Den Großteil meiner Kindheit und Jugend bin ich in einer Straße aufgewachsen, die, wenn man ihrem weiteren Verlauf folgte, an der Mauer endete. Quer über die Straße zog sich der sogenannte antifaschistische Schutzwall, hinter dem Bewaffnete mit Schäferhunden Wache liefen und nachts grelle Scheinwerfer jeden Quadratzentimeter ausleuchteten. Panzerkreuze und Sprengminen waren weitere Teile der Sicherungsmaßnahmen. Dieser Anblick war in Berlin alltäglich. Denn geboren bin ich im sogenannten amerikanischen Sektor, zehn Jahre nach dem Mauerbau, ich kannte es nicht anders.
Gut die Hälfte unserer Verwandtschaft lebte in der DDR , sodass ich von klein auf für Familienbesuche die Grenze passierte. Ich kannte das atemlose Schweigen am Grenzübergang, das innerliche Aufstöhnen, wenn das Auto aus der Warteschlange für eine vertiefende Kontrolle herausgewunken wurde und der Vater begann, jede Tasche zu öffnen. Selbst Zahnpastatuben wurden durchleuchtet.
Regelmäßig hat unsere Familie mehrere Tage am Stück bei der Verwandtschaft verbracht, diese war weit über die DDR verteilt. Ich weiß, wie es in den Treppenhäusern der Platte roch und was es bedeutete, sich in der DDR kirchlich zu engagieren oder in der Industrie zu arbeiten. Ich war »im Osten«, wie wir auch sagten, im Kino, in der Kaufhalle, im Restaurant, bei Jugendweihen, auf einer Hochzeit und in der Disco.
Als ungefähr Elfjährige bin ich bei einem dieser Besuche in einer Altstadt über einen uniformierten Russen hinweggestiegen, der blutend und bewusstlos quer auf dem Bürgersteig lag. Niemand holte Hilfe. In meiner kindlichen Naivität habe ich es versucht. Als mein Gesprächspartner mitbekam, dass ich nur zu Gast in der DDR war, nahm das Telefonat eine absurde, auf mich bedrohlich wirkende Wendung. Irgendwann ließ ich den Hörer des öffentlichen Münzsprechers fallen und rannte erschrocken davon. Ich habe erst Jahrzehnte später erfahren, dass es für die Soldaten üble Konsequenzen haben konnte, wenn sie so aufgefunden wurden. Dieses Ereignis hat mein Bild von der DDR mitbeeinflusst: Ein Kind, das einen Krankenwagen rufen will, erfährt, wie es ist, wenn die Überwachungsmechanismen eines Landes laut und deutlich anspringen.
Den Mauerfall habe ich sehr bewusst miterlebt. Der Mut all dieser Menschen beeindruckt mich noch heute. Der gewaltlose Sturz einer Diktatur: Das gab es weltweit bis zum heutigen Tag nie wieder. Ich bin dankbar, diesen rauschhaften Glückstaumel, die Euphorie in der Stadt, die Tänze auf der Mauer, die Umarmungen mit Fremden, die Mauerspechte und den Abriss des Schutzwalls miterlebt zu haben. Die Straße, in der ich aufgewachsen bin, verbindet heute wieder Berlin mit Brandenburg. Ich nutze sie regelmäßig, ganz selbstverständlich.
Auch beruflich habe ich mich immer weiter mit der DDR befasst: Ich habe mehrere Jahre für Film und Fernsehen gearbeitet und war unter anderem als Rechercheurin tätig. Ich habe in der Birthler-Behörde gesessen und durfte wagenweise Stasi-Akten einsehen – geschwärzt und immer mit den entsprechenden Genehmigungen. Gleichermaßen habe ich in Archiven sogenanntes Bewegtbild gesichtet, stundenlanges Filmmaterial zur DDR , von Schnatterinchen über Pop-Gymnastik bis hin zu Militärparaden. Ich habe Menschen kennengelernt, in deren Umfeld es einen Schauprozess und eine Hinrichtung mit Fallbeil gab. Ich habe den Hinrichtungsort in Leipzig, das Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen besucht und mehrere Tage in der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt in der Keibelstraße zugebracht.
Und auch im privaten Umfeld blieb die DDR ein Teil meiner Lebensgeschichte: Ohne den Mauerfall hätte ich meinen Mann nicht kennengelernt, der in Ost-Berlin aufgewachsen ist. Mehrere Jahre haben wir im Südosten Berlins gelebt, in der Nähe des Müggelsees.
Im Freundeskreis oder in der Nachbarschaft begegnen mir fortwährend Schicksale oder auch Anekdoten, die mich berühren. Mich erstaunt immer wieder, wie wenig es in meiner Generation bedarf, um von Gleichaltrigen vom Leben in einer Diktatur erzählt zu bekommen. Warum wissen wir dennoch nach wie vor so wenig voneinander, von dem, was uns allesamt geprägt hat?
In mir entstand das Gefühl: Wir reden zu wenig.
Viel zu wenig.
Über eben jene Diktatur, die für circa 17 Millionen Menschen in Ostdeutschland nahtlos auf den Nationalsozialismus folgte. Wir reden auch zu wenig über die Wiedervereinigung. Auch sie hat – vermutlich – partiell zu jenen Veränderungen geführt, die sich heute negativ auf viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auswirken.
Für diesen Roman habe ich zahlreiche Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt, und ich habe die unterschiedlichen Erfahrungen der Interviewten mit den Ergebnissen meiner Recherchen verwoben. Entstanden ist ein Text, in dem sich Realität und Fiktion vereinen, sich also auch durchaus Dinge ereignen, die ich erfunden habe, um etwas aufzuzeigen. Mir ging es dabei nicht darum, die Geschichte der DDR aufzuarbeiten. Dieser Roman widmet sich vor allem einer Frage: Wie wirkt Diktatur in einen Lebensalltag von Familien hinein – und wie wirkt sie nach?
Es wird sicherlich Diskussionen geben, Menschen, die mir erklären werden, dass ihre Realität eine vollkommen andere war. Das schließt sich nicht aus, und genau genommen geht es darum: ins Gespräch zu kommen, und von dem, was war, zu erzählen. Denn erst aus vielen einzelnen Erfahrungen kann sich ein Gesamtbild zusammensetzen. Wir sollten erzählen, auch für die Nachgeborenen, die nichts von einem Leben in einer Diktatur wissen. Ich hoffe, mithilfe von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ein kleines Fenster in der Erinnerung aufgestoßen zu haben, einen Einblick in einen DDR -Alltag und in die Nachwendezeit gewährt zu haben – der aber trotz allem ein Ausschnitt bleibt und keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. Vielleicht kann der Roman ein winziger Beitrag werden zum vielfältigen Mosaik der Erklärungen, warum Demokratie die einzig sinnvolle Gesellschaftsform ist und bleibt.