« Sie hat Sorge um ihre Großeltern und fühlt sich durch die Angst ihrer Mutter wieder wie eine Achtjährige. Ihre Stimme klingt mit einem Mal auch so, als wäre sie keinen Tag älter.

»Nein, den beiden geht es nicht gut. Deine Tochter hat die verdammten Stasi-Akten von Konrad und Elisabeth eingesehen. Komm schnell.«