Isa öffnet ihr mit ernstem Gesicht die Tür. Ihr Blick ist strafend, ganz so, als wäre ihre Tochter dafür verantwortlich, dass die Enkelin irgendwelche Stasi-Akten eingesehen hat.
»Wie geht es ihnen?«, fragt Anke nur und zeigt in Richtung Wohnzimmer.
»Es geht, komm rein.«
Christian ist bereits da, er steht im Türrahmen, und Anke ist erleichtert, ihn zu sehen. Auch heute noch ist es wie damals auf dem Schulhof: Sie fühlt sich gleich besser, wenn er in ihrer Nähe ist. Anke setzt sich auf die Couch neben Konrad und Elisabeth. In den Sesseln haben Isa und Hannes Platz genommen. Die Stimmung ähnelt der in einem Gerichtssaal – die Blicke sind kühl, die Stimmung ist frostig. Eine absurde Situation.
»Also, Elisabeth hat es ja schon grob zusammengefasst«, ergreift Isa das Wort und wendet sich dabei an Anke. »Lou hat Elisabeths und Konrads Stasi-Akten bestellt und gelesen. Sie ist dann hier erschienen und hat das Gespräch gesucht.«
»Das hat doch nichts mit einem Gespräch zu tun«, fährt Konrad dazwischen. »Sie hat behauptet, es würde um eine Uni-Arbeit gehen, und als Elisabeth ihr das nicht abkaufen wollte, hat sie mich angegriffen.«
»Womit hat sie dich denn angegriffen?« Anke weiß nicht, was sie denken soll.
»Wäre die richtige Frage nicht, warum?« Elisabeth schaut sie streng an. »Wir haben sie gebeten, die Wohnung zu verlassen, das ist ein unglaublicher Vertrauensbruch. Eine Frechheit.«
»Da ist eine junge Frau, sie studiert Journalistik, und wir wissen, dass Lou eines nicht ist: bösartig«, sagt Christian plötzlich bestimmt aus dem Hintergrund. Alle sehen erstaunt zu ihm auf. Sonst ist es nicht seine Sache, sich bei familiären Konflikten einzubringen. »Na ja, jetzt mal ehrlich – wann reden wir denn schon über irgendwas? Das gehört nicht gerade zu den großen Stärken der Familie. Und Lou fragt nach. Das ist doch in Ordnung. Ein Anfang vielleicht, um mal wirklich ins Gespräch zu kommen. Na, wie wäre es?«
»So, dann fang doch mal an: Worüber möchtest du denn so gern reden?« Elisabeth klingt schnippisch und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Gut, lasst uns zum Beispiel darüber reden, dass ich trockener Alkoholiker bin.«
Nun springt Elisabeth auf. »Was bist du?«
»Ein stolzer Anonymer Alkoholiker. Seit anderthalb Jahren. Bis ich vor meiner Wohnungstür gelegen habe, mit vollgepisster Hose, und mir die Nachbarin morgens die Tür aufgeschlossen hat, weil ich es nicht gepackt habe. Und am nächsten Tag hat mir irgendwer einen Zettel mit den Kontaktdaten von den Anonymen Alkoholikern in den Briefkasten geworfen. Ich weiß nicht, ob es die Nachbarin war, keine Ahnung, wer mich da noch so hat liegen sehen.«
Konrad schaut Isa empört an. »Das hast du nie erzählt.«
»Ich höre das auch zum ersten Mal, mir war klar, dass Christian immer viel vertragen hat, aber das …?«
Ihr Blick gleitet nun zu Anke, die hebt den Zeigefinger und winkt ab. »Nein, mir braucht ihr nicht damit kommen. Ich wusste es ebenfalls nicht, und wenn, dann ist es nicht meine Aufgabe, euch zu erzählen, wie sein gesundheitlicher Zustand ist. Fragt ihn, aber lasst mich da raus.«
»Versteht ihr, was ich meine?« Christian schaut in die Runde. »Niemand weiß in dieser Familie irgendetwas von irgendwem.«
Mit einem Mal breitet sich Wut in Anke aus. »Nein, hier läuft noch was ganz anderes gewaltig schief. Merkt ihr das überhaupt? Es gibt ein Problem, und zack – sofort wird ein Schuldiger gesucht«, brüllt sie und stellt sich vor Elisabeth, weil sie es hasst, wie ihre Oma auf sie herabschaut. Anke ist selbst überrascht von ihrer Lautstärke – und davon, wie gut es ihr tut, laut zu sein. »Oder besser gesagt: eine Schuldige, der man es anhängen kann«, legt sie nach. »Jetzt soll ich schuld sein, weil ihr nicht wisst, was mit Christian ist. Und ich soll auch schuld sein an dem, was Lou verbockt hat. Aber ich will weder für das Eine noch das Andere die Verantwortung übernehmen. Mein Bruder ist ein erwachsener Mann. Und Lou ist eine erwachsene Frau. Sie führt ihr Leben eigenständig, und wenn euch das, was sie getan hat, nicht passt, klärt es mit ihr. Warum soll jetzt wieder einmal ich es sein, die alles abbekommt? Ich habe die Schnauze gestrichen voll. Und ich sage euch mal was: Nie geht es darum, was mit mir ist. Aber immer geht es darum, wofür ich wieder geradestehen soll!«
Isa hievt sich aus dem Sessel und stemmt die Arme in die Seiten. »Du meinst, du bekommst es immer ab? Das glaubst du doch selbst nicht. Und wie führst du dich denn eigentlich gerade auf? Reg dich ab und setz dich wieder hin.«
»Ich soll mich abregen? Einen Teufel werde ich tun! Vielleicht ist heute genau der Tag, mal reinen Tisch zu machen! Und dann«, Anke schreit, wie sie noch nie ihre Mutter angeschrien hat, »und dann können wir uns überlegen, ob wir alle noch ein Wort miteinander reden. Mit mir jedenfalls läuft das alles nicht mehr!«
»Willst du mir jetzt Vorwürfe machen?« Isa tippt sich mit dem Finger an die Brust. Ihre Frage ist plötzlich nicht mehr als ein Flüstern, fast so, als wollte sie zur Lautstärke ihrer Tochter einen Kontrapunkt setzen.
»Natürlich! Was glaubst du denn?«
»So, und was genau willst du mir vorwerfen?« Isa hat den Kopf vorgeschoben, die Augen zusammengekniffen. »Ich weiß schon, was jetzt kommt! Nein, mein Fräulein, wir haben damals mit dir gesprochen und dich einbezogen.«
»Es war mitten in der Nacht, und ich war zwölf, oder so. Meinst du, ich konnte wirklich absehen, was das alles für mich bedeutet? Und plötzlich – eine halbe Ewigkeit nach unserem Gespräch – bin ich rausgerissen worden, aus allem. Und ihr habt das mit Christian gewusst und nichts gesagt. Ihr habt mir so vieles nicht gesagt. Es hieß immer nur: Spring, und dann sollte ich springen.« Anke ringt nach Luft und bemerkt den entsetzten Blick ihrer Mutter. Aber Anke kann nicht aufhören, sie will nicht aufhören. Sie senkt die Stimme und fährt fort: »Ich habe bis heute keine Wurzeln geschlagen, nirgends. Aber Hauptsache, ihr habt euer Ding gemacht.«
»Und wenn die Mauer stehengeblieben wäre und sie nichts getan hätten, würdest du ihnen jetzt sicher auch vorwerfen, sie hätten nichts versucht, um die DDR zu verlassen. Glaube mir, du und dein Bruder, ihr habt am meisten von dieser Ausreise profitiert.«
Anke schaut zu Konrad und schüttelt verständnislos den Kopf. »Die Mauer ist aber nicht stehengeblieben. Und siehst du – da ist es wieder! Egal, was ich sage: Der nächste Vorwurf wartet schon. Niemand kommt mal auf die Idee, mich etwas zu fragen, niemand verteidigt mich. Aber Christian, wenn der was sagt, dann passt das alles. Er ist immer der Gute, der drübengeblieben ist, der in der DDR verlorene Sohn. Wie es mir damals ging und heute geht, das hat doch niemanden von euch jemals interessiert. Ich hatte zu funktionieren, immer. Und was ist passiert? Ich wurde schwanger. So jung. Eine frischgebackene Studentin mit Kind und einem Vater, von dem klar war, dass er sich vom Acker machen würde. Und wieder hat keiner gefragt, was ich will. Stattdessen habt ihr mir, wie immer, alle fein reingeredet.«
Christian steht weiterhin an den Türrahmen gelehnt. Er grinst und beobachtet die Situation interessiert. Gerne würde Anke zu ihm rübergehen und ihm für dieses Grinsen eine runterhauen.
Aber Isa tritt einen Schritt vor und beugt sich dicht vor Ankes Gesicht. »Wir haben uns mit dir zusammen um deine Tochter gekümmert, jahrelang. Das war schön und nötig. Und jetzt bekommen wir von dir Vorwürfe zum Dank? Dann sind am Ende Hannes und ich schuld, dass du Madame nicht im Griff hast?«
»Und genau das ist der Punkt, merkt ihr das gar nicht? Genau darum geht es doch: Erwachsene sollen bitte schön ihre Kinder im Griff haben. Funktionieren sollen sie, das ist es, was du gelernt hast in diesem Scheißverein, wie du immer sagst. Und genau das willst du auch von mir. Dich interessiert nicht, wie es mir geht, wahrscheinlich, weil du nicht einmal weißt, wie es dir geht.«
Isa wird blass. Sie schaut zu Hannes hinüber. »Hannes, sag doch auch mal was. Das war doch nie so, oder? Haben wir erwartet, dass die Kinder funktionieren?«
Hannes zuckt mit den Schultern. »Doch, Isa. Jetzt, wo Anke es anspricht, denke ich: irgendwie schon. Wir hatten ja keine Wahl. Alle mussten funktionieren.«
Isas Lippen zittern, und Anke fürchtet, dass sie gleich zu weinen beginnt. Warum war ich so grob zu ihr?, fragt sie sich und merkt, wie ihre Wut in sich zusammenfällt.
»Papa hat recht, anders ging es nicht«, fährt Christian fort und wendet sich an seine Mutter. »Sieh doch Anke und mich mal an: Wir sind sehr eigenwillig, findest du nicht? Ich bin ein Säufer, deine Tochter ist eine alleinerziehende Mutter, die Männer grauenvoll findet, und die Enkelin ist eine aktivistische Weltverbesserin mit Hang zur Magersucht. Ist das nicht auffällig? Unter jedem Dach ein Ach und Krach! Stellt euch vor: selbst bei uns. Und niemand«, er hebt den Finger, »wirklich niemand sagt, du wärst schuld.«
Isa schüttelt den Kopf. »Nein, so ist das nicht! Wir haben neu angefangen, in Freiheit. Ihr hattet die Chance auf ein neues Leben.«
»Ja«, sagt Anke leise. »Das war es, und ich weiß auch, ihr habt es gut gemeint. Aber der Preis war hoch. Denn das Eine schließt das Andere nicht aus. Ein neues Leben bedeutet auch den Abschied vom alten.«
Isa lässt sich in den Sessel fallen. Irgendwann sieht sie sich um. »So, seid ihr jetzt alle fertig mit mir? Warum sind wir denn eigentlich hier, wenn ihr mal ehrlich seid? Habt ihr euch verabredet, mich heute rundzumachen? Stimmt das überhaupt mit Lou und den Stasi-Akten, oder war das nur ein Vorwand, um mit mir aufzuräumen?«
Anke sieht Christian an. »Siehst du, es ist wie immer. Es hat immer noch keinen Sinn, in dieser Familie Gespräche zu führen. Du sagst noch, es geht nicht um sie, du sagst noch, dass sie keine Alternative hatte, und was passiert? Nichts. Komm, wir gehen.« Sie dreht sich zur Tür.
»Nein, warte. Entschuldige bitte.« Isa wischt sich müde mit der Hand übers Gesicht. »Ja, natürlich wollten wir gehen. Und natürlich haben wir wirklich gedacht, es ist das Beste für uns alle. Ich bin nicht mal auf die Idee gekommen, es könnte anders sein.«
Mit einem Mal tritt Elisabeth ans Fenster.
Christian löst sich vom Türrahmen und geht ihr nach. »Was ist los?«
»Wenn Anke Isa angreift, greift sie auch mich an.«
»Was? Wie meinst du das? Das mache ich nicht.«
»Doch, Anke, das tust du. Ich habe immer die Zähne zusammengebissen, und ihr wisst nichts davon. Ich habe nichts gesagt, als man mich beruflich kaltgestellt hat nach Hennings Flucht. Ich habe nicht mit der Wimper gezuckt, als man mich immer massiver unter Druck gesetzt hat, nachdem ihr gegangen seid: Dieses ganze Elend haben wir ertragen, weil wir etwas Besseres wollten. Für die DDR und für euch.«
»Für die DDR , wenn ich das schon höre.« Isas Gesicht verzieht sich. »Du hast mich permanent zu Höchstleistungen aufgefordert«, sagt sie leise. »Du wolltest was Besseres? Was sollte das sein? Dein strahlender Sozialismus, ein Leben im Gleichschritt und nach Parteibuch. Und was ist dabei herausgekommen? So eine wie ich. Eigentlich auch so ein Treppenwitz der Geschichte. Lou würde vermutlich sagen: Karma is a bitch .«
»Scheiße, was ist hier los? Wie krank ist das alles?« Anke rennt in die Küche, lässt sich auf den Küchenstuhl fallen und stützt den Kopf in ihre Hände.
Hannes folgt ihr. Nimmt ihr gegenüber Platz. »Lassen wir ihnen einen Moment.«
»Papa, was ist heute los?«, schluchzt Anke.
Er reicht ihr ein Stück Küchenpapier, und Anke tupft sich die Tränen ab. »Ich glaube, wir waren nach der Ausreise und nach dem Fall der Mauer berauscht vor Glück, und wir haben uns in die neuen Leben geworfen. Aber wir haben nie beweint, was schmerzt, wo wir zuvor vom System verletzt und gedemütigt worden sind. Und unsere eigenen Dreckecken, unsere kleinen und großen Momente des Versagens, die haben wir noch weiter von uns geschoben. Wir haben, was diese Dinge betrifft, schweigend weitergemacht und irgendwann so getan, als hätte es die DDR nicht gegeben. Aber sie war eine Diktatur, das darf man nicht unterschätzen.«
Anke schaut ihren Vater an, und sie merkt, sie hat ihn noch nie so betrachtet. Er ist klug, das weiß sie. Aber er ist Mathematiker. Und was er hier von sich gibt, ist meilenweit von dem entfernt, was er sonst von sich zeigt. »Und was sollen wir jetzt machen?«, fragt sie und hat die Hoffnung, er könnte in seinen Zahlen, Formeln und Statistiken vielleicht die Lösung gefunden haben. Sie weiß, dass dieses Thema mehr ist als eine Rechenaufgabe und ein Familienstreit, sie ahnt, dass das Thema eine allgemeingültige, auf viele Menschen übertragbare Dimension hat.
»Tja, was können wir jetzt tun?« Ihr Vater wiegt den Kopf. »Entweder wir lassen endlich Luft ran, oder wir hauen wieder ein Pflaster drauf und lassen es weitersuppen.« Plötzlich langt er über den Tisch und greift nach ihrer Hand. »Nur damit du es weißt, weil sie es nicht sagen kann: Für deine Mutter seid ihr beide, du und dein Bruder, das Beste, was sie in ihrem Leben vollbracht hat. Das gilt übrigens auch für mich.«
Anke greift sich die Rolle Küchenpapier und reißt ein großes Stück vom Zellstoff ab.